Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Rechtfertigung aus Gnade (Teil 18)

23. Juli 2000

Die Verlierbarkeit der Rechtfertigung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wer Fragenden Rede und Antwort stehen soll, muß Wissen haben. Die meisten von Ihnen, die vor mir sitzen, haben keine oder wenig Gelegenheit, ihr religiöses Wissen zu vertiefen und zu erweitern. Die einzige ständige Gelegenheit ist die sonntägliche Predigt. Aus diesem Grunde bemühen wir uns seit langer Zeit, uns über eine grundwesentliche Wirklichkeit des Christentums klarzuwerden, nämlich über Rechtfertigung, über die heiligmachende Gnade, über das göttliche Leben in den Gerechtfertigten. Wir hatten zunächst über den Inhalt dieses göttlichen Lebens gesprochen und daran angeknüpft eine Betrachtung über die Eigenschaften dieses Lebens. Wir hatten gesagt: Das göttliche Leben ist unanschaulich, verborgen, es ist nicht in allen gleich, sondern verschieden, und es ist des Wachstums fähig.

Heute bleibt uns eine letzte Eigenschaft dieses Lebens vor Augen zu führen, nämlich: Das göttliche Leben ist verlierbar und geht durch jede Todsünde verloren. Diese Wahrheit wurde vom Konzil von Trient gegen die Glaubensneuerer des 16. Jahrhunderts ans Licht gestellt. Calvin, der Schweizer Reformator, erklärte: Die von Gott zur Seligkeit Vorbestimmten können nicht mehr sündigen; sie sind unfähig zu sündigen. Wenn einer trotz geschehener Rechtfertigung sündigt, dann sieht man daraus, daß er tatsächlich nicht gerechtfertigt war. Luther erklärte seinerseits: Es gibt nur eine einzige Sünde, durch die die Rechtfertigung verlorengeht, nämlich den Glaubensabfall. Alle anderen Sünden sind der Rechtfertigung unschädlich.

Gegenüber diesen fundamentalen Irrtümern der sogenannten Reformatoren hat das Konzil von Trient die immerwährende Lehre der katholischen Kirche deutlich vor Augen gestellt. In seiner sechsten Sitzung erklärte es: „Wider den trügerischen Sinn gewisser Leute, die mit süßen und frommen Reden arglose Herzen verführen, muß die Tatsache festgehalten werden, daß die einmal empfangene Gnade der Rechtfertigung nicht nur durch Unglauben, sondern auch durch jede andere Todsünde verlorengeht, auch wenn der Glaube selbst nicht verloren wird. Dadurch wird die Lehre von dem göttlichen Gesetz geschützt, das vom Gottesreich nicht nur die Ungläubigen ausschließt, sondern auch die unter den Gläubigen, die Unzüchtige, Ehebrecher, Lüstlinge, Knabenschänder, Diebe, Habsüchtige, Trinker, Gotteslästerer, Räuber sind und alle anderen, die Todsünden begehen, von denen sie sich mit Hilfe der göttlichen Gnade fernhalten können und deretwegen sie von Christi Gnade geschieden werden.“

Um diese eben ausgesprochene Wahrheit noch deutlich in das Bewußtsein der Christen zu heben, hat das Konzil noch zwei Lehrsätze aufgestellt, nämlich

1. Wer behauptet, es gebe keine schwere Sünde außer dem Unglauben und durch keine andere Sünde außer durch den Unglauben verliere man die einmal empfangene Gnade, der sei ausgeschlossen.

2. Wer behauptet, mit dem Verlust der Gnade durch die Sünde gehe auch immer der Glaube verloren, oder der Glaube, der bleibe, sei kein wahrer Glaube, wenn er auch nicht mehr lebendig ist, oder wer den Glauben ohne Liebe habe, sei kein Christ, der sei ausgeschlossen.

Hier hat das Konzil von Trient gegen Calvin und gegen Luther die Lehre der Kirche deutlich ausgesprochen.

Wir fragen: Wie ist diese Lehre zu verstehen? Wie ist es möglich, daß jemand, der von der Herrlichkeit des Herrn gekostet hat, trotzdem wieder in Sünde, in schwere Sünde, in Todsünde fällt und sich dadurch von ihm trennt? Der Grund ist in Folgendem gelegen. Die Herrlichkeit, in die der Getaufte versetzt wird, ist unanschaulich. Was auf ihn eindrängt mit großer Macht und Kraft, das ist die dürftige Herrlichkeit dieser Welt. Die Schätze dieser Welt suchen ihn immer wieder von Christus und seiner Gemeinschaft zu trennen. Der Mensch ist ständig gefährdet durch den glitzernden Glanz dieser Welt und in der Gefahr, das göttliche Leben um dieses Scheinglanzes zu verlieren, es preiszugeben. Also die Formen dieser Welt drängen immer wieder auf den Getauften, auf den Gerechtfertigten ein, und sie stellen eine Gefahr dar. Dieser Gefahr von außen begegnet eine andere von innen. Auch in der Brust des Christen lebt die Versuchlichkeit. Die Versuchung von außen trifft auf die Versuchlichkeit des Menschen von innen. Er hat in der Taufe einen Todesstoß für die welthaften Formen erlebt. Aber die Neigung, sich diesen Formen wieder auszuliefern, bleibt in ihm; das ist eben der Rest der Erbsünde. Und so kann es kommen, daß aus einem Kinder Gottes wieder ein Kind des Teufels wird, daß ein Mensch, der gerechtfertigt war, die Rechtfertigung wieder aufgibt und in den Zustand der Todsünde zurückfällt.

Diese Wahrheit wird von der Kirche deutlich ausgesprochen, wenn sie darum betet, daß das, was durch die Gnade in uns gewirkt worden ist, auch von uns festgehalten werden muß. Am Osterdienstag, wo die Kirche sich freut über das neue Leben, betet sie: „O Gott, du schenkst deiner Kirche ständigen Zuwachs an neuen Kindern. Nun gewähre auch deinen Dienern die Gnade, das Sakrament, das sie im Glauben empfingen, durch ihren Lebenswandel treu zu bewahren.“ Durch ihren Lebenswandel treu zu bewahren! Und am Weißen Sonntag, wo noch einmal das Ostergeheimnis vor unser Auge tritt, betet die Kirche: „Wir bitten dich, allmächtiger Gott, laß uns, die wir nunmehr am Ende der Osterfeier stehen, diese mit deiner Gnade in Benehmen und Lebenswandel festhalten.“ In Benehmen und Lebenswandel festhalten! Es besteht nämlich die Gefahr, daß man das neue Leben wieder verliert, und so ist der Christ aufgerufen, durch seine Tatkraft, durch seinen Lebenswandel das neue Leben auch zu bewahren.

Was die Kirche auf dem Konzil von Trient gelehrt hat und was sie uns im Gebet immer wieder neu vor Augen führt, das ist nichts anderes als ein Widerhall der Botschaft der Heiligen Schrift. Man kann sagen, daß Paulus eigentlich nichts anderes in seinen Briefen tut, als immer wieder einzuschärfen: Ihr seid in einer neuen Existenz, aber lebt auch jetzt danach! Ihr besitzt eine neue Existenzweise, aber wirkt sie jetzt auch aus! So schreibt er z. B. im Römerbrief: „Da wir der Sünde gestorben sind, wie sollten wir ihr noch leben?“ Wer tot ist, kann natürlich der Sünde nicht mehr ihren Tribut zollen. „So betrachtet auch ihr euch als solche, die der Sünde abgestorben sind, für Gott aber leben in Christus Jesus. Darum herrsche nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe, daß ihr seinen Begierden gehorchet.“

Die Christen besitzen eine neue Existenz. Aber der Neuheit der Existenz muß auch die Neuheit der Gesinnung entsprechen. So schreibt Paulus im selben Römerbrief: „So ermahne ich euch denn, Brüder, bei dem Erbarmen Gottes, daß ihr euren Leib darbringet als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer, als euren geistigen Gottesdienst. Und macht euch nicht dieser Welt gleichförmig, sondern wandelt euch um durch Erneuerung eures Sinnes, daß ihr prüfet, was der Wille Gottes, was gut, wohlgefällig und vollkommen ist.“ Der Neuheit der Existenz muß dir Neuheit der Gesinnung entsprechen, und um diese neue Existenz in der neuen Gesinnung zu bewähren, warnt der Apostel Paulus im Briefe an die Galater seine Christen: „Damals, als ihr Gott noch nicht kanntet, habt ihr Göttern gedient, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Jetzt aber kennt ihr Gott, oder besser: Ihr seid von Gott erkannt. Wie wollt ihr nun wieder zu den schwachen und armseligen Elementen zurückkehren und ihnen nochmals dienstbar werden?“ Er warnt die Galater davor, wieder in die Knechtschaft des Bösen zurückzufallen, nachdem sie der Herr daraus errettet hat. Sie dürfen nicht nach der Taufe so leben, wie sie zum Teil vorher gelebt haben. „Oder wisset ihr nicht“, schreibt er im 1. Brief an die Korinther, „daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuschet euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Weichlinge, weder Knabenschänder noch Diebe, weder Habsüchtige noch Trunkenbolde, weder Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erben. Und solche Menschen seid ihr, einige von euch, gewesen. Aber nun seid ihr abgewaschen, ja geheiligt, je gerechtfertigt im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ Hier ist ganz deutlich, meine lieben Freunde, daß eben nicht nur der Abfall vom Glauben vom Reiche Gottes ausschließt, sondern jede schwere Sünde.

Die Botschaft des Apostels Paulus wird geteilt von allen Autoren des Neuen Testamentes. Johannes drückt es so aus: „Wer getauft ist und trotzdem ein welthaftes Leben führt, der ist ein Lügner.“ Er schreibt in seinem ersten Brief: „Das Leben ist sichtbar geworden, und wir sahen es. Wir bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war.“ Und jetzt kommt es: „Wer sagt: Ich kenne ihn – nämlich Gott –, ohne daß er seine Gebote hält, der ist ein Lügner, und die Wahrheit ist nicht in ihm. Ich habe euch geschrieben, ihr Kinder, weil euch der Vater kennt. Ich habe euch geschrieben, ihr Väter, weil ihr den erkannt habt, der von Anfang an ist. Ich habe euch geschrieben, ihr Jünglinge, weil ihr stark seid, das Wort Gottes in euch wohnt und ihr den Bösen überwunden habt. Habt die Welt nicht lieb noch das, was in der Welt ist! Die Liebe des Vaters ist nicht in dem, der die Welt lieb hat; denn alles, was in der Welt ist, Fleischeslust, Augenlust, Hoffart des Lebens, das ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber Gottes Willen tut, der bleibt in Ewigkeit.“

Nun steht im Johannesbrief auch ein eigenartiger Satz. Da heißt es nämlich: „Ein jeder, der aus Gott geboren ist, begeht keine Sünde.“ Ein jeder, der aus Gott geboren ist, begeht keine Sünde, „denn Gottes Samen bleibt in ihm. Er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist.“ Scheint das nicht fast an Calvin zu erinnern? Jeder, der aus Gott geboren ist, begeht keine Sünde; er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist. Dieser Satz ist wie folgt zu verstehen. Johannes sagt hier nicht die Unmöglichkeit aus, aus der Gnade herauszufallen, sondern er sagt die Unvereinbarkeit des göttlichen Lebens mit der Sünde aus. Das Kind Gottes, das einmal die Liebe des Vaters verkostet hat, sollte eigentlich unfähig sein, noch einmal in die alte Knechtschaft zurückzufallen. Es hat ja die Sünde überwunden, es hat ja die Sünde ausgestoßen. Aber wenn dieses Kind Gottes sich wieder der Sünde zuwendet, dann wird aus dem Kinde Gottes ein Kind des Teufels. Und das spricht Johannes im weiteren Verlaufe desselben Briefes aus, daß auch das Kind Gottes wieder in die Sünde zurückfallen kann. „Wie kann die Liebe Gottes in dem bleiben, der irdisches Gut besitzt, aber sein Herz verschließt, wenn er seinen Bruder Not leiden sieht?“ Hier geht er auf die Lieblosigkeit als Möglichkeit, aus der Gnade herauszufallen, ein.

Tatsächlich ist jede Sünde mit irgendeiner Form des Unglaubens verbunden. Nicht jede Sünde ist Unglauben, selbstverständlich nicht. Aber in jeder Sünde wirkt irgendwie der Unglaube mit. Wieso? Weil eben der Sünder sich in der Sünde von Gott abwendet. Er wendet sich von der Liebe ab; er wendet sich von der Allmacht ab, und diese Abwendung ist eben eine gewisse Untreue gegen den Gott, den er im Glauben erkannt hat. Die Sünde ist deswegen mit irgendeiner Form des Unglaubens verbunden, weil der Sünder die Herrschaft Gottes, der er sich ja im Glauben unterworfen hat, bezweifelt, weil er sich gegen die Herrschaft Gottes auflehnt; denn die Sünde ist Auflehnung gegen Gott. Und deswegen lebt in jeder Sünde unausgesprochen eine Form des Unglaubens. Der Glaube, den der Sünder noch hat, ist ein toter Glaube; es fehlt ihm die Liebe. Es ist ein Glaube, der nicht mehr mit der Liebe verbunden ist. Außerdem hat auch jede Sünde die Neigung, zum vollen Unglauben fortzuschreiten. Wir Seelsorger spüren das, wenn sich jemand von unseren Anvertrauten langsam, langsam vom Glauben, von der Kirche, vom Gottesdienst löst. Wir merken, wie die Sünde an ihm nagt, wie sie fortwährend weitergehend ein Stück seiner christlichen Persönlichkeit zerstört.

Niemand hat die Tatsache, daß das Verharren in der Sünde allmählich zum völligen Unglauben führt, deutlicher ausgesprochen als der Philosoph Friedrich Nietzsche. „Der Gott, der alles sah, auch des Menschen Niedrigkeit und Schwäche, der Gott mußte sterben. Der Mensch erträgt nicht, daß ein solcher Zeuge lebt.“ Da hat er den Grund aufgedeckt, warum die Sünde die Neigung hat, zum Unglauben fortzuschreiten. Der Mensch erträgt nicht, daß ein solcher Zeuge lebt, ein Zeuge, der mit seiner Allwissenheit den Menschen von vorn und von hinten, bei Tag und bei Nacht durchschaut.

Der Glaube wird als die entscheidende Wirklichkeit für das Heil dargestellt. Der Glaube besitzt entscheidende Bedeutung für das Heil, wenn Johannes schreibt: „Wer an den Sohn glaubt, der hat ewiges Leben. Wer aber ungehorsam gegen den Sohn ist, wird das Leben nicht sehen, sondern Gottes Zorn bleibt in ihm.“ Der Unglaube wird hier als die Sünde schlechthin dargestellt, insofern eben der tote der nicht mehr von der Liebe geformte Glaube jede Todsünde begleitet. Umgekehrt ist der Glaube Hingabe an Gott. Jeder, der glaubt, daß Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren. Was aus Gott geboren ist, besiegt die Welt, und das ist der Sieg, der die Welt überwindet, unser Glaube. Wer ist es denn, der die Welt überwindet, wenn nicht der, welcher glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist.

Hier haben wir also noch einmal den Zusammenhang zwischen Glaube und Freiheit von der Sünde aufgedeckt. Wer wirklichen Glauben hat, wer lebendigen, wirkmächtigen, mit der Liebe verbundenen Glauben hat, der ist tatsächlich in diesem Sinne unfähig zu sündigen. Denn wer wird denn, wenn er seinen Vater im Himmel wirklich liebt, diesen Vater im Himmel betrüben, wer wird ihn kränken, wer wird sich von ihm abwenden? Umgekehrt: Wenn der Glaube schwach wird, dann bricht die Sündenmacht um so stärker auf den Menschen ein. Wahrhaftig, das Wort ist wahr: Das ist der Sieg, der die Welt überwindet, unser Glaube.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt