Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Rechtfertigung aus Gnade (Teil 12)

28. Mai 2000

Die übernatürlichen Tugenden: Die Liebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Mit der heiligmachenden Gnade werden in den Gerechtfertigten die göttlichen Tugenden eingegossen. Sie werden dem Menschen geschenkt, so daß Glaube, Hoffnung und Liebe in ihm als göttliches Geschenk verbleiben. Wir hatten am vergangenen Sonntag den Glauben betrachtet, heute müssen wir uns der Liebe zuwenden. Gott hat ja durch seinen Christus die Herrschaft des Himmels auf dieser Erde aufgerichtet. Die Herrschaft des Himmels ist eine Herrschaft der Liebe. Der Eintritt Gottes in diese Welt ist der Eintritt der Liebe in diese Welt. Durch die Menschwerdung Jesu Christi ist die Liebe in diese Welt eingetreten.

Die Liebe ist ein vieldeutiges Wort. Wenn wir die Liebe, die hier gemeint ist, verstehen wollen, müssen wir uns von manchen Verständnissen der Liebe verabschieden, die in der Welt gang und gäbe sind. Die Liebe, die hier gemeint ist, ist die Zusammenfassung von drei Haltungen, nämlich 1. die Sehnsucht nach dem Geliebten, 2. das Wohlwollen für den Geliebten und 3. das Sich-selbst-Schenken an den Geliebten. Sehnsucht – Wohlwollen – Sich-Schenken, das ist der Inhalt der göttlichen Liebe. Gott hat Sehnsucht zu denen, die er selbst geschaffen hat. Gott will denen wohl, die er als Geschöpfe in dieses Leben gerufen hat. Gott schenkt sich denen, die er an sich ziehen will.

Diese göttliche Liebe verwandelt die Welt. Das ist ihre erste Wirkung: sie verwandelt die Welt. Johannes schildert die Welt als die Stätte der Finsternis, und in dieser Welt der Finsternis ist der Teufel der Herr. Er ist derjenige, von dem Haß, Selbstsucht und Neid ausgehen. Wenn deswegen jetzt die Liebe in die Welt kommt, dann ist die Herrschaft des Teufels gebrochen, die Herrschaft des Hasses, die Herrschaft der Selbstsucht, die Herrschaft des Neides. Die Welt ist in der Tiefe verwandelt. Mögen noch so viel Haß und Feindschaft in dieser Welt zu regieren scheinen: In der Tiefe ist diese Welt verwandelt durch die Ankunft der Liebe in Person.

Im Gerechtfertigten wirkt die Liebe, die Gott ihm schenkt, eine Umgestaltung seines Wesens. Der Vater im Himmel gestaltet in den Gerechtfertigten seine Wirklichkeit heraus. Der Gerechtfertigte ist ein Spiegelbild des Vaters im Himmel. Diese Verähnlichung mit dem Vater im Himmel wird erreicht durch die Gemeinschaft mit Christus, und die Gemeinschaft mit Christus ist eine Gemeinschaft seines Todes und seiner Auferstehung. Die Gemeinschaft mit Christus wiederum wird bewirkt durch den Heiligen Geist. Durch ihn werden wir der Gemeinschaft mit Christus teilhaftig. So wird der Gerechtfertigte durch die Liebe, die er empfängt, in seiner Tiefe verwandelt. Aber das würde nicht viel helfen, wenn nicht auch sein Tun verwandelt würde. Die Liebe, die Gott dem Menschen eingießt, verwandelt auch sein Tun. Wenn immer der Mensch sich dieser Liebe öffnet, wenn immer er dieser Liebe seine Geneigtheit entgegenbringt, dann wird auch das Tun dieses Menschen verwandelt, so daß er in der Liebe lebt.

Wenn die Liebe ein Geschenk ist, dann erhebt sich die Frage, wie Christus befehlen kann, daß wir die Liebe haben, die Liebe zu Gott und zu den Menschen. Wie kann man etwas befehlen, was einem geschenkt wird? Der Grund ist darin gelegen, daß die Liebe von Gott dem Menschen angeboten wird. Der Mensch kann das Angebot annehmen, aber er kann es auch ablehnen. Und Christus befiehlt uns, es anzunehmen. Das Geschenk der Liebe ist ein Anruf. Einen Anruf kann man hören oder überhören. Christus befiehlt uns, ihn zu hören. Deswegen kann die Liebe geboten werden. Christus gebietet den Vollzug der Liebe und die Auswirkungen der Liebe. Er verlangt, daß wir lieben und daß wir aus der Liebe unser Leben gestalten.

Durch den Befehl, die Liebe zu praktizieren, werden alle anderen Gebote gewissermaßen aufgesaugt und zusammengefaßt. Die Liebe ist tatsächlich die Erfüllung aller Gebote. Der Herr sagt es, wenn er im Markusevangelium erklärt: „Es fragte ihn einer, welches das erste aller Gebote sei. Jesus antwortete ihm: ,Das erste von allen Geboten ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deiner ganzen Vernunft und aus allen deinen Kräften. Dies ist das erste Gebot. Das andere aber lautet also: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ein anderes, größeres Gebot als dieses gibt es nicht.‘“  Weil dieses das größte Gebot ist, ist es die Einheit und die Innerlichkeit aller anderen Gebote. Für den Christen werden alle Gebote gewissermaßen zu einer Winzigkeit; sie schrumpfen zusammen vor dem Gebot der Liebe, denn er weiß: Wenn er das Liebesgebot erfüllt, erfüllt er auch alle anderen Gebote.

Der Apostel Paulus hat diese Wahrheit in folgende Worte gefaßt: „Bleibt niemand etwas schuldig, außer daß ihr einander liebet. Denn wer den Nächsten liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“ Warum? „Denn die Gebote: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben, du sollst nicht begehren und jedes andere Gebot ist enthalten in dieser Vorschrift: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses an. Erfüllung des Gesetzes also ist die Liebe.“ Das ist eine wunderbare Vereinfachung unseres sittlichen Lebens. Wir brauchen eigentlich nur das zu tun, was Augustinus in die Worte faßt: „Liebe – und tue, was du willst!“ Denn wer liebt, wer die rechte Liebe hat, wer die Liebe zu Gott und zu den Menschen in sich trägt, der tut nichts Unrechtes. Alles, was aus seiner Liebe hervorgeht, wird Erfüllung der Gebote sein. Manche verstehen dieses Wort des Augustinus falsch. Sie meinen, wenn man liebt, könne man sich über die Gebote hinwegsetzen. O, das ist völlig verkehrt, sondern dieses Wort „Liebe – und tue, was du willst!“ besagt: Du sollst in der Liebe stehen und aus der Liebe handeln und dann alle Gebote wie selbstverständlich erfüllen. Liebe ist also nicht Gesetzlosigkeit, sondern Liebe ist Erfüllung der Gebote. Die Liebe verwirklicht sich in den einzelnen konkreten Geboten; jeweils in den einzelnen Geboten wirkt sich die Liebe aus.

Die Liebe nun wird unterschieden in die Liebe zu Gott und in die Liebe zum Nächsten. Die Liebe zu Gott ist das erste und größte Gebot, wie wir soeben gehört haben. In ihr müssen sich alle diese Haltungen, die Gottes Liebe zu uns hat, in analoger Weise verwirklichen, also die Sehnsucht nach Gott, das Wohlwollen für Gott, das Sich-Schenken an Gott. Wer Gott liebt, der lebt in der Gegenwart Gottes, der ist an den Zielen, Plänen und Absichten Gottes interessiert. Wer Gott liebt, der macht die Weltpläne Gottes sich selbst zu eigen. Wer Gott liebt, dessen oberstes Ziel ist die Verwirklichung des Reiches Gottes; das ist die Teilnahme am Reiche Gottes; das ist die Durchsetzung des Reiches Gottes. Wer Gott liebt, der nimmt aber auch entschieden den Kampf auf, denn es gibt zwei Bedrohungen, zwei ganz besonders gefährliche Bedrohungen der Liebe zu Gott: den Mammon und den Ehrgeiz. Wer dem Irdischen, dem Sinnlichen, dem Besitz verfällt, der fällt aus der Liebe Gottes heraus, und wem es um Ehre und Ansehen, um Geltung in dieser Welt zu tun ist, der kann nicht in der Liebe Gottes verbleiben. Deswegen muß der Christ alles hassen, was Gott entgegensteht, er muß alles meiden, was Gottes Plänen sich widersetzt, er muß den Kampf entschieden aufnehmen gegen die dumpfen Unholde in seiner eigenen Brust.

Die Liebe Gottes ist die Grundlage der Liebe zum Menschen. Die Liebe zum Menschen erhält ihre Tiefe und Sicherung aus der Liebe zu Gott. Aber die Liebe zum Menschen ist auch die Probe auf die Echtheit und Ernsthaftigkeit der Liebe zu Gott. Manchmal hat sich schon jemand gefragt: Wie können denn die Tugenden, die wir göttliche nennen, auch die Liebe zum Menschen einschließen? Der Mensch ist doch nicht Gott! Der Grund ist darin gelegen, daß, wer Gott liebt, auch alles lieben muß, was Gott liebt. Gott liebt aber seine Schöpfung; deswegen ist derjenige, der Gott liebt, gehalten, auch seine Schöpfung in Liebe zu umfangen.

Die Liebe zum Nächsten ist von niemandem ergreifender geschildert worden als vom Apostel Johannes in seinem ersten Briefe. Da zeigt er auch die Verknüpfung zwischen Gottes- und Nächstenliebe. „Geliebte, wir wollen einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist von Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, kennt Gott nicht, denn Gott ist die Liebe. Daran ist die Liebe Gottes zu uns offenbar geworden, daß Gott seinen eingeborenen Sohn auf die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin erweist sich die Liebe. Nicht wir haben Gott geliebt, sondern er hat uns geliebt und seinen Sohn gesandt als Sühneopfer für unsere Sünden. Doch wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, daß er uns von seinem Geiste gegeben hat. In jedem, der bekennt, daß Jesus der Sohn Gottes ist, bleibt Gott, und er bleibt in Gott. Und wir haben erkannt und an die Liebe geglaubt, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. Wenn einer sagt: Ich liebe Gott, dabei aber seinen Bruder haßt, so ist er ein Lügner; denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, ist nicht imstande, Gott zu lieben, den er nicht gesehen hat. Und wir haben dieses Gebot von Gott: Wer Gott liebt, der muß auch seinen Bruder lieben.“

Die Liebe zum Bruder oder zur Schwester ist eine Liebe der Tat. Sie muß sich bewähren nicht in Gefühlen, sondern im Tun. Sie tut das, was die Stunde gebietet. Sie ist situationsgebunden. Das geht aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter deutlich hervor. Man darf, wenn die Liebe gebietet, etwas zu tun, nicht auf einen noch hörbareren Ruf der Liebe warten, sondern das, was die Stunde gebietet, das ist zu tun. Diese Bruderliebe steht freilich unter dem Zeichen des Kreuzes. Sie ist immer ein Dienst und ein Opfer. Sie nimmt sich des Gestrauchelten und des Gefallenen an. Sie hat Mitleid, und sie trägt mit dem anderen. Es ist eine Liebe unter dem Kreuz. Es ist eine Liebe, die auch den Verfallenen, auch den Kranken, auch den Bresthaften nicht verläßt. Es ist eine Liebe, die keinen aus der Hand fallen läßt. Das ist die Liebe zum Nächsten. Diese Liebe erfüllt das eigene Wesen des Menschen. Der Mensch stammt ja aus der Liebe, nämlich aus Gott, der die Liebe ist. Infolgedessen kann er sein Wesen nur erfüllen, wenn er in der Liebe lebt und bleibt. Das wird vom Apostel Paulus im ersten Korintherbrief deutlich erklärt, wenn er schreibt: „Die Liebe ist langmütig, gütig ist die Liebe; die Liebe ist nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht und bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht taktlos, sucht nicht das Ihrige. Sie läßt sich nicht erbittern; sie trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, freut sich vielmehr über die Wahrheit. Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie hält alles aus.“

Diese Liebe umfaßt auch den Feind, denn auch der Feind ist von Gott geliebt. Auch der Feind ist womöglich ein Glied am Leibe Christi. Die Feindesliebe ist für den irdisch denkenden Menschen das Unfaßlichste. Aber Jesus gebietet sie ohne jedes Wenn und ohne jedes Aber. Er gebietet den Seinen, daß sie den Feind lieben, daß sie denen, die ihnen fluchen, Segen spenden, daß sie beten für die, die sie zu Tode bringen. Sie ist unsentimental und redlich. An der Pflicht zur Feindesliebe besteht nicht der geringste Zweifel. Diese Feindesliebe erhebt den Menschen über sich selbst. Sie hebt ihn in die Sphäre Gottes, der, als wir seine Feinde waren, für uns gestorben ist. Also die Forderung der Feindesliebe ist überhaupt nur verständlich im Glauben an die neue Weltlage, die durch Christi Opfertod geschaffen wurde. So heißt es im ersten Johannesbrief: „Meine Lieben, es ist kein neues Gebot, das ich euch schreibe, sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an hattet. Das Wort, das ihr gehört habt, das ist das alte Gebot. Und doch schreibe ich euch ein neues Gebot. Dieses war in ihm und in euch; denn die Finsternis ist vorüber, und schon leuchtet das wahrhaftige Licht. Wer sagt, er sei im Lichte, aber seinen Bruder haßt, der ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Lichte, und kein Anstoß ist in ihm. Wer aber seinen Bruder haßt, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis. Er weiß nicht, wohin er geht, weil die Finsternis seine Augen geblendet hat.“ Die Neuheit des Gebotes liegt darin, daß die Weltlage neu ist. Seitdem Christus für die starb, die seine Feinde sind, seitdem ist das Gebot der Feindesliebe ein neues Gebot, weil sie einen neuen Grund hat. Der neue Grund ist der Opfertod Jesu für die, die seine Feinde waren.

Die Liebe, meine lieben Freunde, ist unsterblich. Vom Glauben sagt der Apostel: Er wird einmal aufhören, weil er in das Schauen übergeht. Von der Hoffnung sagt er: Sie wird einmal enden, weil sie nämlich im Besitz des beseligenden Gutes glücklich sein wird. Von der Liebe allein sagt er: Sie hört niemals auf. Die Liebe ist die Lebensmacht, die einzige Lebensmacht, die den Tod überdauert.

Amen.

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