Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Sünde (Teil 1)

17. November 1996

Die Verfehlungen gegen die Gebote Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir erkannt, daß Christus erschienen ist, um die Bollwerke des Teufels zu zerstören. Die Bollwerke des Teufels aber sind die Sünden. Wir wollen uns daher heute und an den kommenden Sonntagen mit dem vielschichtigen Feld der Sünde beschäftigen. Die Sünde ist ein Vergehen gegen Gottes Gebot. Eine Sünde begeht, wer ein göttliches Gebot wissentlich und freiwillig übertritt. Schon die erste Sünde bestätigt diese Bestimmung des Wesens der Sünde. Adam und Eva kannten das Gebot Gottes; sie haben es wissentlich und freiwillig übertreten. Gewiß hat die Schlage ihnen dazu geraten, aber sie hat sie nicht gezwungen. Deswegen sind sie nicht frei von Schuld.

Die göttlichen Gebote sind vielfältig. Wir kennen alle die Zehn Gebote, den sogenannten Dekalog, jenes Gesetz, das vom Berge Sinai stammt. Aber diese zehn Gebote umfassen eigentlich ganze Gruppen von göttlichen Geboten und Verboten. In der Heiligen Schrift und in der Überlieferung werden die göttlichen Gebote im einzelnen ausgefaltet. In den Paulus-Briefen etwa stoßen wir immer dann auf göttliche Gebote, wenn Paulus sagt: „Die das tun, können das Reich Gottes nicht erben!“ Denn was vom Reiche Gottes ausschließt, das sind Sünden, schwere Sünden. Auch alles, was die rechtmäßige Obrigkeit rechtmäßig gebietet, ist durch den göttlichen Willen gedeckt. Wer sich gegen rechtmäßige Gebote der rechtmäßig gebietenden Obrigkeit wendet, begeht eine Sünde. Denn der menschliche Gesetzgeber hat seine Gewalt vom göttlichen Gesetzgeber.

Unter den Geboten unterscheiden wir solche, die eine Handlung gebieten oder verbieten, und deswegen Sünden der Übertretung oder der Unterlassung. Nach dem Gegenstand können wir die Gebote einteilen in solche, die gegeben sind zum Schutze Gottes, der Mitmenschen oder des eigenen Lebens. Deswegen Sünden unmittelbar gegen Gott, gegen fremdes Leben und gegen das eigene Leben. Der Sünder lebt in der Auflehnung gegen Gott. Die Heiligen sagen uns, daß der Sünder, wenn er könnte, Gott töten würde, damit seine Sünde nicht bestraft wird. Im Buche des Propheten Jeremias heißt es: „Der Sünder spricht: ‘Ich will nicht dienen!’“ Nämlich Gott nicht dienen. Und so empört er sich gegen sein Gebot. Die Sünde ist auch immer eine Beleidigung Gottes. Gewiß ist Gott nicht leidensfähig, aber Gott hat auch eine äußere Ehre. Diese äußere Ehre besteht darin, daß die Menschen seinen Willen tun. Wer seinen Willen nicht tut, der entzieht ihm die äußere Ehre. Und in diesem Sinne kann man sagen: Die Sünde ist eine Beleidigung Gottes. Im Brief an die Hebräer wird die Sünde als eine Tat angesehen, die Christus von neuem kreuzigt. Das ist eine besonders wichtige und eindrucksvolle Textstelle. „Die einmal erleuchtet worden sind und von der himmlischen Gabe genossen haben, dann aber wieder abgefallen sind, die kann man nicht wieder zur Sinnesänderung erneuern, da sie für ihre Person den Sohn Gottes aufs neue kreuzigen und verhöhnen.“ Eindrucksvoller könnte man wohl das Wesen der Sünde, insofern sie gegen Christus, den Sohn Gottes, gerichtet ist, nicht beschreiben. Sie machen damit das Kreuz Christi zunichte; sie machen es wirkungslos durch ihre Sünde. Wer sündigt, ist auch ein Feind seiner eigenen Seele. Wer wird den beleidigen, von dem sein ganzes Leben abhängt? Unser Leben aber hängt in jeder Hinsicht von Gott ab. Ludwig von Granada, der geistliche Schriftsteller, vergleicht einmal den Sünder mit einem Menschen, der von einem Turme an einem Seil über einen Abgrund gehalten wird. „Ja, wird der, der an diesem Seile hängt“, sagt er, „den, der ihn über den Abgrund hält, kränken und beleidigen?“ So ist also die Sünde eine wahre Beleidigung und Kränkung Gottes. Man entzieht ihm seine Ehre. Sie ist Ungehorsam, sie ist Auflehnung gegen Gott. Sie ist Schädigung der eigenen Seele.

Eine Sünde begeht aber nur, wer wissentlich und freiwillig ein Gebot Gottes übertritt. Wer ohne sein Verschulden um die Sündhaftigkeit nicht weiß, begeht keine Sünde. Ohne sein Verschulden um die Sündhaftigkeit nicht weiß! Gerade gewissenhafte Menschen tragen schwer daran, daß sie in früheren Lebensabschnitten gesündigt haben, leichtfertig gesündigt haben, manchmal auch ohne zu wissen, daß etwas eine Sünde ist. In diesem Punkte kann man im allgemeinen die Menschen beruhigen. Wenn sie nicht leichtfertig gesündigt haben, wenn sie sich, um Gottes Willen zu erkennen, bemüht haben und ihn dann doch nicht erkennen konnten, dann lag keine Sünde vor. Anders ist es bei den gottvergessenen Menschen. Wer in der Sünde versinkt, wer sich an die Sünde gewöhnt hat, wer die Sünde zu seiner Gewohnheit gemacht hat, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er Gottes Gebot nicht mehr vernimmt. Er hat ja sein Gewissen erstickt, er hat es erwürgt durch die Massen seiner Sünden. Ähnlich ist es mit dem, der aus Nachlässigkeit und Bequemlichkeit sich nicht um Gottes Gebot kümmert. Wir haben die Pflicht, uns um die Sittlichkeit, um die Gebote der Sittlichkeit zu bemühen. Wir haben die Pflicht, gut und böse unterscheiden zu lernen. Wer das versäumt, der ist, obwohl er in dem Augenblick, wo er sündigt, die Sünde nicht erkennt, dennoch an der Sünde schuld; denn er hat sich schuldhaft das Wissen um die Sünde versagt. Ebensowenig ist eine Sünde vorhanden, wenn man nicht einwilligt in die Sünde. Unsere ostdeutschen Frauen und Mädchen wissen zu berichten, wie sie  von der russischen Soldateska genötigt wurden, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten. Das war keine Sünde. Auch wenn man vom Satan schlechte Gedanken eingegeben bekommt, ist das solange keine Sünde, wie man nicht einwilligt. Viele von uns leiden unter solchen Gedanken; Gedanken der Schadenfreude, Gedanken des Neides, Gedanken der Wollust. Solange wir nicht einwilligen, sind diese Gedanken unschädlich. Wir sollen sie abwehren, wie wir Mücken von uns abwehren. Ebensowenig ist eine Sünde vorhanden, wenn uns im Traume etwas heimsucht. Das Unterbewußte im Menschen arbeitet ja weiter, wenn wir schlafen. Da wird alles mögliche aufgerührt, auch Dinge, von denen wir nichts wissen wollen, die wir ablehnen. Aber solange wir nicht zustimmen – und im Traume stimmt man nicht zu –, ist eine Sünde nicht vorhanden. Freilich gibt es unfreiwillige Sünden, die dennoch sündhaft sein können, nämlich dann, wenn man die Ursache für die unfreiwilligen Sünden gesetzt hat. Wer sich bis zur Sinnlosigkeit betrinkt, um dann in diesem Zustand Dinge zu tun, die er im normalen Zustand nicht tun würde, der ist schuld an dem, was er in der Trunkenheit angerichtet hat, weil er die Ursache für diese unfreiwillig geschehenen Handlungen gesetzt hat.

In ihrem inneren Wesen ist die Sünde ein Vorziehen des Geschöpfes vor den Schöpfer. Gott hat uns die Dinge dieser Welt gegeben, damit wir an ihnen und mit ihnen und durch sie unsere Seligkeit wirken. Wir dürfen, wir sollen sie gebrauchen. Aber wir müssen sie so gebrauchen, wie es Gott angeordnet hat, das heißt maßvoll. Wie eine Arznei schadet, wenn man von ihr zu wenig oder zu viel nimmt, so ähnlich ist es mit dem Gebrauch der irdischen Dinge. Wir sollen sie in dem Umfang gebrauchen, den Gott gewollt hat. Er hat uns das Eigentum gegeben, und es ist berechtigt, sich Eigentum zu verschaffen, aber nicht durch Betrug oder Diebstahl. Er hat uns die Nahrung gegeben. Wir dürfen uns nähren, aber nicht im Übermaß. Wer also die Dinge in einem anderen als in dem von Gott gewollten Sinne gebraucht, der vergeht sich gegen den Schöpfer. Er tut eine Sünde. Gott will, daß die Geschöpfe uns zur ewigen Seligkeit dienen, nicht daß sie unseren Ruin herbeiführen. Der heilige Paulus sagt einmal: „Der Habsüchtige ist ein Götzendiener.“ Wie kommt er zu dieser merkwürdigen Aussage? Der Habsüchtige betreibt Götzendienst. Die Erklärung dafür lautet: Wer ein Ding an die Stelle Gottes setzt, wer ein Geschöpf Gott, dem Schöpfer, vorzieht, der vergeht sich gegen das 1. Gebot: „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ So viele Todsünden wir begehen, so viele Götter haben wir. Das ist tatsächlich richtig; man kann das, was Paulus von der Sünde der Habsucht sagt, auf alle Todsünden ausdehnen. Sie alle bedeuten Götzendienst, ein Vorziehen von Geschöpfen vor dem Schöpfer, einen falschen, einen irrigen Gebrauch der Schöpfung.

Der Sünder wird auch zum Knecht der Sünde. Zu meinem 70. Geburtstag schickte mir eine bekannte Ärztin ein Buch, in dem die Kriegsgeschichte eines deutschen Leutnants beschrieben ist. Wohin er immer kam, und selbst in russischer Gefangenschaft, hat der Mann Unzucht getrieben. Er war ein Knecht seiner wollüstigen Anlage. Der Knecht auf Erden kann fliehen, aber wer der Knecht der Sünde ist, der kann nicht fliehen, denn er nimmt seine Knechtschaft überall mit.

Die Folgen der Sünde sind schlimm, meine lieben Freunde. In einem gewissen Sinne kann man sagen: Die Sünde ist das einzige, in jedem Falle aber das größte Übel, das es gibt. „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes ist die Schuld“, heißt es in der „Braut von Messina“ von Friedrich Schiller. Wahrhaftig, die Widerwärtigkeiten und Leiden, die uns treffen, sind in den Augen Gottes kein Schaden für uns. Nach Gottes Willen und nach seiner Absicht sollen sie uns zum Himmel führen. Aber wer Sünde tut, der verliert den größten Teil seines Wertes vor Gott. Quälereien, die uns Menschen zufügen, nehmen uns vor Gott nichts, aber die Sünde raubt uns den übernatürlichen Wert vor Gott. Der Sünder verliert seine übernatürliche Schönheit. Jawohl, es gibt nicht nur eine Schönheit des Leibes, es gibt auch eine Schönheit der Seele. Die Schönheit der Seele besteht in der heiligmachenden Gnade und in den Tugenden. Der Sünder verliert die heiligmachende Gnade, und er verrät seine Tugenden, er wird deswegen in einem wirklichen Sinne häßlich und abscheulich. Wenn man Heiratsanzeigen in einer Zeitung einmal durchliest, dann stellt man fest, daß die Menschen meist auf äußere und äußerliche Dinge abstellen, wenn sie sich um einen Partner bemühen. Aber viel wichtiger wäre doch, daß man sich um die seelischen Qualitäten bemüht, daß man fragt: Lebst du in der heiligmachenden Gnade? Wann war deine letzte Beicht? Daß man sich darum kümmert, ob der andere Tugenden erworben hat, die ein Eheleben tragen können. Die Sünde raubt dem Menschen die übernatürliche Schönheit. Sie macht ihn, wie der Apostel Johannes sagt, dem Teufel ähnlich. Der Sünder ahmt den Teufel nach. Ja, er sagt: Die Sünder sind Kinder des Teufels. „Wer Sünde begeht, der ist vom Teufel“, heißt es im ersten Johannesbrief, „denn der Teufel sündigt von Anfang an. Daran erkennt man die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels. Wer nicht Gerechtigkeit übt und seinen Bruder nicht liebt, der ist nicht aus Gott.“ Also so schrecklich ist es, Sünde zu tun, daß man dem Bösen angehört, der der ewige Widersacher Gottes ist, daß man den Satan, den Urheber der Sünde, zum Vater hat.

Auch auf Erden wird man gewöhnlich durch die Sünde schon unglücklich, meine lieben Freunde. Die Flugzeuge müssen ihre Bahnen, ihre Flugschneisen einhalten. Wenn sie es nicht tun, wie wir es in der vergangenen Woche in Indien erlebt haben, dann stoßen sie zusammen, und das Unglück ist groß. Auch der Mensch muß in Bahnen laufen, die Gott ihm vorgezeichnet hat. Er muß sich an die Ordnung halten, die Gott ihm gegeben hat, sonst stürzt die Ordnung über ihn. Wer sich gegen die Ordnung auflehnt, der wird von ihr erdrückt. Das muß nicht immer sogleich sein, aber zu irgendeinem Zeitpunkt wird dieser Anschlag gegen die Ordnung ihn selbst treffen. Und wer nicht ganz verroht ist und innerlich abgestumpft, der wird auch unglücklich über die Sünde sein. Es wird sich in ihm die Reue regen, und die Tränen werden fließen. In ergreifender Weise hat es ja Goethe im „Faust“ geschildert. Als Faust das Gretchen verführt hat, da nimmt sie in ihrer Not ihre Zuflucht zur Muttergottes:

„Ach neige, du Schmerzensreiche, dein Antlitz gnädig meiner Not!

Das Schwert im Herzen, mit tausend Schmerzen blickst auf zu deines Sohnes Tod.

Zum Vater blickst du und Seufzer schickst du hinauf um sein’ und deine Not.

Wer fühlet, wie wühlet der Schmerz mir im Gebein?

Was mein armes Herz hier banget,

was es zittert, was verlanget, weißt nur du, nur du allein!

Wohin ich immer gehe, wie weh, wie weh, wie wehe wird mir im  Busen hier.

Ich bin, ach! kaum alleine, ich wein’, ich wein’, ich weine,

das Herz zerbricht in mir.

Die Scherben vor meinem Fenster betaut’ ich mit Tränen, ach,

als ich am frühen Morgen dir diese Blumen brach.

Schien hell in meine Kammer die Sonne früh herauf,

saß ich in allem Jammer in meinem Bett schon auf.

Hilf! Rette mich vor Schmach und Tod!

Ach, neige, du Schmerzensreiche, dein Antlitz gnädig meiner Not!“

In ergreifender Weise hat Goethe hier die Gewissenspein und die Not der Sünderin beschrieben, und wir alle kennen in einer annähernden Weise diese Stimmung, die hier in packender Weise eingefangen ist. Wir wollen unsere Gesinnung erneuern, meine lieben Freunde, die Gesinnung des Abscheus vor der Sünde, des Hasses gegen die Sünde. Wir wollen unsere Entschlossenheit festigen, die Sünde zu meiden, zu bekämpfen, zu überwinden. Wir wollen auch um göttlichen Beistand rufen und beten: „Ach Gott, hilf, daß wir, von den Fesseln der Sünde befreit, das vollbringen, was dir wohlgefällig ist!“

Amen.

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