Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Beherrschung der Sinne (Teil 4)

29. Oktober 1995

Die Ordnung des menschlichen Verstandes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Verstand und Wille sind die höchsten und edelsten Fähigkeiten des Menschen. Andere Kräfte haben wir mit den Tieren gemeinsam. Aber diese beiden erheben uns zu den geistigen Wesen, ja zu Gott. Verstand und Wille haben ihre Wurzel in der Geistigkeit der Seele; sie sind Träger der Sittlichkeit; sie nähern uns Gott an. Aber auch Verstand und Wille bedürfen der Erziehung. Darüber wollen wir am heutigen und am kommenden Sonntag sprechen, am heutigen Sonntag über die Erziehung des Verstandes.

Der Verstand ist mit dem Wissenstrieb ausgestattet. Der Wissenstrieb geht auf die Wahrheit. Die Allgemeinheit dieses Triebes zeigt uns, daß er von Gott in den Menschen eingesenkt und der Ausbildung bedürftig ist. Diese Ausbildung ist um so notwendiger, als der Verstand den Willen bestimmt. Der Wille ist an sich ein blinder Trieb. Es muß ihm der Verstand voranleuchten. Erst müssen wir überlegen und bedenken, bevor wir dem Willen die Motive vorstellen, denen er dann folgen kann.

Die Erziehung des Verstandes hat zwei Ziele; einmal muß sie ihn davor bewahren, Unnützes und Schädliches aufzunehmen, zum anderen müssen die Wissenssammlung und die Verstandesbetätigung in der rechten Ordnung vor sich gehen. Der Verstand ist ja fortwährend in Bewegung. Irgendetwas denken muß der Mensch in jedem Augenblick, aber es kommt darauf an, was er denkt. Die Neugierde bemächtigt sich allzu leicht des Verstandes, die Neugierde, die sich von der Wißbegierde dadurch unterscheidet, daß sie wissen will, was nicht notwendig, nicht nützlich oder nicht erlaubt ist. Die Neugierde richtet sich auf Überflüssiges und Schädliches. Sie macht den Menschen oberflächlich, sie verflacht ihn, sie füllt den Geist mit Ballast oder gar mit Giftstoff. Die Neugierde ist am Werke in Gesprächen, die wir führen, in der Lektüre, die wir betreiben, in Bildern, die wir anschauen. Alle diese Tätigkeiten müssen in der rechten Ordnung gelenkt sein, damit uns nicht die Neugierde verführt, abhält von ernstem Studium, von wirklicher Gedankenarbeit, von echtem Bemühen um Erkenntnis. Die Lektüre der Zeitung sollten wir auf das Notwendigste beschränken. Die Gespräche sollten wir so führen, daß ein Gewinn für unseren Partner und für uns abfällt. Und das Fernsehgerät sollten wir einschalten, um uns zu bereichern, nicht um uns zu belasten oder zu vergiften.

Besonders gefährlich ist es, wenn sich der Verstand mit der Leidenschaft vermählt, etwa mit der Leidenschaft, über andere herzufallen, sich um deren Tun und Lassen übermäßig und ohne Not zu kümmern. Du hast genug an dir selbst zu tragen; sorge dafür, daß du ein Heiliger wirst, und beschäftige dich nicht damit, was andere versäumen oder verkehrt machen. Gefährlich ist es auch, wenn sich der Verstand mit obszönen Dingen beschäftigt. Mir sagte einmal ein Medizinprofessor unserer Universität: „Ich lese gern Pornographie.“ Nun, das ist keine gute Lektüre, die Pornographie. Damit sollte man den Verstand nicht beschäftigen, sondern wir sollten ihm ein würdiges Objekt geben, wir sollten ihn so in die Arbeit einspannen, daß er in der rechten Weise sein Betätigungsfeld findet. Was ist dazu erforderlich? Erstens, daß wir dem Notwendigen den Vorrang vor dem Nützlichen  und dem Nützlichen den Vorrang vor dem Angenehmen geben. Das muß die rechte Reihenfolge sein: zuerst das Notwendige, dann das Nützliche und zum Schluß das Angenehme. Das ist die rechte Ordnung der Verstandestätigkeit. Zweitens, wir müssen unseren doppelten Beruf als Christen und Bürger ausfüllen, indem wir uns darin zur Meisterschaft heranbilden. Als Christen müssen wir fähig sein, über unseren Glauben und unsere Hoffnung Rechenschaft zu geben. Es ist beschämend, meine lieben Freunde, bei Diskussionen zu beobachten, wie die braven, gläubigen Katholiken verstummen. Sie wissen nichts, sie haben nichts gelernt, und so vermögen sie auch nichts in der Diskussion beizutragen. Das ist eine Schuld, und diese Schuld wird einmal verantwortet werden müssen. Wir müssen uns ausbilden in der heiligen Religion, wir müssen lesen, unermüdlich, wir müssen Wissen sammeln, wir müssen uns Klarheit verschaffen, damit wir anderen Rechenschaft geben können über unseren Glauben und unsere Hoffnung. Ebenso gilt das für unseren Beruf. Jeder, der nicht das Erforderliche getan hat, um es in seinem Berufe zur Meisterschaft zu bringen, wird sich vor Gott verantworten müssen. Die Gesellschaft hat ein Recht darauf, daß wir in unserem Beruf das Beste leisten, was aus uns herauszuholen ist. Keine Stümper! Das böse Wort „Katholiken sind dümmer“ darf nicht wieder aufkommen, meine lieben Freunde. Man muß mit rastlosem Eifer tätig sein, um sich das anzueignen, wofür man von Berufs wegen bestimmt ist. Bequemlichkeit und Christentum vertragen sich nicht.

Weiter müssen wir an die Grenzen der Verstandestätigkeit denken. Dem Verstand sind von unseren Wesen als Mensch und als Christ Grenzen gesetzt, die er nicht überschreiten kann. Es gibt keine Allwisserei. Wir müssen uns bescheiden, das zu wissen, was notwenig und nützlich ist. Wer alles wissen will, der verfällt der Oberflächlichkeit und unter Umständen der Verzweiflung. Eine solche versuchte Allwisserei begegnet uns in der Dichtung „Faust“ von Goethe. Fausts Famulus Wagner ist ein solcher von Neugierde getriebener Mensch. „Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen“, sagt er. Aber das ist unmöglich. „Nicht das viele Wissen tut's, sondern wissen etwas Gut's.“ Wir müssen an erster Stelle das wissen, was wir von Berufs wegen zu wissen haben. Was die religiösen Gegenstände angeht, muß uns immer bewußt sein, daß es eine Grenze des Erkennens gibt. Die religiösen Wahrheiten bringen Aufklärung, ohne Frage. Sie sind ein Licht; sie erleuchten unseren Verstand, erhellen unseren Lebensweg. Aber sie sind auch ein Geheimnis. Sie lassen sich nicht in letzter Weise aufschließen. Es bleibt ein Rest, ein sehr großer Rest, den wir der Allwissenheit Gottes überlassen müssen.

Man muß auch auf dem Gebiete der Verstandestätigkeit mit Demut zu Werke gehen. Das Wissen, das wir durch rastlose Tätigkeit sammeln können, mag noch so umfangreich sein: Je mehr man in das Gebiet des Wißbaren eindringt, um so kleiner wird man, um so mehr erkennt man, wie unermeßlich viel zu wissen bleibt, das uns verschlossen ist. Der wahrhaft Gelehrte ist immer ein bescheidener Mensch. Er weiß, daß er mit Sokrates sprechen müßte: „Ich weiß, daß ich nichts weiß!“ Denn das Wenige, was er an Wissen gesammelt hat, ist unendlich viel weniger, als was gewußt werden kann. Auch müssen wir bedenken, daß wir das Wissen, das wir gesammelt haben, Gottes Kräften verdanken. Er hat uns ja die Anlagen gegeben, mit denen wir gearbeitet haben, und so muß auch dafür gelten: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“

Die Verstandestätigkeit muß schließlich auch mit Gebet begleitet werden. Das Gebet muß am Anfang und am Ende jeder denkerischen Bemühung stehen. Das Gebet verleiht Ausdauer im anstrengenden Betrieb des Geistes. Im Buch der Weisheit ist der Einfluß des Gebetes auf das Erkennen deutlich geschildert: „Ich betete, da ward mir Einsicht zuteil. Ich flehte, da zog in mich ein der Geist der Weisheit.“ Gott hat das Gebet des Beters erhört und ihm Einsicht und Weisheit geschenkt. „Zugleich mit ihr erhielt ich auch alle anderen Güter. In ihren Händen war unschätzbarer Reichtum. Denn sie ist für die Menschen ein unerschöpflicher Schatz. Wer ihn nutzt, erwirbt sich Freundschaft bei Gott, empfohlen durch Gaben, die aus der Zucht entspringen.“

Ebenso bedeutsam wie die Ausbildung und Erziehung des Geistes, wie die rechte Ordnung bei der Tätigkeit des Verstandes, ist die Mäßigung des Urteils. Wer Wissen gesammelt hat, der spürt leicht seine geistige Überlegenheit und ist in Gefahr, sie anderen gegenüber auszuspielen. Er wird hochmütig; und der Hochmut ist eine der Hauptsünden, die es überhaupt gibt. Der Hochmut kommt immer auch zu Fall. Wer sich überheblich beträgt, wer sein eigenes Urteil überschätzt, wer immer recht behalten will, der entfremdet sich die anderen Menschen, der schafft Unfrieden in seiner Umgebung. Es gibt viele Dinge, meine lieben Freunde, bei denen mehrere Ansichten möglich sind. Wir sollen da, wo wir unsicher sind oder wo es sich um Dinge von untergeordneter Bedeutung handelt, nicht auf dem eigenen Urteil bestehen. Auch andere haben etwas erkannt, auch andere haben Überlegungen angestellt, und es dient dem Frieden und der Einheit und der Liebe, wenn wir auch ihre Ansichten gelten lassen. Ich sage es noch einmal: In Fragen von untergeordneter Bedeutung und in Angelegenheiten, die mehrere Lösungen offenlassen, sollen wir weitherzig sein. Die Überheblichkeit wird überwunden, indem wir uns beraten lassen. Es ist keine Schande, einzugestehen, daß man des Rates bedürftig ist. Es ist keine Schande, sich von anderen Rat geben zu lassen. Dadurch kommen wir der Wahrheit näher, als wenn wir auf unser eigenes Urteil vertrauen. Und wenn wir selbst um Rat gefragt werden, dann sollten wir langsam im Erteilen von Rat sein, aber konsequent in der Ausführung. Langsam im Raten, konsequent in der Ausführung.

Der Verstand, meine lieben Freunde, ist eine Gabe Gottes. Er nähert uns Gott an, und er ist der Führer unseres Willens. Mit dem Verstande erobern wir uns die sichtbare und unsichtbare Welt. Der menschliche Verstand ähnelt jener Gabe, welche die Engel besitzen, die ja einen durchdringenden Verstand haben. Wir sollen dieses hohe Gut ausbilden; wir sollen den Verstand benützen; wir sollen Wissen sammeln, unermüdlich und ohne Ruhe. Aber wir sollen auch wissen, daß der Verstand, der nicht von der Furcht Gottes geleitet wird, leicht in die Irre geht. „Groß ist es, Weisheit und Wissenschaft zu sammeln, aber keiner gleicht dem, der den Herrn fürchtet!“

Amen.

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