Predigtreihe: Die Sichtbarkeit der Kirche (Teil 9)
2. Juli 1995
Das Papstamt
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir hatten uns vorgenommen, die Sichtbarkeit der Kirche zu überdenken. Es gibt eine im Glauben, in der Verfassung, im Recht, im Gottesdienst sichtbare Gemeinschaft, die Christus gestiftet hat; wir nennen sie die katholische Kirche. Ein Element der Sichtbarkeit ist ganz besonders deutlich, nämlich das Papsttum. Das Papsttum gilt so sehr als Kennzeichen der katholischen Kirche, daß die Feinde der Kirche ihre Glieder als „Papisten“ beschimpft haben und auch heute noch beschimpfen. Die Kirche ist von Christus in ihren wesentlichen Verfassungselementen selbst gestiftet worden. Er hat die Apostel berufen und den Petrus an ihre Spitze gestellt. Er hat ihm den Vorrang des Rechtsprimates gegeben. Indem er Petrus zum Haupt der Apostel machte, hat Christus das Papsttum gestiftet. In der Heiligen Schrift lassen sich eine Menge von Texten nachweisen, die den Vorrang des Petrus und die Stiftung dieses Vorranges durch Christus bezeugen. An erster Stelle steht die berühmte Voraussagung des Herrn bei Cäsarea Philippi: „Du bist Petrus – und das heißt Fels –, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. Dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben. Alles, was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein.“ Das war die Verheißung des Primates. Die Einsetzung geschah nach der Auferstehung des Herrn. Da hat Christus zu Petrus gesprochen: „Weide meine Lämmer! Weide meine Schafe!“
Diese Texte scheinen uns Gläubigen sehr klar zu sein. Aber das hindert nicht ungläubige Theologen, sie zu verdrehen und zu verwerfen. Es gibt Theologen, sogenannte katholische Theologen, die behaupten, diese Worte seien unecht, sie seien gar nicht von Christus gesprochen. Es gibt andere, die sagen, diese Worte gingen auf den Glauben des Petrus, nicht auf die Person. Und es gibt drittens Theologen, die meinen, zwar Petrus sei damit gemeint, aber nicht seine Nachfolger. Gegenüber diesen falschen Meinungen hält die Kirche unverrückbar daran fest, daß der Primat von Christus gestiftet worden ist und fortlebt im Bischof von Rom. Alle anderen Bischofe sind zwar auch Nachfolger der Apostel, aber sie folgen nsicht einem einzelnen Apostel nach; ihre Tätigkeit ist nicht an den Wirkort eines Apostels gebunden, während der Papst, der Bischof von Rom, Petrus an seinem letzten Wirkort nachfolgt, nämlich in Rom. Petrus hat in Rom gelebt, den Primat ausgeübt und ist dort gestorben. Deswegen ist der Bischof von Rom ein einzigartiger Bischof; er ist der Universalbischof der katholischen Kirche. Er allein folgt einem bestimmten Apostel nach, nämlich dem Petrus.
Der Primat stammt also nicht von unten, sondern von oben. Er ist nicht das Ergebnis politischer Konstellationen oder kultureller Entwicklungen, er gehorcht auch nicht einem soziologischen Gesetz, wonach eben einer an der Spitze stehen soll. Nein, der Primat ist die Stiftung Christi. Und diese Stiftung Christi hält sich durch alle Zeiten hindurch. Die Zeitverhältnisse, die geschichtlichen Notwendigkeiten, die Persönlichkeit des einzelnen Papstes spielen selbstverständlich bei der Ausdrucksgestalt, die der Primat annimmt, eine große Rolle. Wir können sehr deutlich Päpste wie Pius X., Pius XI., Pius XII. unterscheiden von Johannes XXIII. oder Paul VI. oder Johannes Paul II. Die Ausübung der primatialen Gewalt ist bei diesen beiden Gruppen sehr verschieden. Aber das Grundwesentliche, das immer Sich-Durchhaltende, das immer Sich-gleich-Bleibende, das ist die primatiale Würde und die primatiale Vollmacht. Sie ist in Pius X. keine andere als in Johannes Paul II.
Weil der Papst Christus vertritt, nennt man ihn den Repräsentanten Christi. Er ist der Vikar, der Stellvertreter Christi. Die übrigen Apostel vertreten in einer gewissen eingeschränkten Hinsicht auch Christus, aber der Papst vertritt Christus in seiner Stelle als Haupt der Gesamtkirche. Christus ist das Haupt der Kirche, und der Papst repräsentiert dieses Haupt. Man kann von ihm sagen: „Personam Christi gerit“ – er trägt die Person Christi, er führt die Person Christi in die Wirklichkeit, in das tägliche Leben über. Der Papst ist Repräsentant Christi; in ihm wird Christus hörbar und sichtbar.
Diese Wirklichkeit, daß Christus im Papste hörbar und sichtbar wird, ist freilich nicht ohne die menschliche Brechung. Es wird ja Christus im Papste nicht unmittelbar wirksam, sondern mittelbar, eben durch das menschliche Werkzeug, das der Papst ist, hindurch, und deswegen geht Christus in das Tun und Lassen des Papstes nicht so ein, als ob er unmittelbar und persönlich handeln würde, sondern Christus wird im Papste hörbar und sichtbar in der Brechung – auch in der Trübung – durch das Menschliche. Das ist einfach mit der Repräsentationsfunktion gegeben. Aber das ändert nichts daran, daß im Papste Christus verbindlich spricht. Vom Papsttum gilt das Schaliach-Institut. Das heißt, der Beauftragte ist so wie der Beauftragende. Wer ist denn der Beauftragende? Das ist Christus. Und wer ist der Beauftragte? Das ist der Papst. Wenn also Christus Vollmacht hat, eine Kirche zu stiften und eine Kirche zu regieren, dann hat er diese Vollmacht, seine Kirche zu weiden, dem Papst übertragen, und der Papst weidet sie in der Vollmacht Christi. Er hat einen wirklichen Rechtsvorrang. Er ist nicht nur Erster unter Gleichen, er ist nicht nur mit einem Ehrenvorrang ausgestattet. Er hat auch nicht nur die Aufsicht über die Bischöfe zu führen oder Direktiven zu geben. Nein, er hat einen Vorrang der Leitung, der ihm gestattet, Forderungen zu stellen, die im Glaubensgehorsam erfüllt werden müssen. Was der Papst anordnet, ist verbindlich, weil Christus hinter ihm steht und durch ihn handelt.
Freilich muß man auch hier wieder unterscheiden. Wenn der Papst im Flugzeug mit Journalisten plaudert, dann haben diese Gespräche selbstverständlich eine ganz geringe Verbindlichkeit. Es handelt sich dabei um Unterhaltungen auf einer Reise, bei denen nicht mit letzter Eindeutigkeit und in letzter Klarheit, vor allem nicht mit Verbindlichkeit gesprochen wird. Oder wenn der Papst ein Buch schreibt, dann ist er eben ein privater Autor wie andere, und man kann sein Buch unter literarischen und theologischen Gesichtspunkten beurteilen, unter Umständen auch Kritik daran üben. Anders ist es dagegen, wenn der Papst eine Enzyklika erläßt. Eine Enzyklika ist ein Ausdruck seiner Lehrgewalt und deswegen verbindlich. Wenn in ihr Dogmen enthalten sind, dann ist diese Enzyklika sogar letztverbindlich, denn gegen Dogmen, gegen die Wahrheit selbst im Glaubensgesetz gibt es keinen Einwand mehr. Aber in Enzykliken finden sich auch viele andere Äußerungen, die nicht mit letzter Verbindlichkeit ausgesagt werden, die deswegen auch der Änderung fähig sind. Die verschiedenen Stufen der Vernindlichkeit zu unterscheiden, ist eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe.
Woraus ergibt sich, ob Äußerungen einer Enzyklika letztverbindlich sind? Das erkennt man am Stil, wenn der Papst beispielsweise sagt: „Ich spreche hier mit dem höchsten Einsatz meiner Gewalt.“ Das erkennt man am Inhalt, wenn es sich nämlich um eine Glaubens- oder Sittenwahrheit handelt. Das erkennt man auch an der Verbindung nach rückwärts, ob nämlich diese Lehre von der Tradition gestützt und getragen wird. Gegenüber der Wahrheit gibt es keinen Einwand. Bei Meinungen ist eine Änderung möglich. Wenn und soweit im Wirken des Papstes Christus hörbar wird, ist sein Tun und Handeln verbindlich. Je nach dem Maße der Vollmacht, das er in Anspruch nimmt, ist auch der Grad der Verbindlichkeit zu bestimmen.
Dem Papst ist eine universale Gewalt eigen, d.h. eine Gewalt über die ganze Kirche. Er hat zwar auch nur die Bischofsweihe empfangen wie alle anderen Bischöfe, aber er hat eine höhere Hirtengewalt. Die übrigen Bischöfe dürfen ihre Gewalt als Weihende normalerweise nur in ihrem Bistum ausüben; der Papst darf sie überall ausüben. Er ist der Bischof für alle. Er ist der Episcopus catholicae ecclesiae – der Bischof der katholischen Kirche. Die anderen Bischöfe sagen: Ich bin der Bischof von Trier, oder ich bin der Bischof von Limburg, oder ich bin der Erzbischof von Köln. Der Papst sagt nicht nur: Ich bin der Bischof von Rom, er sagt auch: Ich bin der Bischof der katholischen Kirche, aller anderen Bistümer zusammengenommen. Seine Gewalt ist eine universale, die sich über die ganze Kirche erstreckt, und niemand kann ihm dabei irgendwelche Hindernisse in den Weg legen. Jeder Bischof ist ihm untergeordnet. Auch die Gesamtheit der Bischöfe, ob auf dem Konzil versammelt oder außerhalb des Konzils, untersteht ihm, vermag nicht gegen ihn aufzukommen. Das ist sehr wichtig, meine lieben Freunde. Wenn sich z.B. der Katechismus, den der Heilige Vater erläßt und der Katechismus, den die deutschen Bischöfe herausgeben, widersprechen, dann geht der Katechismus des Heiligen Vaters vor, dann ist der Katechismus, den die deutschen Bischöfe herausgeben, zu korrigieren nach dem Katechismus, den der Heilige Vater erlassen hat.
Die Gewalt des Papstes ist sodann eine volle. Es fehlt ihr nichts von den Gewalten, die der Kirche überhaupt mitgegeben sind. Er besitzt die Gewalt als Lehrer, als Richter, als Gesetzgeber, als Verwalter. Seine Gewalt ist eine Gewalt der Fülle. Andere haben nur teil an dieser Gewalt; er hat die Gewalt in Fülle. Seine Gewalt ist auch eine höchste, d.h. sie hat niemanden über sich. Kein Konzil und keine Bischofsversammlung kann sich über den Papst erheben. Er steht über allen. Er hat auf Erden niemanden, der ihm gewachsen ist. Über ihm steht nur Gott. Aber auf Erden findet er keinen, der ihm an Macht gleichkäme.
Im weltlichen Bereich hat der Papst keine unmittelbare Gewalt. Er kann nicht die Politik bestimmen. Er kann nicht den Völkern gebieten, denn er ist nicht ihr Regent, aber er kann die Völker lehren. Ja, er muß sie lehren. Es ist ihm aufgegeben, das Tun und Lassen der Völker und ihrer Regierungen am Gesetze Gottes zu messen. Er muß sagen: Es ist dir erlaubt, oder: Es ist dir nicht erlaubt! Das nennt man eine mittelbare Gewalt über die zeitlichen Dinge. Der Papst besitzt eine Gewalt mit Rücksicht auf die Sünde, das Tun und Lassen der Menschen zu beurteilen.
Der Papst wird durch die Fülle seiner Gewalt nicht zum Diktator, wie der Tübinger Theologe Küng behauptet. Denn ein Diktator ist ja ungebunden, der Papst aber ist gebunden. Er ist gebunden an Christus. Er kann nicht tun, was er will, sondern er muß tun, was Christus will. Und was will Christus? Christus will die Aufrichtung des Reiches Gottes und das Heil der Seelen. Dies und nichts anderes kann und muß der Papst wollen: die Förderung der Gottesherrschaft und das Heil der Seelen. Seine Gewalt ist also inhaltlich ganz genau bestimmt. Er muß aufbauen und darf nicht niederreißen. Er kann nicht eine neue Offenbarung verkünden oder einen neuen Kult einrichten, sondern er hat die Tradition zu wahren, er hat die Kontinuität zu erhalten, d.h. die Verbindung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus. Es ist ihm nicht gestattet, nach Willkür und Laune, nach Belieben und Geschmack zu handeln, sondern er hat zu hören auf das, was Christus zu ihm spricht. Er hat die Verantwortung vor Christus. Er muß Rechenschaft legen vor Christus.
Letztlich ist in ihm die Liebe Christi zur Menschheit wirksam. Aber die Liebe Christi ist von besonderer Art. Sie bestätigt den Menschen nicht in seiner Enge und Kleinheit, in seiner Selbstverliebtheit und seiner Bequemlichkeit. Nein, die Liebe Christi ist von der Art, daß sie den Menschen aufscheucht aus seiner Selbstzufriedenheit, aus seiner Selbstsucht, aus seinem Eigenwillen, daß sie ihn emporreißen will aus seiner Niedrigkeit, aus seiner Bequemlichkeit, aus seiner Dürftigkeit. Deswegen stößt die Verkündigung, das Wirken, ja selbst die Einrichtung des Primates auf Widerstand. Der Mensch wehrt sich gegen die Beunruhigung, die von ihm ausgeht; er wehrt sich gegen eine Institution, die dazu da ist, ihn aus der Kleinheit und der Kaninchenhaftigkeit emporzureißen. So erklärt sich der Haß gegen das Papsttum. Der Haß liegt zwar immer auf der Lauer und kann sich gegen die ganze Kirche wenden, je nachdem, wie treu sie ihrem Auftrag ist. Aber der Haß erreicht eine besondere Intensität, wenn er sich gegen die Einrichtung wendet, die von Amtes wegen dazu da ist, von höchster Warte die Wahrheit Gottes zu verkünden, gelegen oder ungelegen der Menschheit zu sagen, was ihr erlaubt ist und was ihr nicht erlaubt ist.
Wenn man die Verfassungsform der Kirche beschreiben will, kann man nicht sagen, sie sei demokratisch. Die Kirche ist keine Demokratie. Sie kann es nicht sein. Sie kann es deswegen nicht sein, weil Christus kein demokratischer Führer ist. Die Kirche ist auch nicht aristokratisch. Sie wird nicht bestimmt von einer Gruppe, die durch Geburt oder Stand oder Gaben des Geistes ausgezeichnet ist und dadurch geführt wird. Nein. Wenn man einen Begriff aus der Staatslehre auf sie anwenden will, dann muß man sagen, die Kirche ist monarchisch. Sie ist monarchisch, weil sie von Christus, dem Monarchen, dem König Himmels und der Erde, gegründet ist, und weil der Papst die Gestalt dieses Monarchen – in menschlicher Brechung, zugegeben – an sich trägt.
Meine lieben Freunde, auch über das Papsttum wird einmal gerichtet werden beim Weltgericht. Beim Weltgericht werden ja die Institutionen gerichtet. Beim persönlichen Gericht nach dem Tode wird der Einzelne gerichtet, aber beim Weltgericht müssen die Institutionen, also das Bischofsamt, das Papstamt, vor Gottes Richterstuhl erscheinen. Wir wissen nicht, wie dieses Gericht ausgehen wird. Es hat schwache, es hat starke Päpste gegeben; es hat feige, es hat mutige gegeben; es hat kluge, es hat weniger kluge gegeben. In 265 Päpsten hat sich eben die ganze Kirche dargestellt, in ihrer Größe und in ihrem Elend, in ihrer Stärke und in ihrer Schwäche. Aber ich glaube, daß beim Gericht eines zu Worte kommen wird, ein Wort, meine lieben Freunde, das von dem Philosophen Schelling stammt. Schelling hat im vorigen Jahrhundert in München und dann in Berlin gelehrt. Er hat einmal gesagt: „Wißt ihr, was ich vom Papsttum halte? Ich halte vom Papsttum, daß ohne dasselbe das Christentum schon längst von der Erde verschwunden wäre.“
Amen.