Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Gott erkennen (Teil 15)

18. Dezember 1994

Die Erkenntnis Gottes als Postulat der Vernunft

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor vielen Wochen haben wir damit begonnen, uns der Existenz Gottes zu vergewissern, soweit das menschlichem Bemühen zugänglich ist. Wir haben uns gesagt, entweder Gott existiert, oder er existiert nicht. Wenn er existiert, dann ist er der Herr der Welt und unser König, dem wir untertan sind und nach dessen Willen wir unser Leben auszurichten haben. Oder wenn er nicht existiert, dann ist alles gleichgültig, dann kann jeder tun, was er will, dann gibt es keine Norm und kein Gesetz mehr. Wir haben uns die Gottesbeweise vor Augen geführt, welche die größten Denker – nicht nur des Christentums, sondern auch der vorchristlichen Zeit – hervorgebracht haben, und wir haben erkannt: Man ist, wenn es um die Existenz Gottes geht, nicht nur auf das Glauben angewiesen. Es gibt auch die Möglichkeit der Vernunfterkenntnis. Auch die Menschen, die vor Christus gelebt haben, und solche, die heute außerhalb des Christentums leben, sind fähig, aus der Schöpfung auf den Schöpfer zu schließen. Man muß sich im Glauben vor zwei Extremen hüten, nämlich der Vernunft gar nichts zuzutrauen und der Vernunft zuviel zuzutrauen. Der Glaube ist kein Köhlerglaube. Wenn wir glauben, dann tun wir nichts, was gegen die Vernunft ist. Was der Glaube beinhaltet ist über die Vernunft, aber es ist nicht gegen die Vernunft. Und wenn es nicht gegen die Vernunft ist, dann muß die Vernunft fähig sein, uns Wege zum Glauben zu bahnen und das Geglaubte vernunftgemäß zu erhellen. An diesem letzten Sonntag vor Weihnachten bleibt mir die Aufgabe, die falschen Meinungen über die Tragkraft der Vernunft in bezug auf die Erkenntnis Gottes Ihnen vorzuführen.

Zunächst jene Ansichten, die der Vernunft nichts zutrauen. Da ist an erster Stelle der Agnostizismus zu nennen. Was ist Agnostizismus? Das ist die Meinung, daß wir nichts Übersinnliches und infolgedessen natürlich auch nichts Transzendentes, nichts Göttliches, erkennen können. Agnostizismus besagt Unerkennbarkeit des Göttlichen. Aber der Irrtum beginnt hier nicht in der Theologie, der Irrtum beginnt in der Philosophie. Es zeigt sich immer wieder: Wer keine richtige Philosophie hat, hat auch keine richtige Theologie. Die Entscheidung über die Richtigkeit theologischen Denkens fällt im philosophischen Denken. Die agnostizistische Verirrung gründet sich auf eine philosophische Fehlhaltung. Sie ist vor allem mit dem Namen Immanuel Kant verknüpft. Der Königsberger Philosoph vertrat den sogenannten „idealistischen Agnostizismus“, d.h. der Mensch ist bei seiner Erkenntnis auf das Erfahrungsmaterial beschränkt. In seinem Geiste trägt er an das Erfahrungsmaterial, an die Erscheinungswelt, Kategorien heran. Diese stammen aus seinem Geiste; sie sind nicht allgemein gültig, und infolgedessen können sie schon gar nicht auf das Übersinnliche angewendet werden. Soweit Kant auf das Göttliche zu sprechen kommt, sagt er: Gott ist ein Postulat der praktischen Vernunft. Das heißt, Gott ist theoretisch völlig unerkennbar. Es gibt keine Möglichkeit, mit der Vernunft zu Gott vorzustoßen. Es gibt keine Möglichkeit der Gottesbeweise. Aber wir brauchen Gott. Wir brauchen Gott, weil wir die absolute Heiligkeit und die vollkommene Glückseligkeit verwirklichen sollen. Das ist nicht möglich ohne Gott. Deswegen ist Gott ein Postulat der praktischen Vernunft. Die Praxis benötigt Gott.

Ein protestantischer Theologe hat dann, auf Kant ruhend, eine andere Form der Gotterkenntnis versucht, nämlich durch das Gefühl. Wir haben in uns das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, und diese Abhängigkeit deutet auf ein höchstes Wesen. Aber Gott ist unerkennbar. Die Vernunft vermag nichts zu leisten im Bereich der Gotteserkenntnis. Diese schwerwiegenden Verirrungen sind weit, weit in unser Volk eingedrungen. Ein ganz großer Teil vor allem der Bildungsschicht, namentlich im Protestantismus, ist diesen Verirrungen verfallen, hält vielleicht in irgendeiner Weise noch an einer Gottesidee fest, aber erklärt sie für unbeweisbar. Die Vernunft ist unfähig, dem Glauben irgendeine Stütze zu bieten.

Auf katholischer Seite sind Männer aufgestanden, die der Vernunft ebenfalls wenig zutrauen. Es sind die sogenannten Fideisten und Traditionalisten. Sie lebten im wesentlichen im vorigen Jahrhundert. Dazu zählen Männer wie De Bonald, Bautain und Bonnetty. Der Gedankengang dieser Männer ist etwa der folgende: Die Einzelvernunft ist unfähig, die Wahrheit zu erkennen. Sie verirrt sich, sie führt zur Gottlosigkeit. Deswegen muß man sich allein stützen auf die Allgemeinvernunft, und das ist nichts anderes als die Autorität. Die Autorität muß dem Menschen Gewißheit verleihen, und eine andere Gewißheit als die von der Autorität geschaffene gibt es nicht. Diese Autorität wurde nun von den gläubigen Männern, die die ja waren, in der Kirche und in der Heiligen Schrift gesehen. Alle klare, sichere Erkenntnis geht auf die Kirche und auf die Heilige Schrift zurück. Darin liegt natürlich ein großes Mißtrauen gegen die Vernunft. Und deswegen sind diese Ansichten auch von der Kirche zurückgewiesen worden. Es gibt auch klare Erkenntnis, es gibt auch gewisse Erkenntnis, die auf der Vernunft beruht. Einer geht sogar so weit, daß er sagt: Die menschliche Sprache und die göttlichen Vorstellungen sind dem Menschen am Anfang geoffenbart worden (Uroffenbarung), und dann werden sie weitergegeben, und – deswegen „Traditionalismus“ – daher schöpfen wir alle Erkenntnis Gottes aus der Tradition, aus der lückenlosen Weitergabe der Offenbarung bis in unsere Zeit.

Selbstverständlich haben diese Männer auch Richtiges gesehen, denn wir alle wissen, wie wichtig es ist, daß die Eltern den Kindern den Glauben weitergeben. Wir alle wissen, daß wir durch Erziehung und Bildung in den Glauben eingeführt werden. Was falsch war an dieser Ansicht, ist das Mißtrauen gegen die Vernunft, als ob wir nur durch Uroffenbarung, Kirche und Tradition Erkenntnis über Gott gewinnen könnten. Nein, die Kirche verteidigt die Fähigkeit der Vernunft. Sie sagt: Die Vernunft hat die Kraft, Göttliches zu erkennen, ja Göttliches zu beweisen.

Dann gibt es aber auch Gelehrte, die dem entgegengesetzten Extrem huldigen, die der Vernunft zu viel zutrauen. Sie sagen: Wir schauen Gott unmittelbar. Wir schauen ihn mit einer Intuition, die wir in unserem Inneren vollziehen, entweder als das allgemeine Sein oder als eine Vorstellung, in der das Sein enthalten ist. Die Männer, die ich hier im Auge habe, waren vor allem Italiener – Gioberti, Rosmini. Es waren fromme Männer; es waren teilweise heiligmäßige Männer. Aber ihre Philosophie und entsprechend ihre Theologie ging zu weit. Sie trauten der Vernunft zu viel zu. Der Mensch hat im Laufe der Geschichte immer den Versuch gemacht, Gott zu schauen. Schon Moses bat Gott, ihn anschauen zu dürfen. Aber Gott mußte es ihm verwehren. Er sagte: Es ist unmöglich, daß du mich anschaust und leben bleibst. Du müßtest sterben, wenn du mich anschauen würdest. Meine Glut würde dich versengen, mein Licht würde dich blenden. Und so blieb es Moses versagt, Gott zu schauen. Im Neuen Testament hat Philippus den Herrn gebeten, er solle ihm den Vater zeigen. Er mußte sich damit begnügen, daß der Herr ihm sagte: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ Das ist genug. Es ist unmöglich, auf dem Pilgerwege Gott unmittelbar zu schauen. Außerdem bringt diese Ansicht eine große Gefahr mit sich. Wenn nämlich Gott das allgemeine Sein ist, in dem wir alles andere schauen, dann besteht die Gefahr des Pantheismus. Dann ist die Gefahr gegeben, daß Gott und die Geschöpfe sich vermischen, daß die Geschöpfe als ein Bestandteil von Gott angesehen werden, daß man Gott auf die Ebene des Geschöpflichen herabzieht. Die Erhabenheit Gottes wird dadurch nicht voll in Rechnung gestellt. Gott mit dem irdischen Auge oder auch mit dem irdischen Verstande schauen zu wollen, das ist noch viel weniger möglich, als wenn ein Blinder die Farben und das Licht sehen wollte.

Diese falsche Lehre nennt man Ontologismus. Sie ist der Meinung: Was in der Seinsordnung das erste ist, muß auch in der Erkenntnisordnung das erste sein. Nun ist aber in der Seinsordnung das erste natürlich der Schöpfer. Infolgedessen muß auch in der Erkenntnisordnung der Schöpfer das erste sein; alles andere wird im Schöpfer erkannt. Dieser Schluß schlägt nicht durch. Es ist gerade umgekehrt: Wir schließen von den Geschöpfen auf den Schöpfer. Wir schauen nicht den Schöpfer, sondern wir sehen die Geschöpfe und schließen von da auf den, der sie erschaffen hat.

Diese Gedanken, die ich Ihnen vorgetragen habe, meine lieben Freunde, sind alles andere als überflüssig. Denn Sie wissen, wie immer wieder auch den gläubigen Menschen die Unsicherheit, die Glaubensschwierigkeit, ja der Zweifel überfallen kann, ob das alles stimmt, was die Kirche lehrt, ob das alles richtig ist, was wir gelernt haben, ob wir uns darauf verlassen können, was der Priester sagt. Gegen diese Anfechtungen gibt es Mittel übernatürlicher Art. Wir sollen beten um Licht, wir sollen den Glauben in der Praxis leben; die Praxis ist immer der sicherste Weg zum Glauben. Wer Glaubensschwierigkeiten hat, der soll Taten der Nächstenliebe setzen. Dann werden seine Glaubensschwierigkeiten in aller Regel verschwinden. Aber es gibt auch die Möglichkeit und manchmal die Pflicht, sich vernunftgemäß über die Haltbarkeit des Glaubens zu vergewissern. Wir dürfen diese Möglichkeit und diese Pflicht nicht gering einschätzen. Wir dürfen nicht einem dumpfen Köhlerglauben huldigen, sondern müssen einen gelichteten, einen durch die Vernunft gestützten Glauben, wie ihn die Kirche immer gelehrt hat, in uns tragen. Wir erkennen Gott, soweit wir es vermögen. Aber wir lieben ihn, so wie er ist.

Amen.

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