Predigtreihe: Gott erkennen (Teil 11)
20. November 1994
Die atheistische Bestreitung der Existenz Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
An den vergangenen Sonntagen haben wir uns die Gottesbeweise vor Augen geführt. Es gibt vernünftige Überlegungen, welche uns der Existenz Gottes gewiß machen können. Wir haben von Gott ohne Zweifel in der Verkündigung der Kirche durch die Belehrung der Priester und der Erzieher erfahren, aber um uns auch intellektuell zu vergewissern, daß dieser überkommene Glaube nicht auf unsicheren Füßen steht, haben wir an mehreren Sonntagen die Beweise, die das gläubige Nachdenken für Gottes Existenz gefunden hat, uns vor Augen geführt.
Nun gibt es aber Menschen, die sagen: „Es gibt keinen Gott.“ Es existieren atheistische Gedankensysteme, Weltanschauungen, Philosophien. Der Atheismus, also die Gottlosigkeit, die Gottesleugnung, ist die radikalste Form des Gegensatzes zum Glauben an Gott. Ihm wollen wir heute einige Überlegungen widmen.
Die Bestreitung der Existenz Gottes tritt in zwei Formen auf, nämlich als Unkenntnis Gottes und als Leugnung Gottes. Man unterscheidet den negativen und den positiven Atheismus. Was zunächst die Unkenntnis Gottes angeht, so wird von der überwiegenden Zahl der Theologen die Ansicht vertreten, daß es eine wirkliche, ehrliche Unkenntnis Gottes auf Dauer nicht geben kann. Denn die Wirklichkeit Gottes drängt sich dem unverbildeten Menschengeist mit derartiger Ursprünglichkeit und Lebendigkeit auf, daß eigentlich kein zum Bewußtsein seiner selbst gekommener Mensch in Unkenntnis über Gottes Existenz sein kann. Der Mensch ist ja Gott verwandt, weil er von Gott stammt, und diese Verwandtschaft mit Gott wird sich dem Bewußtsein des Menschen in irgendeiner Weise aufdrängen, so daß er eigentlich in einer wirklichen, ehrlichen Unkenntnis Gottes auf Dauer nicht verbleiben kann. Was in seinem Sein angelegt ist, nämlich die Verwandtschaft mit Gott, wird sich auch in seinem Bewußtsein niederschlagen. So sagt die Mehrzahl der Theologen. Es ist das eine Tatsachenfrage; es ist keine Lehre, die wir annehmen müssen. Wir können durchaus der Ansicht sein, daß es Unkenntnis Gottes gibt. Ich könnte mir persönlich vorstellen, daß unter den 16 Millionen Bewohnern der ehemaligen DDR eine weit verbreitete Unkenntnis Gottes vorhanden ist. Die in diesem Gebiet Aufgewachsenen haben vielfach niemals etwas von Gott gehört, höchstens insofern, als man sagte, das sei eine überholte Ideologie. Die Umgebung war gottlos, gottentfremdet, gottfern. Ich halte es für denkbar, daß es Menschen gibt, die Gott nicht kennen, die in der Unkenntnis Gottes leben, die also dem negativen Atheismus anhängen.
Anders steht es um den positiven Atheismus. Er besteht darin, daß man durch Scheingründe die Existenz Gottes leugnet. Daß es atheistische Gedankensysteme gibt, ist ohne jede Frage gewiß. Im 18. Jahrhundert fanden sich unter den französischen Enzyklopädisten Männer, die die Existenz Gottes radikal leugneten, z.B. der Baron Holbach oder Lammetrie. Im 19. Jahrhundert hat die Gottesleugnung noch viel mehr Menschen erfaßt. Im deutschen Idealismus sind zweifellos Männer vertreten, die eine wirkliche Existenz Gottes nicht angenommen haben. Bekannt ist z.B. Johann Gottlieb Fichte; er mußte die Universität in Jena verlassen, weil er angeblich oder wirklich den Atheismus vertrat. Dazu kam dann der Marxismus. Karl Marx war ein radikaler Leugner Gottes. Die Religion sah er von der herrschenden Klasse erfunden, um die Menschen niederzuhalten. Die herrschende Klasse hat nach ihm einen ideologischen Überbau benötigt, den nennt man Religion, und damit sollen die Menschen kirre gemacht werden, nämlich gehorsam gegen Staat und Kirche. Der Marxismus wurde dann in unserem Jahrundert durch Lenin vertieft. Er gab die Religiosität als eine Erscheinung aus, die sich aus der Übermacht des Kapitalismus gegenüber der arbeitenden Klasse ergibt. Weil die arbeitende Klasse unterdrückt war, suchte sie eine gewisse Erfüllung, eine Scheinerfüllung, eine Ersatzerfüllung in einem gedachten Wesen, das sie Gott nannte. Auch gewisse Naturwissenschaftler haben einen kämpferischen Atheismus vertreten. Ich denke z.B. an der Jenaer Professor Ernst Häckel. Sein Buch „Die Welträtsel“ ist in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet worden und hat ohne Zweifel Millionen von Menschen um den Glauben gebracht. Es gibt atheistische, von einer kämpferischen Ideologie geprägte Gedankensysteme.
Die zweite Wurzel der Gottesleugnung ist im Willen und im Lebensgefühl gelegen. Wer ins Triebhafte absinkt, der hat für das Geistige, erst recht für den höchsten geistigen Wert, für Gott, keinen Sinn. Wer im Materialismus aufgeht, für wen Essen und Trinken, Urlaub und Schlafen die höchsten Werte sind, der ist in der Gefahr, Gott zu übersehen. Der Materialismus in der praktischen Lebensführung ist geeignet, den Menschen dazu zu bringen, Gott zu leugnen.
Weit gefährlicher ist die Trägheit des Herzens. Sie besteht darin, daß der Mensch sich das Große, das Gott für ihn bedeutet, nicht zumuten will. Er spürt, Gott verlangt etwas, er verlangt viel, aber er will das nicht leisten, was Gott verlangt. Und deswegen bestreitet er seine Existenz. Es faßt ihn eine Art Angst- und Schwindelgefühl, wenn er Gottes inne wird, weil er sich das Hohe, das Gott bedeutet und fordert, nicht zumuten will. Kierkegaard, der scharfsinnige evangelische Theologe, nennt das die „Verzweiflung der Schwachen“.
Besonders gefährlich für den Gottesglauben ist das Versinken im Bösen. Wer das Böse liebt und das Gute haßt, der flieht vor dem, der das Böse straft und das Gute lohnt. Die Flucht vor Gott aus dem bösen Gewissen ist die häufigste Ursache für die Gottesleugnung. Ein hellsichtiger Mann des vorigen Jahrhunderts, der sich selbst als Gottesleugner bezeichnete, hat diesen Zusammenhang erkannt. In seinem „Zarathustra“ schreibt Friedrich Nietzsche: „Aber Gott mußte sterben. Er sah mit Augen, welche alles sahen. Er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Häßlichkeit. Der Gott, der alles sah, auch den Menschen, dieser Gott mußte sterben. Der Mensch erträgt es nicht, daß solch ein Zeuge lebt.“
In der Tat können wir Seelsorger bezeugen, daß nichts so sicher und dauerhaft von Gott, Religion und Kirche trennt wie das Untergehen in der Sünde, vor allen Dingen in der geschlechtlichen Sünde. In diesem Punkte will sich der Mensch nicht hereinreden lassen, von keiner Kirche und von keinem Gott! Und wenn Gott doch hineinredet durch den Mund der Kirche, dann müssen beide sterben. Gott muß sterben, wenigstens im Herzen, im eigenen Herzen, und die Kirche muß sterben, zumindest durch den Kirchenaustritt.
Es gibt eine weitere Möglichkeit, zur Gottesleugnung zu kommen durch völlige Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber höheren Werten. Wenn jemand überbeansprucht ist durch die Plackerei des Alltags, wenn er übermüdet ist, wenn er sein Antlitz verloren hat durch die Massenmedien und ein Massenmensch geworden ist, der nur das aufnimmt, was alle denken und alle sagen – oder angeblich alle denken und alle sagen –, ein solcher Mensch kann geradezu gottesunfähig werden. Denn Gott verlangt eben Teilnahme, Interesse, er verlangt lebendiges Hinzugehen. Wer dagegen in Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit versinkt, der kann Gott nicht finden, sondern wird ihn bestreiten.
Schließlich ist auch der Stolz eine Wurzel der Gottesleugnung. Der Stolze meint, mit sich selbst auszukommen. Er erkennt keine Werte über sich an. Er braucht sie nicht, wie er meint, und er fürchtet in Gott die Überlegenheit. Er hat die Angst, daß seine Freiheit durch Gott beschränkt werden könnte, und darum leugnet er Gott. So sagt beispielsweise Bakunin: „Wenn es Gott gäbe, müßte man ihn vernichten.“ Oder Friedrich Nietzsche: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein? Also gibt es keine Götter.“
Dem Stolz beigesellt ist der Haß. Der Haß ist eine ursprüngliche Gegenbewegung gegen Gottes Heiligkeit. Gott ist anders als der Mensch, und er beunruhigt den Menschen mit seinen Forderungen und mit seinem Wesen. Durch diese Beunruhigung fühlt sich der Mensch unbehaglich. Die Unbehaglichkeit erzeugt Widerwillen, und der Widerwille führt zum Haß, zum Vernichtungswillen gegenüber Gott. Der Haß gegen Gott ist stärker als jeder andere Haß, weil der Wert höher steht als jeder andere Wert. Der Haß gegen Gott ist deswegen intensiver, weil Gott dem Menschen näher steht als jedes andere Wesen. In ihm leben wir ja, bewegen wir uns und sind wir. Und weil Gott dem Menschen näher steht, muß der Mensch eine stärkere Gegenbewegung machen, um sich gegen Gott zu wehren. Diese Gegenbewegung ist besonder stark gegen den in Christus erschienenen Gott. Hier ist Gott dem Menschen gleichsam auf den Leib gerückt. Und deswegen ist der Haß in der christlichen Epoche der Geschichte von größerer Intensität als in der vorchristlichen Periode. Der Mensch muß eine stärkere Gegenbewegung machen, um sich des in Christus nahegekommenen Gottes zu erwehren als gegenüber den Göttern in der vorchristlichen Zeit.
Das sind, meine lieben Freunde, die wesentlichen Gründe für die Leugnung Gottes: das Absinken ins Triebhafte, die Trägheit des Herzens, die sich in vielfacher Weise kundtut, in der Ausgegossenheit des Geistes, im unbändigen Gerede, in der Unstetheit des Ortes und der Zeit. Und schließlich Stolz und Haß, das schlechte Gewissen, das den Menschen dazu bringt, Gott zu leugnen. Ob aber alle diese Erscheinungen genügen, um im Menschen jede Erinnerung an Gott zu töten, ob sie ausreichen, um den Menschen wirklich gottfrei oder gottlos zu machen, daran ist ein Zweifel berechtigt. Denn wir haben einmal Zeugnisse von Menschen, die gottlos waren oder sich als gottlos bezeichneten, daß sie in einer bestimmten Stunde ihres Lebens, etwa in Gefahr, sich doch Gottes erinnert haben. Außerdem gibt es immer wieder Zeugnisse literarischer Art, die uns zweifeln lassen, ob die sogenannten Gottlosen sich wirklich von jeder Gottesvorstellung befreit haben. Um noch einmal den erwähnten Friedrich Nietzsche sprechen zu lassen: „Wer wärmt mich, wer liebt mich noch? Gebt heiße Hände! Gebt Herzens-Kohlenbecken! Du Jäger hinter Wolken! Darniedergeblitzt von dir, du höhnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt – so liege ich, biege mich, winde mich, gequält von allen ewigen Martern, getroffen von dir, grausamster Jäger, du unbekannter – Gott! Was willst du? Sprich! Du drängst mich, drückst mich. Ha! Schon viel zu nahe! Weg! Weg! Du hörst mich atmen, du behorchst mein Herz, du Eifersüchtiger – worauf doch eifersüchtig? Weg! Weg! Wozu die Leiter? Willst du hinein, ins Herz, einsteigen, in meine heimlichsten Gedanken einsteigen? Gib Liebe mir – wer wärmt mich noch? Wer liebt mich noch? Gib heiße Hände, gib Herzens- Kohlenbecken! Gib mir, dem Einsamsten, den Eis, ach! siebenfacher Eis nach Feinden selber, nach Feinden schmachten lehrt, gib, ja ergib, grausamster Feind, mir – dich! – Davon! Da floh er selber, mein letzter, einziger Genoß, mein großer Feind, mein Unbekannter, mein Henker-Gott. – Nein – komm zurück mit allen deinen Martern! Zum Letzten aller Einsamen o komm zurück! All meine Tränenbäche laufen zu dir den Lauf, und meine letzte Herzensflamme – dir glüht sie auf! O komm zurück, mein unbekannter Gott! Mein Schmerz! Mein letztes – Glück!“
Amen.