Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Gott erkennen (Teil 7)

23. Oktober 1994

Das Gewissen als Beweis für die Existenz Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Ein Missionar in Indien fragte einmal einen alten Heiden: „Wenn euch jemand das Geld wegnimmt, ist das eine Sünde?“ „Ja“, gab der Heide zur Antwort. „Wenn einer einen anderen umbringt, ist das auch eine Sünde?“ „Ja selbstverständlich“, entgegnete der Heide. So ging der Priester die meisten Gebote mit ihm durch, und schließlich sagte er zu dem Heiden: „Ja, woher wißt ihr denn, daß das eine Sünde ist?“ „Gott hat es uns gesagt.“ „Aber Gott hat doch nicht zu euch gesprochen.“ Da verwies der Mann auf seine Brust und sagte: „Da drin! Da drin!“ Er verwies damit auf die Stimme seines Gewissens.

Es ist heute meine Absicht, vom Gewissen als einem Gottesbeweis zu sprechen. Wir müssen zunächst wissen, was das Gewissen ist. Wir unterscheiden die Gewissensanlage und den Gewissensspruch. Die Gewissensanlage ist die Fähigkeit und Leichtigkeit, die Grundsätze der Sittlichkeit zu erkennen. Der Gewissensspruch ist ein Urteil der praktischen Vernunft über die Sittlichkeit, also die Erlaubtheit oder Unerlaubtheit, des jeweiligen Handelns. Gewissensanlage – Gewissensspruch.

Von dem Gewissen sagt nun der Apostel Paulus, daß es auf Gott zurückgeht. Er sagt es im Römerbrief gegenüber den Juden. Die Juden waren stolz auf ihr geoffenbartes Gesetz und verachteten die anderen, die dieses Gesetz nicht besaßen. Gegenüber diesem Stolz der Juden verweist der Apostel auf das natürliche Sittengesetz, das dem Menschen offenbar wird durch sein Gewissen. „Wenn nämlich die Heiden, die das alttestamentliche Gesetz nicht haben, von Natur aus die Vorschriften des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die das alttestamentliche Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß der Inhalt des alttestamentlichen Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, indem ihnen ihr Gewissen Zeugnis gibt und untereinander die Gedanken sich anklagen oder verteidigen an dem Tage, da Gott richten wird das Verborgene des Menschen nach meiner Heilsverkündigung durch Jesus Christus.“

Die Heiden vermögen das Sittengesetz zu erkennen, weil sie ein Organ haben, um es zu erkennen. Und dieses Organ nennt man Gewissen. Das Gewissen ist nicht das Gesetz, sondern das Gewissen ist die Empfangsstelle für das Gesetz. Man kann das Gewissen mit einem Radio, mit einem Rundfunkempfänger, vergleichen. Der Rundfunkempfänger erzeugt nicht die Geräusche, er nimmt sie auf. Er reagiert nur auf das, was der Sender, der in Frankfurt oder in Baden-Baden steht, ihm zuträgt.

Das Gewissen nun als Beweis für Gott. Wir wollen drei Sätze aufstellen, um uns diese Wahrheit vor Augen zu führen, nämlich erstens: Es gibt ein Sittengesetz, das die Heiden, die das alttestamentliche Gesetz nicht haben, durch ihr Gewissen erkennen. Zu allen Zeiten und bei allen Völkern regt sich eine Stimme in der Brust der Menschen, die sagt: „Tu das! Tu das nicht!“ Eine Stimme, die befiehlt, nicht schmeichelt; eine Stimme, die fordert und nicht bittet; eine Stimme, die unbedingt ist und sich nichts abmarkten läßt.

Die Sagas, die uralten heidnischen Berichte aus den skandinavischen Ländern, wissen von der Existenz und vom Wirken des Gewissens zu erzählen. Eine Saga berichtet, wie ein Ehepaar einen Mordbrand durchführte. Dieses Ehepaar hat die Nachbarn ermordet, das Haus angezündet und so die Spuren seiner Tat vertuscht und noch dazu den Verdacht auf einen nahen Verwandten gelenkt. Nichts kam heraus, alles blieb verborgen. Das Thing, das zusammentrat, verurteilte den Unschuldigen zum Tode. Er wurde gebunden auf ein Boot gesetzt und in das Meer hinaus entlassen. Es vergingen viele Jahre. Aber eines Tages trat Sigrid, die Frau, vor den Mann hin und sagte: „Ich kann es nicht mehr tragen. Du weißt, was zwischen uns ist. Ich kann es nicht mehr tragen! Ich habe gehört, daß in England eine Lehre ist von einem weisen Christ, der allen vergibt, die reuig zu ihm kommen und seinen Glauben annehmen. Ich will hinüberfahren nach England und zu diesem weisen Christ gehen und mich von ihm von meiner Schuld befreien lassen.“ Sigrid tat, wie sie angekündigt hatte, und sie kam befriedet, mit einem befriedeten Gewissen, aus England zurück.

Wahrhaftig, meine Freunde, es gibt ein Gesetz, ein Sittengesetz, das auch die Heiden, die die alttestamentliche Offenbarung nicht haben, erkennen können mit der Kraft ihres Gewissens.

Der zweite Satz lautet: Dieses Sittengesetz, das durch das Gewissen offenbar wird, ist ein Beweis für Gottes Existenz. Denn dieses Sittengesetz, das uns das Gewissen vor Augen stellt, ist im Inhalt identisch mit dem alttestamentlichen Gesetz. Die Gebote des natürlichen Sittengesetzes sind keine anderen als die des Dekalogs, des Zehn-Gebote-Gesetzes vom Sinai. Das Sittengesetz, das uns durch das Gewissen nahegebracht wird, verlangt nach einem Gesetzgeber. Wo ein Gesetz ist, muß ein Gesetzgeber sein. Wo eine Schrift ist, muß ein Schreiber sein. Dieses durch das Gewissen erkannte Sittengesetz weist also auf den Gesetzgeber, auf den obersten, souveränen Gesetzgeber, hin, denn es ist unbedingt, läßt sich nichts abmarkten. Es fordert, und es schmeichelt nicht, es gebietet, und es bittet nicht. Dieses Gesetz, das uns im Gewissen offenbar wird, deutet auf die Existenz Gottes hin, der es in unser Herz geschrieben hat. „Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich; zeigt uns, was zu ergreifen ist und was zu fliehen.“ Niemand kann sagen, er habe Gott gesehen, aber auch keiner, er habe ihn nicht erfahren! Erfahren in dem Spruch seines Gewissens.

Und schließlich der dritte Satz: Dieses Sittengesetz, das uns im Gewissen offenbar wird, zeigt uns Gott als den Heiligen und Gerechten. Aus der Natur erkennen wir Gott als den Mächtigen, als den Allmächtigen, als den Schöpfer, als den Herrn. Aber das Gewissen sagt uns noch mehr über Gott. Es sagt uns, daß Gott ein heiliger und gerechter Schöpfer ist. Denn das Sittengesetz, das uns im Gewissen nahegebracht wird, wehrt allem Bösen und gebietet alles Gute. Das Gesetz sagt etwas aus über den Gesetzgeber. Aus dem Gesetz kann man ablesen, wie ein Gesetzgeber ist und wie er denkt. Und da das Sittengesetz, das uns im Gewissen offenbar wird, nur Heiliges und Gerechtes gebietet, muß der Gesetzgeber heilig und gerecht sein. Er verabscheut das Böse und liebt das Gute. „Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich; zeigt uns, was zu ergreifen ist und was zu fliehen.“

Nun kommen aber die Einwände. Wir wissen, meine lieben Freunde, daß das Gewissen verbildet werden kann. Einflüsse von außen, Verführung, falsche Lehren, der Druck aus dem Inneren, Scham, Prestige, Angst, Leidenschaften, Laster können das Gewissen und damit das Gesetz, das das Gewissen heranträgt, verkehren, verunstalten, verbilden. Der Mensch ist eben häufig hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Nutzen, und wenn er meint, daß der Nutzen ihm mehr einbringt als die Pflicht, dann neigt er sich leicht dem Nutzen zu, gegen die Stimme seines Gewissens, und bringt die Stimme in der eigenen Brust zum Schweigen.

Soeben haben wir ein erschütterndes Beispiel dieser Verkehrung erlebt, als die drei Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz Kommunionunwürdige zur Kommunion zulassen wollen. Ein solches Gewissen solle man „respektieren“. Ein solches Gewissen muß man aufklären! Ein solches Gewissen muß man zur Wahrheit führen und nicht respektieren! Eine derartige Aufforderung ist eine Verkehrung der gesamten katholischen Lehre! Und andere haben sich ihnen angeschlossen, der Speyerer Bischof, der Trierer Bischof, der Limburger Bischof. Ja, was ist denn eigentlich los in unserer Kirche?

Und wiederum, meine lieben Freunde, hat der Heilige Vater das Wort ergriffen, die Stimme Petri ist laut geworden, die Stimme der Wahrheit, die Stimme der Lehre, die Stimme Christi, und hat die Bischöfe in die Schranken verwiesen. Gott sei gedankt! Gott sei gedankt für diesen Papst! Nein, meine lieben Freunde, das Gewissen muß gebildet werden, aber nicht verbildet. Das Gewissen muß die Stimme der Wahrheit sein und nicht der Unwahrheit. Das Gewissen muß empfangen, was Gott aussendet, und nicht, was das eigene törichte Herz eingibt.

Es gibt ein Sittengesetz, das auch die Heiden kennen, erkennen können, welche die alttestamentliche Offenbarung nicht haben. Dieses Sittengesetz, das im Gewissen offenbar wird, im recht gebildeten Gewissen, im nicht verdorbenen Gewissen, verweist auf Gott, bezeugt seine Existenz, so wie ein Gesetz den Gesetzgeber bezeugt. Und es sagt uns etwas über Gott; daß er ein heiliger und gerechter Gott ist, der das Unrecht verabscheut und das Recht liebt. „Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich; zeigt uns, was zu ergreifen ist und was zu fliehen.“

Einmal aber wird die Stimme Gottes laut werden, nämlich beim Gericht. Beim Gerichte wird es sich zeigen, was wir mit unserem Gewissen gemacht haben, ob wir es gebildet oder verbildet haben, ob wir ihm gehorcht oder ob wir ihm zuwidergehandelt haben, ob wir das Sittengesetz Gottes mit dem Empfänger, den er in die Brust gesenkt hat, aufgenommen haben, oder ob wir auf das törichte Gezischel der Welt gehört haben. Wer Ohren hat, zu hören, der höre!

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt