Predigtreihe: Die Tugenden (Teil 3)
10. Mai 1987
Die Tugend der Geduld
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben uns vorgenommen, die Forderungen, die das neue Leben, das wir zu Ostern empfangen haben, an uns stellt, zu betrachten. Wir wollen die Tugenden uns vor Augen stellen, die die österliche Gnade von uns verlangt. Die erste Tugend war die Demut, die zweite war der Gehorsam.
Die dritte, die wir heute bedenken wollen, ist die Geduld. Geduldig ist, wer aus Liebe zu Gott bei allen Widerwärtigkeiten des Lebens die Ruhe des Geistes sich bewahrt. Geduldig muß man also sein um Gottes willen. Gott selbst ist geduldig, er erträgt die Sünder, er erträgt uns. Gott selbst ist geduldig, er erträgt auch diejenigen, die mit erhobener Hand gegen ihn sündigen, die Spötter und die Lästerer. Geduldig war Christus, geduldig waren die Heiligen des Alten Bundes, Hiob und Tobias. Sie waren geduldig um Gottes willen, aus Liebe zu Gott.
Die Geduld muß man bewahren bei allen Widerwärtigkeiten des Lebens. Solche Widerwärtigkeiten sind in erster Linie Krankheiten und Unglücksfälle, der eigene Rückfall in die Sünde, viele und schwere Berufsarbeit. Wenn wir die Leiden, die uns verordnet sind, die Kreuze, die unsere Schultern drücken, recht betrachten, dann verstehen wir sie als Gnade Gottes. Gott hat unser Kreuz ausgemessen, er hat es gewogen, und es ist weder zu breit noch zu schwer. Er hat es für unsere Schultern bereitet, und wir sollen die Leiden, die wir tragen, nicht verwünschen oder gar verfluchen, sondern wir sollen sie als von Gott kommend, ja als Gnade Gottes auf unsere Schultern nehmen.
Das gilt vor allem bei Widrigkeiten, die uns in unserem täglichen Leben begegnen: beschwerliche, mühsame, drückende Arbeit, Menschen, die uns belasten und belästigen. „Einer trage des anderen Last, so erfüllt ihr das Gesetz Christi!“ Also nicht bloß die eigene Last, nein, auch die Last des anderen sollen wir noch tragen. Einer trage des anderen Last! Und natürlich auch die Last, die der andere ist, und jeder Mensch kann eine Last werden.
All das sind Bürden, die Gott uns schickt und bei denen sich unsere Geduld bewähren muß. Sie muß sich auch bewähren beim Rückfall in die Sünde. Das ist gerade für einen strebenden Menschen oft sehr deprimierend, wenn er erlebt von Gewissenserforschung zu Gewissenserforschung, von Beicht zu Beicht, daß die Sünden, Fehler und Nachlässigkeiten, die er doch ablegen, die er doch meiden möchte, gegen die er doch kämpft, immer wieder da sind. Da sind sie wieder, die er vor vier Wochen, vor sechs Wochen, vor einem halben Jahr bekannt und bereut hat. Ja, wir sind eben menschlicher Natur und wir haben nicht die Natur von Engeln, und so fallen wir immer in dieselben Fehler zurück, auch wenn wir sie ehrlich bereut haben und sie aufrichtig bekennen. Das gehört zu den Plagen des Lebens, bei denen unsere Geduld gefordert ist.
Die Geduld zeigt sich in der Ruhe des Geistes. Die Ruhe des Geistes ist nicht ausweglos, sie klagt nicht übermäßig, sie will nicht beklagt werden. Eines ist sicher, meine lieben Freunde: Kein Leid wird dadurch geringer, daß jemand in Wut und Zorn ausbricht. Der Unwille macht jedes Leid nur schwerer. Es wird im geringsten nichts geändert, wenn jemand gegen die Unbill mit geballten Fäusten gleichsam angeht. Dies verdoppelt die Beschwernis, weil die eigene Ungebärdigkeit noch zu dem Leid dazukommt. „Der Zorn tut nicht, was gerecht ist vor Gott,“ so sagt einmal der Apostel. Auch die übermäßige Traurigkeit ist eigentlich nur eine Last, die wir uns selbst auflegen. Es gibt eine gottgefällige Traurigkeit, und das ist die Trauer um ewige, um übernatürliche, um gnadenhafte Dinge. Wir dürfen trauern, daß wir nicht die sind, die wir nach Gottes Willen sein sollen, aber wegen irdischer Dinge sollte man nicht zuviel trauern. Irdische Dinge kommen und gehen, und irdische Dinge werden durch die Traurigkeit, die wir an sie hängen, nur noch schwieriger.
Man soll sie auch nicht übermäßig beklagen, diese Lasten des Lebens. Ich sage: nicht übermäßig. Wir dürfen klagen. Wir dürfen bei einem Vertrauten, bei einem Freunde, bei einem guten Menschen unsere Not aussprechen, das ist keine Sünde. Christus hat auch geklagt, und die Heiligen des Alten Bundes haben geklagt, Hiob hat geklagt. Aber sie haben nicht übermäßig geklagt, nicht über Kleinigkeiten, nicht zu lange und nicht zu heftig – das heißt übermäßig klagen. Und wenn wir unsere Freunde immer wieder mit Klagen heimsuchen, dann werden wir ihnen lästig. Die Menschen ertragen nur ein gewisses Maß an Anteilnahme. Deswegen klagen wir Gott, was wir zu klagen haben, aber verschonen wir möglichst die Menschen mit unseren Klagen! Und wollen wir auch nicht beklagt werden! Ich weiß, wir gehen gewöhnlich zu einem Menschen, damit er mit uns klagt oder uns beklagt, damit er Mitleid zeigt. Der wahrhaft gottverbundene Mensch klagt zuerst und vielleicht ausschließlich Gott, weil er weiß, daß seine Klagen nirgends besser aufgehoben sind als im Herzen unseres Heilandes.
Geduldig ist, meine lieben Freunde, wer aus Liebe zu Gott bei allen Widerwärtigkeiten des Lebens die Ruhe des Geistes bewahrt. Wer geduldig ist, der wird viele Tugenden erwerben. Wieso ist die Geduld die Wurzel und die Wächterin der Tugenden? Weil alle Tugenden schwer zu erreichen sind; für alle Tugenden braucht es Geduld, um sie zu erwerben. Man gewinnt sie nicht von einem Tag auf den anderen, ja nicht einmal in einem Jahr. Es braucht lange Zeit, um eine Tugend zu erringen. Die Geduld hilft, die Hindernisse, die sich dem Erwerb der Tugenden entgegenstemmen, zu überwinden. Wer in kleinen Dingen geduldig ist, der bekommt Kraft, die größeren Dinge zu tragen. Und so ist die Geduld tatsächlich die Wurzel und die Wächterin der Tugenden.
Wenn wir Geduld erwerben wollen, meine lieben Freunde, dann empfiehlt es sich immer, auf unseren Herrn und Heiland zu schauen. Er ist ja nicht wie ein Arzt, der etwas verschreibt, was er selbst nicht anwendet, sondern dieser Arzt hat alles vorher ausgeprobt, was er uns verordnet. Er hat die Geduld bewiesen, Geduld mit den wankelmütigen Massen, Geduld mit den unverständigen Aposteln, Geduld vor allem in seinem Leiden. „Da er gescholten wurde, schalt er nicht wieder, da er litt, drohte er nicht“, heißt es im ersten Petrusbrief. Er wurde nicht ungeduldig, er ist nicht ausgebrochen, er hat seine Feinde nicht verwünscht oder verflucht, sondern er hat sterbend für sie gebetet. Er hat sie zu entschuldigen versucht: „Vater, verzeih' ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!“ Also: Lernen wir von unserem Herrn und Heiland die Geduld, die wir für unser Leben brauchen!
Der heilige Franz von Sales traf einmal einen Knaben, der auf seinem Rücken einen Krug mit Wasser trug. Oben auf dem Wasser schwamm ein Stück Holz. Da fragte Franz von Sales den Knaben: „Warum trägst du das Holz in deinem Wasser?“ „Das habe ich deswegen darin,“ gab der Knabe zur Antwort, „damit das Wasser nicht überschwappt.“
Verstehen Sie den Sinn dieser Begebenheit? Wir sollen das Holz, das Kreuzesholz auf unseren Leib legen, und an diesem Kreuzesholz werden wir die Geduld lernen können, die natürliche Ini-tiativen uns nicht zu verschaffen vermögen.
Lieber Herr Jesus Christus, lehre mich Geduld mit den Leiden und Widerwärtigkeiten meines Lebens, mit den Menschen meiner Umgebung, mit mir selbst! Geduldiger Jesus, schenke mir deine Geduld!
Amen.