Predigtreihe: Werke der Barmherzigkeit (Teil 1)
7. Dezember 1986
Die Werke der leiblichen Barmherzigkeit
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Es gibt unter Menschen eine Weise der Beurteilung, die sich nach dem Vermögen richtet. Der Wohlhabende, der Reiche ist angesehen, der Arme, der Bedürftige, ist verachtet. Diese Sicht ist nicht richtig. Es ist nämlich nicht der Besitz der Güter, der uns zum Heil dient, sondern der Gebrauch, den wir von den Gütern machen, die Gott uns beschert hat. Das macht die Tugend aus. Reichtum und Wohlhabenheit als solche sind ethisch neutral. Sie sind nicht schlecht, wie eine bestimmte politische Richtung behauptet. Sie sind aber auch nicht gut, wie etwa der Calvinismus lange gelehrt hat, der in dem Erfolg, in dem wirtschaftlichen Erfolg den sichtbaren Segen Gottes erkennen wollte. Wir sind heute klüger als eine Zeit, die in der Anhäufung von Schätzen in jedem Falle Gottes Auserwählung wirksam sah. Wir wissen, daß Reichtum auch durch Ausbeutung gewonnen werden kann. Also nicht der Besitz von Gütern macht angenehm vor Gott, sondern ihr rechter Gebrauch. Deswegen warnt auch der Herr, sich Schätze zu sammeln auf Erden. „Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, die Rost und Motten verzehren, wo der Dieb kommt und sie stiehlt, sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Rost noch Motten sie verzehren können, wo ein Dieb nicht einbrechen und stehlen kann!“
Der oberste Herr allen Besitzes ist Gott. Er ist der wahrhafte Souverän dieser Erde und der ganzen Welt, und was uns übertragen, was uns zugefallen ist, das ist uns lediglich als Verwaltern anvertraut. Von Verwaltern wird verlangt, daß sie treu erfunden werden. Sie müssen das, was ihnen anvertraut ist, gewissenhaft nach Gottes Geboten verwenden. Wir haben also bei dem Gebrauch unserer Güter uns nach Gottes Willen zu richten. Eines Tages wird es heißen: „Verwalter, gib Rechenschaft von deiner Verwaltung!“ Dann wird es sich zeigen, was wir mit den irdischen Gütern getan haben. Und da hat uns der Herr einen Fingerzeig gegeben. Er hat nämlich uns gelehrt, daß niemand die Seligkeit erringen wird, der nicht barmherzig war, der nicht anderen mit seinen irdischen Gütern Barmherzigkeit erwiesen hat.
Es ist immer etwas Ergreifendes, wenn das Evangelium erklingt vom Weltgericht, wo der Herr die einen auf die rechte und die anderen auf die linke Seite stellt. Zu denen auf der rechten Seite wird er sagen: „Ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist; ich war durstig, und ihr habt mich getränkt; ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet; ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt; ich war gefangen, und ihr seid zu mir gekommen; ich war krank, und ihr habt mich besucht.“ Da werden die auf der rechten Seite Befindlichen erstaunt fragen: „Herr, wann haben wir dich krank oder hungrig oder durstig gefunden?“ Und der Herr wird antworten: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“
Umgekehrt wird er zu denen auf der linken Seite sprechen: „Weichet ihr Verfluchten in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist! Ich war hungrig, und ihr habt mich nicht gespeist; ich war durstig, und ihr habt mich nicht getränkt; ich war fremd, und ihr habt mich nicht beherbergt, ich war im Gefängnis, und ihr seid nicht zu mir gekommen.“ Auch diese werden erstaunt fragen: „Ja, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder im Gefängnis gesehen?“ Und der Herr wird ihnen antworten: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan!“
Aus diesen ergreifenden Worten unseres Heilandes ergibt sich, daß das Gericht nach den Werken ergeht und daß es zuerst die Werke der Barmherzigkeit sind, die zählen im Gericht. Werke der Barmherzigkeit, der leiblichen Barmherzigkeit kann jeder verrichten, der Reiche wie der Arme. Vom Reichen, dem viel gegeben ward, wird auch viel erwartet werden. Der Arme, der wenig besitzt, kann von dem Wenigen Gutes tun. Das Scherflein der Witwe, das wunderbare kleine Scherflein der Witwe im Tempel hat den Herrn zu einem Ausruf der Begeisterung und der Dankbarkeit veranlaßt. „Sie hat mehr getan – aus ihrem kleinen Einkommen – als andere, die viel in den Kasten im Tempel geworfen haben.“ So sagte er seinen Jüngern.
Unbarmherzigkeit wird mit ewiger Strafe vergolten werden. Unbarmherziges Gericht wird über die Unbarmherzigen ergehen. Der Herr hat nicht umsonst das Gleichnis vom reichen Prasser vorgetragen, der in der Hölle begraben wurde, weil er kein Auge und kein Ohr und keine Hand für seine armen Mitbrüder gehabt hat.
Wir unterscheiden leibliche und geistliche Werke der Barmherzigkeit. Werke der Barmherzigkeit heißen sie, weil sie aus dem Mitleid, aus dem Erbarmen mit der geschundenen, gefallenen Kreatur hervorgehen. Die leiblichen Werke der Barmherzigkeit lauten: Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte bekleiden, Fremde beherbergen, Gefangene besuchen, Kranke aufsuchen und Tote begraben. Das sind die sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit. Und für jedes gibt es Beispiele aus der Heiligen Schrift oder aus der Heiligengeschichte oder aus unserem eigenen Leben. Durstige tränken: Im Johannesevangelium wird berichtet, wie die Frau am Jakobsbrunnen den Heiland tränkte. Hungrige speisen: Wir brauchen nur an die heilige Elisabeth zu denken, die den ganzen Getreidevorrat im Jahre 1215 austeilte, als eine Hungersnot ausbrach und die sich deswegen den Zorn ihrer Verwandten zuzog. Nackte bekleiden: Dafür gibt uns ein Beispiel der heilige Martin, unser Diözesanpatron. In Amiens hat er seinen Mantel geteilt mit einem armen Bettler. Fremde beherbergen: Nun, meine lieben Freunde, Martha und Maria haben den Herrn aufgenommen in ihr Haus, und noch heute wirken seit 600 Jahren auf dem großen Sankt Bernhard die regulierten Chorherren vom heiligen Bernhard, die dort die Pilger und die Wanderer, wenn sie in Gefahr geraten, aufsuchen, sie bei sich aufnehmen und sie erforderlichenfalls gesundpflegen. Nackte bekleiden: Jawohl, auch das ist eine wichtige Tätigkeit der Barmherzigkeit. Viele dieser Werke der leiblichen Barmherzigkeit müssen ja nicht immer durch eigenes Tun geschehen. Es ist heute, in der arbeitsteiligen Gesellschaft, möglich, das Vollbringen der Werke der Barmherzigkeit durch andere zu ermöglichen, indem man etwa Kleidung spendet oder indem man Geld zur Verfügung stellt. Auch das ist eine Möglichkeit, Nackte zu bekleiden. Gefangene besuchen: O ja, meine lieben Freunde, die Gefangenen warten, daß sie von der Gesellschaft, von ihrer Familie nicht aufgegeben sind. Natürlich haben viele von ihnen schlimme Taten verrichtet, natürlich haben sie Schande und Elend über ihre Familie gebracht, aber man darf auch solche Menschen nicht fallen lassen. Es ist Barmherzigkeit, sie aufzusuchen und ihnen Verständnis zu bezeigen. Dasselbe gilt für den Dienst an den Kranken. Es ist ja nicht immer angenehm, zu Menschen, die lange krank liegen, zu gehen und womöglich sie und ihre Umgebung zu belästigen. Aber es ist Barmherzigkeit, sich der Kranken anzunehmen, wie es die Kirche alle Zeit, zweitausend Jahre hindurch getan hat. Große Heilige, wie der heilige Aloysius und der heilige Vinzenz von Paul, stehen am Krankenbett und lehren uns und mahnen uns, die Kranken nicht zu vergessen. Tote begraben: Das kann auch ein Werk der Barmherzigkeit sein, in Zeiten, in denen die normale Beerdigungsweise nicht funktioniert – wir haben ja solche Zeiten erlebt! Aber auch heute können wir uns den Toten gegenüber barmherzig erweisen, indem wir sie zu Grabe geleiten, indem wir für sie beten, indem wir die Hinterbliebenen trösten. Joseph von Arimathäa und Nikodemus haben den Heiland bestattet. Die Bewohner von Naim geleiteten den Jüngling zu Grabe.
Leibliche Werke der Barmherzigkeit, meine lieben Freunde, sind auch den Fremden zu erweisen. Es ist notwendig, aber nicht immer leicht, Gastfreundschaft zu üben. Die Polen haben ein Sprichwort, das lautet: „Gäste und Fische stinken am dritten Tage.“ Das ist ein drastisches Wort, aber es ist etwas Wahres daran. Längere Zeit jemanden aufnehmen, das wird lästig. Aber auch darin ist die Barmherzigkeit unseres Herrn verborgen.
Über diese sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit, die die Lehre aufzählt, hinaus gibt es selbstverständlich viele andere. Veronika, die dem Heiland das Schweißtuch reichte, hat ein Werk der Barmherzigkeit geübt. Die Freiwillige Feuerwehr, die bereit steht, ihren Mitbürgern zu helfen, übt ein Werk der Barmherzigkeit. Ja jeder, der seinem Nächsten auch nur einen Trunk frischen Wassers reicht, übt ein Werk der Barmherzigkeit aus. Als wir im Mai 1945, meine lieben Freunde, in langen grauen Kolonnen, von russischen Soldaten bewacht, die Straßen entlangzogen – es war ein sehr heißer Mai 1945 –, da kamen aus den Häusern gute Frauen und boten uns Wasser. Aber nicht selten haben die russischen Soldaten die Kübel umgestoßen, damit wir das Wasser nicht erreichen sollten. Diese guten Frauen wollten an uns ein Werk der Barmherzigkeit tun.
Wir aber, meine lieben Freunde, wollen es uns zu Herzen nehmen, wollen die Nächstenliebe in uns erneuern, wollen uns erinnern, daß wir unter dem Namen Christi angetreten sind, um die Liebe zu Gott im täglichen Leben durch die Liebe zum Nächsten zu beweisen. „Alles, was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Kommt deswegen, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt in Besitz das Reich, das euch bereitet ist seit Anbeginn!“
Amen.