25. Mai 2025
Jesus, Mensch und Gott
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Jesu geistig-sittliche und religiöse Gestalt steht als etwas völlig Neues vor uns. Sie hat kein Analogon in der Menschheitsgeschichte, und sie kann nicht von ihrer Umwelt aus restlos begriffen werden. Es handelt sich im Christusglauben nicht um eine fortschreitende Verklärung, Vergöttlichung eines bloßen Menschen. Sondern um das Bekenntnis zu einem Wesen, das ganzer, voller, schlichter Mensch ist und bleibt, und dessen Geheimnis gerade darin liegt, in dieser seiner Menschennatur personhaft mit Gott verbunden zu sein. Zu diesem Glauben an das unversehrt Menschheitliche des Gottessohnes fehlt jede Parallele in der Religionsgeschichte. Der Gott Christus ist in seiner Verbundenheit mit dem Vater und dem Heiligen Geist der einzige, alleinige Gott des Himmels und der Erde. In diesem Paradox: ein ganzer wahrer Mensch und dennoch Gott besteht der Kern des christlichen Glaubens. Alle Bekenntnisse zu seinem wahrhaft übermenschlichen, göttlichen Wesen hat Jesus unterschrieben mit seinem Blute.
Jesus war ein überaus leistungsfähiger, abgehärteter und kerngesunder Mann. Schon dadurch unterscheidet er sich von anderen Religionsstiftern. Mohammed war ein kranker Mann, erblich belastet, in seinem Nervenleben zerrüttet, als er die Fahne des Propheten entrollte. Buddha war innerlich zerbrochen, verlebt, ausgelebt, als er die Welt verließ. Von Jesus hören wir niemals, dass er von irgendeiner Krankheit heimgesucht worden wäre. Alle Leiden, die über ihn kamen, waren Berufsleiden, Entbehrungen und Opfer, die ihm seine messianische Sendung auferlegte. Zwischen dem Stall von Bethlehem und dem Hügel von Golgotha vollendet sich ein Leben, das heimatloser und ärmer war denn das Leben der Vögel in den Nestern und der Füchse in den Höhlen. Jesus war kein Leisetreter, kein verschüchterter Schwächling. Er war eine Kämpfernatur, ein durchaus heroischer Charakter, das menschgewordene Heldentum. Das Heldische ist ihm das Selbstverständliche. Der geballte, konzentrierte Wille zu seinem Ziel, diese persongewordene Initiative und Tatkraft macht Jesus zum geborenen Führer. Er ist eine Herrennatur, eine Königsgestalt. Das Auftreten Jesu in Galiläa und Juda wurde von den Zeitgenossen als unerhört, noch nie dagewesen empfunden. Scheue Furcht hielt die Volksmassen gebannt. „Und sie fürchteten sich“, das war das erste, ursprüngliche Gefühl, das Jesu Erscheinung in ihnen auslöste (Mk 5,15.33.42; 9,15). Er war nicht wie einer von ihnen. Jesus wusste, dass er nicht war wie die anderen alle. Darum liebte er die Einsamkeit. Sobald er sich predigend und heilend an die Menge ausgegeben hatte, zog er sich auf sich selbst zurück und begab sich an einen anderen Ort oder auf den schweigenden Berg.
In seinem ganzen öffentlichen Leben ist kein Augenblick auffindbar, wo er überlegt, wo er unschlüssig schwankt, oder wo er gar ein Wort oder eine Tat rückgängig macht. Er ist der Mann des klaren Wollens, der zielsicheren Tat. Es war der Geist reiner, sich selbst vergessender, schöpferischer Liebe, der Jesus, den Mann heroischer Exklusivität, den großen Einsamen, von der Sonnenhöhe seiner leuchtenden Gedanken und Ziele hinab in den schmutzig grauen Alltag des Menschlichen, des Allzumenschlichen trieb. Immer wieder betonen es die Evangelisten: „Ihn jammerte des Volkes“ (Mk 8,2; Mt 9,36; 14,14; 15,32; Lk 7,13). Er hatte Mitleid mit ihnen, denn sie waren Schafe ohne Hirten (Mk 6,34). Er legt den Menschen ans Herz zu flehen: „vergib uns unsere Schuld“. Aber er persönlich kennt diese Bitte nicht. Niemals ist über seine Lippen der Flehruf ergangen: „Vater, vergib mir.“ Selbst als ihn die Schatten des Todes umnachteten, hörte man ihn nur rufen: „Vater, vergib ihnen“ (Lk 23,34). Er betet wie einer, der die Sünde nicht kannte. Er fragt seine Widersacher: „Wer von euch kann mich einer Sünde überführen?“ (Joh 8,46). Niemand. Noch niemals, seitdem wir von Gebeten und Opfern auf Erden wissen, hat ein Sünder, ein Frommer, ein Heiliger so gebetet wie er. So betet ein Mensch, dessen Natur mit der göttlichen Person vereinigt ist.
Er predigt wie einer, der Gewalt hat, wie einer, der das Gericht hat, ja, der das Gericht ist. Es hat nie Menschenworte gegeben, die es an Würde und Machtgefühl aufnehmen könnten mit den Worten und Gesten, in denen das göttliche Selbstbewusstsein Jesu aufblitzte. Die Volksscharen haben den Unterschied der Verkündigung Jesu zu der Predigt der Schriftgelehrten empfunden. „Er lehrte sie wie einer, der Macht hat“ (Mt 7,29). Das Neue, schlechthin Überlegene seiner Verkündigung wurzelt in einer unvergleichlichen Überlegenheit, in einer schrankenlosen Autorität seiner eigenen Person. Es gibt nichts Hohes, nichts Heiliges im Alten Bund, nicht einmal seinen Tempel, nicht einmal seinen Sabbat, ja nicht einmal sein Gesetz, was nicht seinem Willen und seiner Vollmacht unterstünde. „Ich sage euch: Hier ist ein Größerer denn der Tempel“ (Mt 12,6). Wohl hat Gott selbst den Sabbat eingesetzt, aber der Menschensohn ist auch „Herr über den Sabbat“ (Mt 12,8). Wohl hat der allheilige Gott durch seinen Diener Moses das Gesetz gegeben. Aber hier steht einer, der dieses Gesetz noch vollkommener als Moses erfasst, der es bis zu seinen heimlichsten Tiefen über Moses hinaus, ja, gegen Moses wahr macht und erfüllt. Nicht weniger als sechsmal korrigiert Jesus die Satzungen des Moses im Namen des neuen Geistes der Innerlichkeit und der Liebe. Dabei bezieht er sich nicht wie die alten Propheten auf eine besondere Vollmacht, die ihm zu Teil geworden wäre. Er handelt kraft eigenen Rechts. Niemals vernimmt man von ihm jenes Wort, mit dem sich die Propheten auf ihre Sendung durch Jahwe zu berufen pflegten: „So spricht der Herr.“ Man hört von ihm nur ein Wort der eigenen Verantwortlichkeit, des eigenen Gewissens und des eigenen Rechts: „Ich aber sage euch!“ (Mt 5,18.20.22 u.ä.). Beachtet man, dass für das jüdische Bewusstsein Tempel und Sabbat, Moses und Gesetz von Jahwe nicht wegzudenken waren, dass sich vielmehr in ihnen der Wille des allerheiligsten Gottes selber aussprach, so lassen sich Jesu Hoheitsansprüche nicht anders verstehen, als dass er sich in seinem Letzten und Tiefsten mit Jahwe völlig eins wusste. Er steht dort und gerade dort, wo für den jüdischen Glauben nur einer steht, Jahwe selbst.
Denselben Eindruck einer wesenhaften Einheit mit Gott erwecken die Wunder Jesu. Nicht bloß seine Jünger, sondern auch seine erbittertsten Gegner standen unter dem stärksten Eindruck seiner Krafttaten, und sie sind mit dem Leben Jesu unlösbar verflochten. Jesu Wunder geben sich vielfach nicht als Gebetserhörungen, sondern wie natürliche Ausstrahlungen seines eigenen Wesens. Nicht Vollmacht, sondern Allmacht ist hier. Für sein Bewusstsein sind Jahwe und das eigene Ich ein und dasselbe. Die bewusste Identifizierung mit Jahwe tritt besonders auffällig in der Heilung des Gichtbrüchigen zutage. In Kapharnaum brachte man zu Jesus einen Gelähmten. Weil man ihn der Volksmenge wegen nicht vor ihn bringen konnte, deckte man das Dach ab und ließ durch die Öffnung das Bett herab. Als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Einige Schriftgelehrte unter den Anwesenden dachten in ihrem Herzen: „Wie kann dieser so sprechen? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben außer Gott allein?“ Jesus erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: „Warum denkt ihr so in eurem Herzen? Was ist leichter: zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und wandle? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn auf Erden Macht hat, Sünden zu vergeben, so – dabei wandte er sich an den Gelähmten – sage ich dir: Steh auf, nimm dein Bett und geh nachhause“. Da stand der Gelähmte auf, nahm sein Bett und ging vor aller Augen weg. Alle Anwesenden gerieten außer sich, priesen Gott und sprachen: „So etwas haben wir noch niemals gesehen!“ Die Einmaligkeit ist das Kennzeichen der Machttaten Jesu. Als Jesus den Sturm und das Seebeben gestillt hatte, da gerieten die Jünger in Furcht und sprachen: „Wer ist doch dieser, dass ihm Wind und See gehorchen?“ (Mk 4,41)
Jesus weiß sich als die Erscheinung Jahwes selbst; seine erlösende, sündenvergebende Gewalt gründet gerade in seinem Einssein mit Jahwe. Von diesem Einssein mit Gott empfängt sein menschliches Wollen jene kühne Selbstverständlichkeit und Unbedingtheit in der Zielsetzung, jene innere Einheit und Geschlossenheit im Handeln und jene äußerste Bereitheit für das Göttliche und Heilige, die seine Gestalt kennzeichnen. Nur weil Jesus Gott ist, ist auch seine menschliche Gestalt die Erscheinung des Heiligen. Jesu Gottheit allein vermag das Wunder seiner heiligsten Menschheit restlos aufzuhellen. Im Einssein mit Jahwe gründet die Ausschließlichkeit und Wucht, mit der er die eigene Person in den Mittelpunkt seiner Verkündigung rückt. Nirgends in der Religionsgeschichte finden wir Ähnliches. Wo nur immer ein religiöses Bekenntnis durch geschichtliche Persönlichkeiten begründet wurde, waren die Stifter nicht ein Gegenstand, sondern nur seine Vermittler. Nicht die Person Buddhas, Mohammeds und des Moses war der eigentliche Inhalt des neuen Glaubens und Kultes, sondern vielmehr ihre Lehre. Man kann diese Lehre völlig von ihrer Person ablösen und für sich allein darstellen. Ganz anders im Christentum. Das ist das Christentum: Jesus Christus. Das ist die christliche Verkündigung: Jesus ist der Christus. Das ist sein letztes, höchstes Anliegen: dass die Seinen in innigster Fleisch- und Blutsgemeinschaft mit ihm verbunden bleiben. Von Anfang an forderte denn auch Jesus von seinen Jüngern nichts dringender als bedingungslosen Anschluss an seine Person, Nachfolge bis zum Äußersten, bis zum Tragen seines Kreuzes. Wo hat je ein bloßer Mensch seine Zeitgenossen, ja die ganze Menschheit zu solch äußerster Hingabe an seine Person verpflichtet, verpflichten dürfen? Hier bricht ein Bewusstsein durch, das alles geschaffene Maß übersteigt. Jesus tritt nicht bloß neben Gott und an die Seite Gottes. Er ist Gott selbst. Man kann sich gegen diese Tatsache innerlich auflehnen, man kann dagegen protestieren. Aber man kann sie nicht aus der Welt schaffen. Jesu Werk, sein Lehren und Tun, ist das Werk eines Menschen, der sich personhaft mit Gott eins weiß.
Ungeheuerlich ist die Vorstellung. Es hat einmal in historischer Zeit einen Menschen gegeben, der leiblich und geistig kerngesund, der mit einem ungewöhnlich nüchternen Blick für die Gegebenheiten des Daseins und mit einem außerordentlich geschärften Verstand begabt war; einen Menschen, der wie keiner auf Erden selbstlos und uneigennützig empfunden hat und dessen Leben in der Hingabe an die Armen und Gedrückten verglühte; und dieser gesunde, geistesklare, selbstlose Mensch wusste sich von Anfang an durch sein ganzes Leben hindurch als den einzigen vielgeliebten Sohn des Vaters, als den, der wie niemand den Vater erkennt. Noch mehr. Es hat einmal in historisch kontrollierbarer Zeit einen Menschen gegeben, der als Kind des jüdischen Volkes nur von einem einzigen Gott des Himmels und der Erde, von einem einzigen Vater im Himmel wusste, und der in tiefster Ehrfurcht vor diesem himmlischen Vater erschauerte; einen Menschen, dessen Brot der Wille eben dieses Vaters war; der von frühester Jugend an in guten wie in schlimmen Tagen nur diesen Willen suchte und liebte, dessen Leben ein einziges Gebet war; einen Menschen ferner, der mit diesem göttlichen Willen derart existentiell verbunden blieb, dass er in der Allmacht dieses Willens Kranke gesund und Tote lebendig machte; einen Menschen endlich, der sich sein ganzes Leben hindurch derart innig und ausschließlich diesem Willen ergab, dass er niemals davon abwich, dass ihn niemals auch nur das leiseste Sündenbewusstsein drückte, dass niemals der Ruf nach Buße und Vergebung über seine Lippen kam, dass er selbst im Sterben nicht für sich, sondern nur für andere um Vergebung flehte, und der aus der Innigkeit seiner Gottverbundenheit zu dem gequälten Menschen sprach: Deine Sünden sind dir vergeben. Und dieser Gott restlos verhaftete, vor Gott erschauernde, in Gott versunkene heilige Mensch spricht es sein ganzes Leben hindurch wie etwas Selbstverständliches und etwas Natürliches aus, dass er unser Weltenrichter, dass er der leidende Gottesknecht, ja, dass er Gottes einziger wesensgleicher Sohn sei: „Ich und der Vater sind eins.“ Seine Gegner machten den Vorwurf, dass er, Jesus, der Zimmermann von Nazareth, sich Gott gleichstelle. Und er ließ diesen Vorwurf auf sich beruhen; es war der gerechteste, der ihm je gemacht wurde. Jesu Gottheit allein vermag das Wunder seiner heiligsten Menschheit restlos aufzuhellen. Wer von Christus redet, ohne seine Gottheit und Wesenseinheit mit dem Vater zu bekennen, hat um Christus herumgeredet. Nur darum, weil er Gott ist, ist er die überragende Majestät im kirchlichen Leben, im bürgerlich-staatlichen Leben, im Völkerleben.
Amen.