30. März 2025
Worte der Anklage
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Christus hat in seiner Passion Worte der Anklage gesprochen. Zuerst hat er ein Wort der Anklage gesagt zu Pilatus. Der Statthalter fragte ihn allerlei Dinge, und Jesus antwortete kein Wort. Da wunderte sich Pilatus und fragte: „Warum antwortest du mir nicht? Weißt du nicht, dass ich Gewalt habe, dich zu kreuzigen, und Gewalt, dich loszugeben?“ Daraufhin antwortete Jesus ganz still und ruhig: „Du hättest keine Gewalt über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.“ Pilatus war ein feiger Mensch, ein ungerechter Richter. Und doch ist in ihm etwas, das von oben gekommen ist, etwas Göttliches. Es wird ja wohl keinen Menschen geben, in dem nicht etwas ist, das von oben stammt. In dem einen freilich ist es leuchtend, strahlend wie ein Gestirn Gottes, die göttliche Begnadung, die Berufung; Seelengröße und Seelenschönheit leuchten aus manchen Menschen, so dass alles Kleine davon überstrahlt und überdeckt wird. Freilich, in den meisten Menschen ist es umgekehrt. Da wird dieses Göttliche überdeckt, entstellt, beschmutzt durch das Menschliche, Kleinliche. Aber da ist es immer. Und wenn ein Mensch ganz versunken wäre und als ein ganz Verworfener erschiene, etwas Göttliches ist noch in ihm, sei es eine letzte Spur von gutem Willen oder auch nur der letzte leise Ruf der göttlichen Gnade. So war auch in Pilatus etwas Göttliches. Es war ihm Gewalt gegeben über den Heiland. Jesus hat das anerkannt. Er war ein legitimer Herrscher und ein legitimer Richter. Jesus hat das anerkannt, dass die legitime Autorität auf Gott und Gottes Willen zurückgeht, dass sie von oben stammt, und dass diese göttliche Autorität wohl zu unterscheiden ist von dem Menschen, der sie trägt. Dieser Mensch mag ein Schurke sein, und doch ist etwas Göttliches in ihm. Die Autorität, die er vertritt, ist mit Ehrfurcht zu behandeln.
Aber das war nicht alles, woran der Herr gedacht hat. Es war in dem Pilatus etwas ganz Besonderes. Dieser Mensch, dieser Heide, dieser Römer war dazu berufen worden, aus der Tiefe der Ewigkeit, war dazu geschaffen worden, um in dieser Stunde Gewalt zu haben über Jesus. Er sollte an diesem Tage das Schicksal des Gottessohnes in seiner Hand tragen. Dafür war er von Gott bestellt, berufen und auserwählt. Das war die große Stunde seines Lebens, das war die einzige Größe in seinem Leben. Dafür war er geschaffen worden, dass er in dieser Stunde Gewalt habe über Christus, den Herrn. Und er hat diese Gewalt, zu kreuzigen oder freizugeben, wie er es ausdrückt, gebraucht, um den Herrn zu kreuzigen, um ihn zurückzusetzen hinter alle Interessen. Das Größte, was ihm gegeben war, das Göttliche, die göttliche Stunde, für die er geschaffen war, hat er so gebraucht.
Er ist nicht der Einzige, der diese einzigartige Gewalt so gebraucht hat. Es hat viele Menschen gegeben und es gibt sie noch, denen Gewalt gegeben ist über Christus, den Herrn. So hat der Apostel Paulus schon mit Schrecken gesehen, dass den Sklaven in Korinth Gewalt gegeben war über den Glauben Jesu Christi; ob das Evangelium Jesu gelästert oder verherrlicht wird, das war diesen Sklaven in die Hand gegeben. So vielen Päpsten ist das Schicksal Jesu Christi und seiner Kirche in die Hand gegeben worden. Es war ihnen Gewalt gegeben über das Beste, was Christus geschaffen hat, über seinen Leib, seine Kirche, sein Reich. Und so vielen Priestern ist Gewalt gegeben über Jesus; dass sie seinen Leib tragen dürfen jeden Morgen in ihren Händen. Es ist ihnen Gewalt gegeben über den Sohn der Jungfrau. Und Gewalt ist gegeben jedem Christen, jedem Gläubigen, was aus Christus wird in dieser Welt, aus seiner Lehre, aus seinem Evangelium, aus seiner Gnade. Ob er verherrlicht wird, ob er verachtet wird, wie seine Eucharistie eingeschätzt wird, wie seine Kirche dasteht in der Welt und in der Weltgeschichte, das ist jedem von uns in die Hand gegeben. Das ist das Große, das ist das Göttliche in unserem Leben, dass uns Gewalt gegeben ist über Jesus, unseren Herrn. Von uns, die wir tagtäglich kommunizieren, von uns, die wir uns katholische Christen nennen, von uns, die wir den Glauben haben, von uns, die wir das Evangelium der Liebe bekennen, von uns hängt es ab, was man in dieser Welt von Christus denkt und hält. Wie weit er kommt oder nicht kommt, ob er freigegeben oder von neuem gekreuzigt wird, das hängt von jedem Christen zu seinem Teil ab. Es ist uns Gewalt gegeben über Christus. Wir sollen sie gebrauchen, aber nicht so, wie Pilatus sie gebraucht hat. Das ist eine furchtbare Anklage. Das Beste, was du hast, Pilatus, das einzig Göttliche, das hast du zur Kreuzigung des Sohnes Gottes gebraucht.
Aber der Herr fügt gleich hinzu: Darum hat der, welcher mich dir übergeben hat, die größere Schuld. Das ist eine Anklage gegen die Führer des Volkes. Sie wollten den Herrn töten, aus ihrem bösen Herzen, aus Hass, aus Herrschsucht, weil sie sich in ihrer Machtstellung bedroht sahen, weil sie hätten ihren Stolz ihm demütigen sollen; darum musste er weg. So haben sie das Volk aufgewiegelt. Sie sind herumgegangen und haben den Leuten zugeredet: „Gelt, du mein Lieber, dass du mir den Barabbas losbittest und nicht den Galiläer.“ Und durch ihr eigenes Beispiel haben sie gewirkt und durch die Ausnutzung der äußeren Abhängigkeit. Gewiss waren zahlreiche Bewohner von Jerusalem von diesen Führern wirtschaftlich abhängig; jeder wusste, was ihm bevorstand, wenn er ihnen nicht zu Gefallen war. So ist es ihnen gelungen, eine Stimmung, eine öffentliche Meinung zu erzeugen, indem sie die Massen in Bewegung setzten, indem sie die Massen mit Hass erfüllten. Und der Massenhass hat keine Vernunft mehr, hat keine Zügel und keine Mäßigung mehr; er wächst über alle Grenzen. Und sie haben den Massenblutrausch geweckt, die Grausamkeit der Masse. Die Masse ist immer grausam und hat es am liebsten, wenn ein Mensch zum Tode verurteilt und hingerichtet wird. Wenn einem Menschen dagegen Gnade widerfährt, ist die Masse enttäuscht und betrübt und sagt: Schade, dass ihn sein Schicksal nicht erreicht hat. So haben sie die Massenfurcht, die Massenpanik erweckt: Wenn wir den Galiläer nicht beiseiteschaffen, werden die Römer kommen und uns alle vernichten. So entstand eine öffentliche Meinung, und gegen eine solche öffentliche Meinung konnte auch Pilatus nicht aufkommen. Vor solch einem Schrei der Masse streckt auch ein sonst beherzter Mann die Waffen. So haben sie den Pilatus gezwungen, den Herrn zu töten. Darum haben sie die größere Schuld, und darum sind sie alle schuldig an diesem Justizmord, dem größten, der je geschehen ist; denn sie haben die Stimmung erzeugt, aus der heraus dieser Mord geschehen musste.
Das ist auch der Weg, auf dem wir alle immer noch schuldig werden, schuldiger als die Ausgestoßenen, die wir die Schuldigen zu nennen belieben. Wenn in einem Menschenherzen eine Leidenschaft ist, ungeordnete Habsucht, ungeordnete Sinnlichkeit, ungeordnete Herrschsucht, dann will solch ein Mensch das natürlich auch durchführen. Der Habgierige reißt alles an sich, was er erwischen kann; es ist ihm jedes Mittel recht dazu. Das wirkt ansteckend. Jeder meint, den anderen nachahmen zu müssen. So entsteht eine allgemeine Raubgier, eine allgemeine Gewissenlosigkeit. Oder einer hat eine neue Methode des Lebensgenusses erfunden. Gleich machen es andere nach, alle machen es nach, und jeder meint, es mitmachen zu müssen. So entsteht der furchtbare Zwang mitzumachen. Schuld sind alle, die aus ihrem bösen Herzen heraus sich auf diesen Weg begeben haben; alle tragen bei, diesen Zustand zu schaffen. Wenn ein Zustand allgemeiner Rücksichtslosigkeit geschaffen ist, dann fährt ein Blitz hernieder, ein Riesenskandal, ein Riesenverbrechen, ein Riesenkrieg. Dann fragt man: Wer ist schuld daran? Da sagt der eine oder andere: Gott sei Dank, dass ich nicht so bin wie dieser Betrüger, dieser Mörder, dieser Sexualverbrecher. Ach nein, du bist auch mit daran schuld, ja du hast die größere Schuld, weil du dazu beigetragen hast, eine solche Lage zu schaffen. Jene Armen, die schuldig geworden sind, die dann bestraft und ausgestoßen werden von der gleichen Gesellschaft, die sie erzeugt hat, werden von Christus in Schutz genommen: Ihr seid wohl schuldig, aber diejenigen haben die größere Schuld, die euch da hineingestoßen haben. Und wenn Christus heute noch unsichtbar durch die Welt geht, und er tut es, dann meint nicht, dass er bloß durch die Kirchen geht. Er geht auch durch die Gefängnisse, auch durch die Dirnengassen, auch durch Nachtasyle, durch die Lasterhöhlen und zu dem Abschaum der Menschheit, der dort hockt, und sagt zu ihnen: Ihr Armen, die euch da hineingestoßen haben, die haben die größere Schuld.
Eine dritte Anklage hat der Herr erhoben. Als er sein Kreuz zur Hinrichtungsstätte trug, sind ihm Frauen von Jerusalem begegnet; sie hatten ein gutes Herz und weinten bitterlich über sein Geschick. Da hat der Heiland sie angeredet und gesagt: „Ihr Frauen von Jerusalem, weinet nicht über mich; weinet über euch und eure Kinder. Denn siehe, es werden Tage kommen, da wird man die Mütter seligpreisen, die gar keine Kinder haben. Da werden sie zu den Bergen sagen: Fallet über uns, und zu den Hügeln: Bedecket uns. Denn ich sage euch, wenn das am grünen Holze geschieht, was wird dann am dürren geschehen!“ Das ist auch eine Anklage, und die Angeklagten sind nicht die guten Frauen, sondern das ganze Volk von Jerusalem. Als der Herr diese Frauen sah, da sah er sie als Vertreterinnen des ganzen Volkes. Da sah er die Masse, die vor einer Stunde gerufen hatte: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Er meinte das ganze Volk von Jerusalem, über das er einst geweint hatte: Ach, dass du es doch erkannt hättest an diesem deinem Tage! So aber bist du blind. Und was für eine Anklage erhebt er? Dass sie dürres Holz seien, ausgedörrt und leblos. Das Leben wurde ihm dargeboten, aber es wurde nicht aufgenommen. Der Stock ist ohne Leben und bleibt ohne Leben. Da fehlt es an Empfänglichkeit, da ist kein bereitwilliges Herz mehr. Da ist alles verhärtet, verstockt, versteinert, tot. Das ist wahrhaftig ein Unglück, größer als die äußere Passion Jesu Christi. Die Frauen weinen über sein Leid, aber sein Leid kommt gar nicht in Betracht gegen das furchtbare Mysterium der toten Seelen. Wenn man dieses Mysterium geschaut hat, kann man selbst über den leidenden Heiland nicht mehr weinen. Und das hat er geschaut. Die Frauen haben ihm nur den Anlass gegeben, es auszusprechen. Die Gedanken, die ihn unaufhörlich beschäftigen, sind düstere Gedanken um die Verhärtung seines Volkes. Das Licht kam in die Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht begriffen. Das Leben ward dargeboten, aber es wurde zurückgestoßen, verschüttet. Sie wollten nicht. Du hast nicht gewollt. Was für ein Mysterium ist das! Ein Mysterium, über das Jesus weint, das ihm noch die letzten Stunden seines Lebens verdüstert hat. Das Geheimnis, dass an einer Menschenseele alles verloren ist, Gnade und Liebe und Blut, alles ist verloren an ihr. Das ist das düstere Geheimnis seiner letzten Stunden. Aber es erweckt in ihm keinen Zorn mehr, sondern nur noch namenlose Traurigkeit. So klingt diese letzte Anklage, die eigentlich die furchtbarste ist, mehr wie eine Klage, eine Totenklage um sein totes Volk, um die gestorbenen Seelen, eine Totenklage um das verlorene Blut, um die vergebliche Liebe Gottes. Das ist der letzte große Schmerz seines Herzens, der ihn ans Kreuz begleitet. So ist die furchtbarste Anklage in ihm zu einer Klage und zu einem Leid geworden und wird noch zu einer letzten Erbarmung, zu einem letzten Rettungsversuch. Doch das wollen wir das nächste Mal betrachten, die Worte der Erbarmung, die Worte der Tröstung, die der ewige Richter noch zuletzt gesprochen hat.
Amen.