9. März 2025
Worte der Not
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir wollen in dieser Fastenzeit Jesu Leiden betrachten, aber weniger von außen, nicht so sehr sein körperliches Leiden, als vielmehr seinen inneren Kampf und seine innere Not, seine innere Kraft und seine große Heilandsliebe. Wir wollen hineinschauen in sein Herz und sehen, was er selbst über sein Leiden denkt, fühlt und sagt. So wollen wir die Worte bedenken, die er selbst gesprochen hat in seiner heiligen Passion. Heute wollen wir die Notrufe betrachten, die Christus erhoben hat. Zwei davon waren gerichtet an seinen Gott und Vater. Als aber sein Gott und Vater ihn nicht erhörte, hat er zwei Worte der Not gerufen zu den Menschen, zu uns.
Das erste Wort der Not hat Christus im Ölberggarten gesprochen. Als die Todesangst ihn überfiel, als er auf der Erde lag, zitternd an allen Gliedern, mutlos und kraftlos, als das Blut ihm aus den Poren drang und er keine Hilfe und keine Rettung mehr sah, da hat er gerufen und gefleht: „Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Warum rief er zum Vater? Er ging auch in dieser düsteren Stunde zum Vater, weil er immer zum Vater ging, weil er mit allem zum Vater ging, weil er sein ganzes Herz in jeder Stunde zum Vater trug, weil er alles zum Vater trug; alles, denn er war das Kind des Vaters. So trug er auch jetzt seine große Not zu ihm, eine Not, wie er sie noch nicht gehabt in seinem Leben, eine Schwäche, eine Todesangst. Er scheut und schämt sich nicht, vor seinen Vater zu kommen, es mag sein, wie es will. Der Vater war ihm der große Vertraute, der einzige Freund, die Heimat seiner Seele, wohin er alles trug. „Vater“, sagt er, „wenn es möglich ist.“ Ja, warum sollte es nicht möglich sein? Bei Gott ist doch alles möglich, Gott ist doch der Allmächtige, Gott kann doch jeden Kelch an ihm vorübergehen lassen? Wenn es nicht möglich ist, dann kann es nur daher kommen, dass hier ein Ratschluss Gottes steht, so groß wie das Wesen Gottes selbst. Was in der Heiligkeit und in der Liebe Gottes gegründet ist, das kann in der Tat nicht geändert werden, das steht ewig fest; es ist nicht möglich, daran zu rütteln. So ein Ratschluss liegt hier vor. Er denkt nicht daran, einen solchen Ratschluss umstoßen zu wollen; er sagt ganz demütig: „Vater, wenn es möglich ist, dann lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Er weiß schon: es ist nicht möglich. Er muss den Kelch des Leidens trinken. Er muss den Kelch der Freude, den er den Jüngern im Abendmahlssaal gereicht hat, füllen mit seinem eigenen Blut. An diesem Kelch kommt er nicht vorbei. Er muss ihn trinken.
So fängt er an, ihn zu trinken. Und da er schon bald an den Schluss gekommen ist, bis zur bitteren Neige, wird es ihm wieder zu schwer. Deshalb erhebt er nochmals einen Notruf zu Gott: „Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verlassen!“ Das ist ein Notruf am Ende. Das andere war ein Notruf am Anfang. Und was liegt dazwischen: das Trinken des großen, tiefen Kelches. Damals im Ölgarten war es noch der erste Tropfen. Jetzt aber ist er zur bitteren Neige geworden. Damals vor dem Vater war noch eine Süßigkeit in seinem Notruf. „Vater“, konnte er sagen, und sein ganzes Kinderherz hat da mitgesprochen, mitgebebt. Aber in diesem zweiten Wort ist es nur das Leid, das ruft; die Stimme des Kindes, des Vertrauens wird übertönt; man hört nur die große, furchtbare, bittere Klage, die das Leid aufwirft in der Seele. Es ist das Leid der Menschheit, das in dieser Stunde Herr wurde über Christus; das Leid der Welt vom ersten Tag der Schöpfung bis zum letzten Tag, das über ihn herfiel und ihn niederdrückte, so dass er sich nicht mehr rühren konnte; es war der Augenblick, wo seine Seele wehrlos am Boden lag, denn unser aller Not lag da auf ihm. Der Psalm, den er anfängt zu beten, fährt fort im zweiten Vers: „Mein Gott, den ganzen Tag rufe ich zu dir, und du erhörst mich nicht.“ So hat Jesus weitergebetet. Und in der Tat, so war es. Den ganzen Tag ruft er schon, von der Mitternachtsstunde an, wo er im Ölgarten lag, bis jetzt um die sechste, die neunte Stunde, wo schon die Abendschatten über den Kalvarienhügel herziehen. Den ganzen Tag schon ruft er zu Gott, und der Vater hat ihn nicht erhört. Es kommt keine Stimme vom Himmel, wie sie früher gekommen war, wo es geheißen hatte: „Das ist mein vielgeliebter Sohn.“ Es kommt keine Legion von Engeln. Es öffnet sich kein Himmel, kein Blitz fährt hernieder, die Feinde zu vertreiben. Er ist verlassen, preisgegeben seinen Henkern.
So geht er nun zu den Menschen. Wie ist das furchtbar, dass auch Christus, der leidende, den Weg zu den Menschen gehen musste. Schon im Ölgarten begann er diesen schweren Weg zu gehen. Da die Todesangst nicht von ihm wich und immer schwerer wurde, stand er auf, einmal, zweimal und kam zu seinen Jüngern. Aber die Jünger schliefen. Da flehte er: „Wachet doch mit mir! Ihr könnt nicht einmal eine Stunde mit mir wachen? Wenigstens eine Stunde sollt ihr mit mir wachen.“ Warum bittet er denn so? Es ist ihm ergangen, wie es allen leidenden Menschen geht: Sie schauen aus nach einem hilfreichen Menschen. Wenn er ihnen auch nicht helfen kann, wenn sie wenigstens einen Menschen sehen, wenigstens einen Menschen hören, wenigstens eine Hand fassen, in ein Auge schauen können, dann ist es schon leichter. So wird der Mensch in Not zum Menschen getrieben. Wenn nur noch etwas Lebendiges da ist, dann ist es schon ein bisschen leichter. So kommt der Heiland zu seinen Jüngern, um etwas Lebendiges zu spüren, in ihre Augen zu schauen, ihre Stimmen zu hören, wenn sie ihm auch nicht helfen können. Sie können seinen Kelch nicht trinken, sie können seine Todesangst nicht wegnehmen; aber hören möchte er sie, sehen möchte er sie. So bittet er sie, mit ihm zu wachen. Aber er hat nicht gefunden, was er suchte. Die Jünger schliefen und waren schlaftrunken und gaben ihm entweder gar keine oder eine schlafverworrene Antwort. Sie verstanden ihn nicht in seiner Not; denn er war zu weit weg. Wenn ein Mensch einmal ganz tief in seiner Not ist, ist er immer einsam. Wenn er dann um sich greift mit den Armen, um etwas Lebendiges zu fühlen, dann findet er nichts; denn er ist so tief drunten. Dort in der Tiefe ist jeder allein. Je größer ein Leid ist, um so einsamer muss es auch werden. An dem Hilfeflehen Jesu Christi sehen wir, dass sein Leiden wirklich auf den Grund gereicht hat, auf den Grund einer furchtbaren Einsamkeit, wo selbst seine Jünger, die es doch gut mit ihm meinten, nichts mehr verstanden.
Nochmals ging er zu den Menschen, um einen Notruf zu erheben, wiederum am Ende seiner Passion. Nachdem er den Notruf zu Gott erhoben hatte, ohne eine Erleichterung zu bekommen, ruft er am Kreuze wiederum zu den Menschen und sagt: „Mich dürstet.“ Ach, meine Freunde, so weit ist er jetzt gekommen. Jetzt verlangt er nicht mehr viel; jetzt verlangt er keine seelische Gemeinschaft mehr; jetzt verlangt er keine warme Hand und kein teilnehmendes Wort; nur noch „Ich dürste“ sagt er. In dem Notruf an Gott war die Stimme seiner Seele, die Stimme seiner Kindschaft übertönt von der Stimme des Weltleids, des Menschheitsleids; aber in diesem letzten Wort der Not, das er zum Menschen spricht, sagt seine Seele überhaupt nichts mehr; ist seine Seele stumm geworden; nur noch sein armer, zermarterter Leib erhebt die Stimme. Für seinen Leib noch fleht er um eine Erleichterung; seine Seele verlangt nichts mehr. Wenn es noch eine Verzweiflung des Leids nach der Verlassenheit gibt, dann ist sie hier, wo Jesus so anspruchslos geworden ist, nur noch einen Tropfen Flüssigkeit zu erbitten, sonst nichts.
Und siehe da! Da ward ihm nun Erhörung und Erfüllung, gerade jetzt. Ein Soldat wurde von Mitleid gerührt. Er tauchte einen Schwamm in einen essigsauren Wein und reichte ihm den Schwamm auf einem Stabe, und Jesus netzte seine Lippen an dem sauren Schwamm. Da ward ihm eine Hilfe. Es ward Mitleid erregt in dem Herzen eines Menschen, in dem Herzen eines Mannes. In einem harten Soldatenherzen glühte ein Schimmer der Liebe auf. Sollte nicht das vielleicht der Grund gewesen sein, warum der Vater ihn nicht erhört hat, warum der Himmel geschwiegen hat? Der Himmel wartet darauf, dass auf der Erde die Liebe erblüht, dass auf der Erde ein Schimmer von Mitleid erwacht. Denn so will Gott den Menschen helfen; durch die Menschen will er ihnen helfen, durch liebreiche, hilfreiche Menschen will er ihnen helfen, durch opferwillige, selbstlose Menschen will Gott helfen, auf keine andere Weise in der gewohnten Heilsordnung. Das ist wohl der Grund, warum Gott zu so viel Leid immer noch schweigt. Weil immer noch nicht die Liebe wach geworden ist in unseren Herzen; weil wir immer noch nicht laufen, einen Schwamm zu tunken in erquickende Flüssigkeit, um unsere Mitmenschen zu laben. Immer noch wartet Gott darauf. Und warum wohl? Können wir denn die Not der Welt aufheben? Wir können doch so wenig tun. Was ist schon Großes an diesem essigsauren Getränk, das da den Lippen des Heilands geboten wird? Ist das nicht eine ganz armselige, winzige Hilfe? Und was können wir selbst einander tun? Der Heiland scheint ja vorauszusetzen, dass wir nicht viel tun können; denn er sagt: „Wer einem meiner Geringsten auch nur einen Becher Wasser reicht…“. Es scheint, dass wir nicht viel mehr tun können, als unseren Brüdern und Schwestern eine kleine Erquickung bereiten. Und doch wartet Gott darauf, dass wir es tun. Warum? Es ist etwas Großes um die Liebe, die so etwas tut; und wenn sie auch nur einen Becher Wasser reicht, und wenn sie auch nur einen Schwamm an den Mund eines Sterbenden drückt, es ist etwas Großes, wenn es die Liebe tut.
Diese Liebe ist eigentlich die Erlösung der Welt. Denn das ist die größte Not, in der wir sind: nicht die Not der Ungeliebten, nicht die Not der Verstoßenen, nicht die Not der Enterbten, sondern die Not der Lieblosen. Die Menschheit, die keine Liebe hat, ist wahrhaftig in Not, ist unrettbar, ist verloren. Darum muss alles aufgeboten werden, um die Liebe aufzuwecken in der liebeleeren Menschenseele. Wenn es gelingt, auch nur an einem Plätzchen, in einer Seele, in einem harten Soldatenherzen, in einem rauhen Henkerherzen einen Schimmer von Liebe aufzuwecken, dann kann Gott ruhig zusehen, dass sein eigener Sohn sich zu Tode ruft in seiner Not; das ist nicht zu teuer erkauft. Es ist der Mühe wert, dass Gottes Sohn in Not kommt, wenn nur in einem Herzen ein Fünklein Liebe erwacht. Auch für diesen Menschen selbst; denn so wird er selbst errettet. Wir hören nichts weiter aus der Heiligen Schrift von diesem Soldaten. Aber ich glaube, seine Liebestat hat ihm selbst Rettung gebracht. Der Schächer, der rechte, hat nur ein Wort zugunsten des Herrn gesprochen, und er bekam das Paradies noch am gleichen Tag. Dieser Henker aber hat mehr getan. Vielleicht unter dem Spott und gegen den Widerstand seiner Kameraden hat er den Sterbenden getränkt. Sollte er nicht auch das Himmelreich bekommen haben? Es war ja schon in seiner Seele ein Anfang des Himmelreiches; es war schon ein Aufblühen Gottes in der mitleidigen Regung, der er gefolgt ist. Ihm ist das Leiden wahrhaftig zur Brücke geworden, auf der Gott zu ihm kam an jenem Karfreitagsabend. Das ist der Weg, der einzige Weg, auf dem das Leid der Welt aufgehoben wird: dass es hineinströmt in die Seelen und dort die Liebe weckt, von Liebe getragen, von Liebe umfangen, von Liebe betreut wird. Dann wird diese Liebe selbst zum Himmelreich. Gott selbst steigt nieder auf der Brücke der Not in die dienende Liebe der Seelen.
Amen.