2. Februar 2025
Güte
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Ein geistlicher Schriftsteller, der das Menschenherz scharf beobachtet hatte, schrieb einmal das merkwürdige Wort: Güte ist seltener als Keuschheit. Keuschheit ist selten in unseren Tagen. Man freut sich, wenn man einmal in das reine Auge eines keuschen Menschen schauen kann. Aber Güte ist noch seltener. Wir brauchen ja nur unser eigenes Leben zu beobachten. Am Morgen kommt die Zeitung ins Haus. Sie bringt nicht viele gute Gedanken; sie regt so viel Schadenfreude, so viel Genugtuung über die Niederlage des Gegners, so viel Zorn und Erbitterung in den Seelen an. Da geht der Engel der Güte leise aus dem Zimmer. So fängt der Tag an. Und dann weiter. Beobachten wir die Gespräche des Tages. Wann entschuldigen wir aus großmütigem Herzen die Fehler unserer Mitmenschen? Wann sehen wir die guten Seiten der anderen? Wann freuen wir uns darüber, dass es noch so viel Gutes in den Menschen gibt? Wann bringen wir die Kraft auf, nicht an das zu denken, was uns ärgert am Nächsten? Wenn wir abends unsere Gewissenserforschung halten, fragen wir uns, worin wir gefehlt haben am Tage. Machen wir es ab und zu anders als sonst? Fragen wir uns: Was habe ich heute Gutes getan? Wie oft war ich gütig in Gedanken, Worten und Werken? Dann sieht man erst, wie wenig Güte in unserer Seele lebt; wie wir tagelang, wochenlang leben ohne einen guten Gedanken. Und man sieht noch etwas anderes ein: Wenn wir nach unseren guten Worten gerichtet werden, dann mag es sein, dass wir im Gericht werden bestehen können. Wenn wir einst nach unseren guten Werken gerichtet werden, dann wird es ernster für uns. Und wenn wir nach unseren guten Gedanken gerichtet werden, dann müssen wir wohl zittern und zagen.
Und weil die Menschen so wenig Güte haben, deshalb sind sie unglücklich. Zwar können ungütige Menschen manchen Triumph erleben, wenn sie dem Gegner eine Niederlage bereitet haben. Auch die Bosheit hat ihre Freuden. Aber all dies sättigt nicht und befriedigt nicht. Das Volk hat sehr richtig beobachtet, wenn es die ungütigen Gedanken bittere Gedanken nennt. „Ich trage Bitterkeit gegen jemand im Herzen“, so klagt es sich an. O, es träufelt viel Bitterkeit aus den ungütigen Gedanken in die Seele. Darum ist es dringend notwendig, dass wir uns endlich auf eine Quelle der Freude besinnen, die Himmel und Erde mit ihrem Glück erfüllen kann: die Liebe, die Güte. Jede echte Güte geht auf den Spuren der großen Güte Gottes einher. Woher hätte der Mensch die Güte, wenn Gott nicht der ursprüngliche Ozean der Güte wäre, wenn er nicht einen Tropfen seines Blutes vergossen hätte, als er unser Herz formte? „Gott, weil er groß ist, gibt am liebsten große Gaben. Ach, dass wir Armen nur so kleine Herzen haben“ (Angelus Silesius). Gott allein ist im höchsten Grad freigebig. Denn er handelt nicht um seines Nutzens willen, sondern allein aus seiner Güte heraus (Thomas von Aquin).
Was ist Güte? Güte ist unverdiente Liebe. Güte wird nicht erwiesen, weil der andere liebenswert ist, sondern weil mir das Gesetz Gottes befiehlt, ihm Sympathie, Gewogenheit, Zuneigung zu erweisen. Güte zeigt sich in Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit, in Aufmerksamkeit und Geneigtheit, in Warmherzigkeit und Wohlwollen. Ein gütiger Mensch sucht seinen Nachbarn, seinen Kollegen, seinen Verwandten zu verstehen, übt Nachsicht und ist hilfsbereit.
Güte erfreut unseren Herrgott. In der Epistel der heutigen heiligen Messe spricht der Heilige Geist zweimal denselben Gedanken aus, indem er sagt: „Wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz erfüllt.“ Und dann am Schluss: „Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.“ Am höchsten von allen Geboten schätzt also unser Gott die Liebe; sie sieht er am liebsten bei den Menschenkindern, sie macht ihm die größte Freude. Das können wir daran sehen, wie der Herr von den Menschen spricht, die Liebe üben. Da fühlt man geradezu den Pulsschlag des Herzens Christi. Der Samaritan zog seines Weges. Er ahnte nichts von dem Himmel der Freude über ihn im Herzen Gottes. Es ist sicher: So wie über den Samaritan wird Gott einmal von den Helden der Liebe sprechen, dem hl. Vinzenz von Paul, der hl. Hedwig, der hl. Elisabeth. Ob auch von jemand aus uns? Gott freut sich der Menschen, in deren Herz die Güte wohnt. Denn: „Gott ist die Liebe.“ „Wer liebt, ist aus Gott geboren, ist ein Kind Gottes“ (1 Joh 4,7,8). Wenn die Güte eine Seele erfüllt, dann ist es, als ob Gott sich vom Himmel herabneigt. Kind Gottes, das ist der rechte Name für den gütigen Menschen.
Güte bringt Freude uns selbst. Man hat noch nie einen gütigen Menschen gesehen, der in tiefster Seele unglücklich war und blieb. Fragt eure eigene Erfahrung. Ihr werdet im Kreis eurer Bekannten keinen einzigen gütigen Menschen finden, der ein Pessimist ist. Liebe räumt so viele Bitterkeiten hinweg, Hass, Neid, Ärger; Liebe sieht so viel Schönes am Nächsten, so viel Licht. Aber was rede ich lange von der irdischen Freude. Das ist doch nur Vorbild und Gleichnis jener anderen Freude, die unser erwartet. Wenn der allgütige Vater zu uns sagen wird: „Gehet ein in die Freude des Herrn“; wenn der allgütige Heiland uns sagen wird: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters“, dann werden wir wissen, was Freude ist. Zu wem wird er so sagen? Zum gütigen Menschen: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters; denn ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist; ich war durstig, und ihr habt mich getränkt“ (Mt 26,34-35).
Und Güte bringt Freude in das Leben unserer Mitmenschen. Das Bedürfnis nach Liebe, Verstehen, Getröstetwerden ist so groß. Man sage nicht, unsere Zeit sei abgestumpft, sie habe das Gefühl für Liebe verloren. Man muss immer wieder staunen, wie alte, verbitterte und verhärtete Menschen ganz anders werden, wenn die Liebe sie berührt. Immer wieder sieht man, wie dieser Drang nach Liebe mit Urgewalt aus dem Herzen bricht. In unseren Gefängnissen, in unseren Fürsorgeheimen kann man es sehen an den Menschen, die mit ausgebrannter Seele dorthin kommen. Ein solch armes Wesen war in einem unserer Heime aufgenommen worden. Man hatte lange überlegt, ob man es tun solle. Dann sagte man zu. Und es ging ganz gut. Nach einiger Zeit sagte das Mädchen zu der Oberin: „Liebe Mutter, ich bleibe so lange brav, als Sie mich liebhaben. Wenn Sie anfangen, mich zu verachten, dann reiße ich aus.“ In seiner ungefügen Art hat es dieses arme Wesen ausgedrückt. Wenn Sie mich nicht mehr liebhaben, dann halte ich es nicht aus; dann ist es mit mir vorbei; dann laufe ich fort. O, man ahnt es oft nicht, wie viel Gutes man in den Seelen wecken kann mit ein wenig Güte. Oft im Leben begegnete mir einer, der mir böse schien; als ich aber näher zusah, erkannte ich: er war nur unglücklich (Hugo Lang). Das Erlebnis gütiger Menschen führt Seelen zu Gott. Viele müssen zuerst den Glauben an die Menschen wieder lernen, bevor sie den Heimweg zum Gottesglauben finden.
Es gibt zwar auch Enttäuschungen der Liebe. Es wäre töricht, die Augen davor zu verschließen. Aber ich glaube: Wenn mancher nach seinem Tode zurückkommen und sehen könnte, wie sehr er denen fehlt, die ihn enttäuscht haben – er wäre versöhnt. Doch er braucht gar nicht zurückzukommen. Er sieht es aus der Ewigkeit, wie ihn die anderen vermissen. Mein Christ! Ich möchte dir eine Frage stellen: Ob du wohl jemand fehlen wirst? Ich meine nicht, deiner Familie; nein, ich meine den anderen, den Armen, den Unsympathischen, den Ungeliebten. Wem wirst du fehlen? Von den vielen, denen du in deinem Leben begegnet bist, mit denen du zusammengearbeitet hast, die Gott dir zugewiesen, anvertraut hat?
Helfen wir, es gibt so wenig Liebe und Freude. Eine Welle der Erbitterung geht durch das Land. O, sie sind oft so unbelehrbar, so unvernünftig, diese Menschen. Aber – schauen wir tiefer. Sie sind auch so unglücklich. Sie glauben nicht mehr an die Liebe. Aber wenn es Menschen, Christen gibt, die alt werden und noch nie etwas Großes für den Nächsten getan haben, soll man dann noch davon reden, dass das Gebot der Liebe unser Hauptgebot ist? Und soll man verlangen, dass man es uns glaubt? Fordern wir nicht zu viel von den armen, verbitterten Menschen? Ich stand mit meinem Bischof Ferdinand Piontek jahrelang im Briefwechsel. Ich teilte ihm viele Eindrücke, Empfindungen und Wahrnehmungen mit. Piontek nahm sie dankbar entgegen. Aber er schrieb mir eines Tages anerkennend und mahnend: Sie sind ein scharfer Beobachter. Aber seien Sie auch ein gütiger Beobachter. Ein scharfer Beobachter sieht die Schwächen und Fehler seiner Mitmenschen. Ein gütiger Beobachter sieht auch ihre Vorzüge und Stärken. Möchten wir nicht gütige Beobachter werden? Meine lieben Freunde! Lasst uns gütig sein, um andere und uns selbst glücklich zu machen. Ich weiß nicht, ob es viele Glückliche unter Ihnen gibt. Ich fürchte, nein. Unsere Zeit ist leidensmüde und freudeleer. Wenn wir nur einigen, wenn auch nur wenigen, den Weg zur Freude weisen können. Mein Christ, wenn du traurig bist, dann nimm allen Mut zusammen; tu deinem Nächsten etwas Gutes um dessen willen, der dein Gott und Heiland ist; und er wird dir helfen.
Amen.