Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Januar 2025

Anfang und Ende

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Weg der Menschheitsgeschichte ist wie die Fahrt eines Schiffes, das durch nächtliche Meere stampft. Jeden Augenblick hebt ein Mensch den Kopf, zieht die Luft ein, horcht und späht hinaus. Er überprüft seinen Standort. Er denkt nach, atmet tief und zieht aus der Tasche seine Uhr und blickt auf das Ziffernblatt: Wo bin ich? Und welche Stunde ist es? Das ist unsere unerschöpfliche Frage an die Welt: Wo bin ich? Und woran bin ich? Um eine Antwort zu bekommen, haben die Alten, die vor uns lebten, in jeder Stadt von Amtes wegen Auguren bestellt. Die Auguren waren ein altrömisches Priesterkollegium, das bei wichtigen Staatshandlungen den Willen der Götter erkunden sollte. Aus Himmelszeichen lasen sie Zustimmung oder Ablehnung der Gottheit ab. Zumeist waren es Vogelzeichen. Wir vertrauen solchen Mitteln der Vorbestimmung nicht mehr. Es gibt allerdings auch heute seherisch begabte Menschen, die bestimmte Ereignisse vor ihrem Eintritt zu schauen vermögen. Es gibt Personen, welche die Fähigkeit haben, in Visionen von räumlich entfernten und zeitlich bevorstehenden Ereignissen Kenntnis zu erhalten. Diese Gabe war früher in manchen Gebieten (wie Schottland, Norwegen, Bretagne, Nieder-Deutschland) verbreitet. In Deutschland hießen die mit ihr Begabten Spiekenköker. Die Griechen verehrten Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos. Ihr hatte Apoll angeblich die Gabe der Weissagung verliehen, aber die Kraft zu überzeugen versagt. So sagte sie – ohne dass jemand ihren Prophezeiungen Glauben schenkte – den Untergang Trojas voraus und warnte vergeblich vor dem hölzernen Pferd. In unserer Zeit hat sich eine interdisziplinär angelegte Forschungsrichtung gebildet, die sich mit Fragen künftiger Entwicklungen beschäftigt, die Zukunftsforschung. Sie versucht, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden gesellschaftliche, technische und kulturelle Entwicklungen vorherzusagen. Ihre Fragestellungen sind heute vorwiegend von den Vorstellungen der Grenzen des Wachstums, der Erschöpfung natürlicher Ressourcen, zunehmender Umweltschäden und unabsehbarer technischer Risiken geprägt. Im Zentrum der Zukunftsforschung steht daher die Orientierung an den ungelösten Problemen der Gegenwart. Noch ungeklärt ist die Frage, wie und in welchem Umfang sich langfristige Prognosen aus vorhandenem Wissen ableiten lassen. Aber es wird versucht.

Die heutigen Prognosen der Zukunftsforscher sind mehrheitlich düster. Der amerikanische Demograph Nikolas Eberstadt sagt voraus, dass die Weltbevölkerung schrumpfen werde, und er nennt die ernsten Folgen dieses Prozesses. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) warnt in seinem Grundsatzpapier vor einer „schleichenden Deindustrialisierung“ Deutschlands und fordert radikale Reformen. „Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit ist im freien Fall“, die Wirtschaft stehe „unter nie dagewesenem Druck“, heißt es in dem 26 Seiten umfassenden Grundsatzpapier. Hildegard Müller, Präsidentin des Automobilwirtschafts-Verbandes, erklärte, der Standort Deutschland für die Automobilindustrie sei nicht mehr wettbewerbsfähig. Sie rechnet mit dem Verlust von 190 000 Jobs bis 2035 in der deutschen Automobilindustrie. Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft hat einen Tiefpunkt erreicht, erklärt Michael Huther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft. Vom Wohlergehen der Wirtschaft aber hängt in unserem Land fast alles ab: Vollbeschäftigung, Wohlstand, Zufriedenheit.

Bei allen Vorhersagen künftiger Dinge und Ereignisse ist entscheidend, wie weit der Blick des Menschen reicht. Auf der Fahrt durch die Fluten des Meeres setzte der Mensch seinen Ausguck ein. Das ist ein großartiges Bild für die Nacht, in der die Silvesterglocken ertönen, in der ein Jahr zu Ende geht und ein neues Jahr anhebt. Ob es gelingt, uns aus unserer Gedankenlosigkeit aufzuwecken? Uns aus dem routinierten Ablauf unserer Tagesprogramme aufhorchen zu lassen? Es braucht wahrlich Propheten und Seher, um uns an die großen schlichten Grundgegebenheiten unseres Daseins zu erinnern. Denn was uns am vertrautesten ist, dessen achten wir am wenigsten. „Du wunderst dich nicht genug, dass du lebst“, hat Paul Claudel geschrieben. Und du wunderst dich nicht genug darüber, dass dein Leben zerrinnt, als hätte man ihm die Pulsadern aufgeschnitten. Geheimnis der dahinfließenden  Zeit! Du beugst dich über dein schlafendes Kind und siehst, wie seine Brust sich hebt und senkt. Mein Gott, nun wird es bald vier Jahre alt. Du warst zu Weihnachten, wie jedes Jahr, am Grab deiner Eltern und bist auf dem Friedhof noch manchem anderen Namen begegnet. Bekannte, die jünger waren als du! Und dir hat der Arzt nicht auch schon ernstlich zugeredet? Vergänglichkeit des Lebens. Eine Binsenwahrheit. Aber wir müssen sie unserem schläfrigen Herzen vorhalten, damit wir reif und ernst, klar und nüchtern werden. So ist das Leben! Sterblicher, denk’ ans Sterben!

Das Leben ist wie ein Strom, dessen Fluten unablässig unter den Brückenbogen dahingleiten. Es gibt kein Halten und Verweilen. Gras sind wir, das verwelkt, sagt die Schrift. In Zelten wohnen wir, sagt sie noch, und haben hier keine bleibende Stätte. Die dröhnenden Glocken von den Türmen, die tickende Uhr an deinem Handgelenk, die pulsende Uhr, die dein Herz ist, und die anfängt, dir Sorge zu machen: Mahner sind sie deines hinschwindenden Seins. Und wir wissen alle: Die Papierschlangen und die Sektstimmung der Silvesternacht kommen nicht auf gegen die stumme Sprache der Sterne und gegen ihren ewigen Ernst! Dieser Ernst ist berechtigt, er ist schön, aber man kann fragen, ob er schon christlich ist. Auch die alten Heiden wussten, dass alles fließt und zerrinnt. Für die moderne Philosophie ist es geradezu ein Lieblingsgedanke, dass unser Sein ein ins Nichts abstürzendes, ja ein „nichtendes“ Sein ist. Christlich wird der Lebensernst erst durch das Wissen: Der Strom trägt uns dem Ufer entgegen. Es ist das Ufer der Ewigkeit. Alle miteinander sind wir dahin unterwegs. Jede Stunde bringt uns ihr näher. Es ist schön und christlich formuliert, wenn mir der Freund auf seiner Weihnachtskarte schreibt: „Ob 2025 meine Ewigkeit bringen wird?“ Ich weiß es nicht. Es macht im Grunde auch nicht viel aus, ob diese Stunde 2025 oder 2026 schlägt. Was zählt, ist, dass wir im Angesicht der Ewigkeit leben, und dass der Herr uns wachend findet, wenn er sagt: Es ist Zeit.

Ewigkeit heißt der Sinn der Zeit. Aber damit wir die Zeichen der Zeit richtig deuten, müssen wir noch einen Schritt weitergehen. Ihre letzte Klarheit, ihre Ordnung und ihre Geborgenheit erhält die Zeit durch den Namen Jesus. Es scheint, dass es Zufall ist, wenn das bürgerliche Jahr mit der Oktav des Christfestes beginnt, mit dem Tag, an dem der Sohn Mariens den Namen Jesus empfing. Dieses Zusammentreffen ist jedoch von einer bewegenden Sinnhaftigkeit: Der Sinn der Zeit heißt Jesus! Gewiss, die einzelnen Bereiche der geschichtlichen Wirklichkeiten haben ihre eigenen Gesetze und Entwicklungslinien (oder scheinen sie wenigstens zu haben). Die Zeitungen sind gerade zur Jahreswende voll von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kommentaren und Ausblicken. Alle diese Dinge haben ihren Sinn und wollen ernst genommen werden. Aber sie sind zweitrangig und vorläufig. Seit der Sohn des ewigen Vaters ein Mensch ward, ist er die Mitte der Zeit, hat alles geschöpfliche Sein seinen letzten Sinn und sein letztes Ziel einzig in Jesus. In ihm und auf ihn hin ist alles. Wer ihm folgt, findet heim zu ihm. Wer ihm aus dem Wege geht, verläuft sich.

Ehrfürchtig wollen wir seinen gebenedeiten Namen an die Stirn des neuen Jahres schreiben. Uns Christen ist die irdische Zukunft so wenig enthüllt wie den anderen. Wir wissen nicht, was das neue Jahr im häuslichen Kreis und in der Welt an Schwerem und Erfreulichem bringen wird. Gott allein weiß es. Er wird es fügen, wie es für uns gut ist. Wir wollen ihm trauen, dem Vater des Erbarmens und Gott allen Trostes.

Aber eines soll unser ehrliches Wollen sein: Wir wollen dieses Jahr leben im Namen Jesu. In seinem Lichte wollen wir unsere Entscheidungen treffen. Im Gehorsam gegen seine Kirche wollen wir unser Leben einrichten. Im Blick auf unseren Herrn, den gekreuzigten Erlöser, wollen wir unser Kreuz tragen. Der Glaube an ihn soll uns die große Probe bestehen lassen: im Frieden zu gehen, wenn er ruft; denn unser ganzes Sein, ob wir leben oder sterben, ist geborgen in ihm.

Amen.

Schrift
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