25. Dezember 2024
Ich verkünde euch eine große Freude
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
„Seht, ich verkünde euch eine große Freude. Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ So lautet die Botschaft des Engels auf galiläischer Flur, so lautet die Kunde der Weihnacht. In der Verkündigung des Engels ist das gesamte Evangelium von Jesus Christus enthalten. Jedes Wort dieser Botschaft ist von großer Aussagekraft. „Heute“. Das Wort bringt zum Ausdruck, dass dieser Tag ein einzigartiger ist, ein einmaliger geschichtlicher Tag in einem bestimmten Monat, einem bestimmten Jahr in unserer Zeitrechnung. Es war die Zeit, als in Rom Kaiser Augustus auf dem Throne saß und als in Palästina König Herodes der Große regierte. Jesus ist im Jahr 8 bis 7 vor Christus geboren. Die christliche Zeitrechnung, die im 6. Jahrhundert von dem Mönch Dionysius Exiguus geschaffen wurde, setzte das Jahr der Menschwerdung Christi fälschlich mit dem Jahr 753 der römischen Ära gleich. Die Geburt Jesu ist um sechs Jahre zu spät angesetzt. So erklärt sich das scheinbare Paradox, dass Jesus Jahre „vor Christus“ geboren worden ist. Mit der Geburt Jesu verhält es sich anders als mit den angeblichen Geburten von Göttern. Auch von ihnen wird erzählt, dass sie geboren werden, aber nicht an einem bestimmten Tag und einem gewissen Ort. Denn sie sind Ausgeburten der schweifenden Phantasie ihrer Verehrer. Sie stellen Bilder vom Wachsen und Vergehen der Natur dar. So war Adonis ein syrischer Vegetationsgott, der jeden Hochsommer (nach der Ernte) stirbt und im Frühling wieder aufersteht. Seine Verehrer waren sich bewusst, dass dieser sogenannte Gott keine Person, sondern ein Bild für das Naturgeschehen ist. Total anders steht es um die Geburt Jesu; sie ist kein Mythos, sondern Geschichte. Sie liegt nicht nur nach der Zeit, sondern auch nach dem Orte fest. Er ist geboren an einem bestimmten geographischen Ort: zu Bethlehem im Lande Juda, neun Kilometer von der Hauptstadt Jerusalem entfernt. Bethlehem heißt die Stadt Davids, weil der König David dort geboren wurde. Der Ort entspricht damit der alten Weissagung, wonach der Erlöser in Bethlehem zur Welt kommen sollte. So ist es geschehen. Die Christenheit hat immer das Gedächtnis an diesen Geburtsort Jesu bewahrt. Dort hat man eine der frühesten christlichen Kirchen gebaut. Die heutige Geburtskirche ist für den Anfang des 2. Jahrhunderts bezeugt. Der römische Kaiser Hadrian suchte den Ort nach dem jüdischen Aufstand zu profanieren. Er ließ dort im Jahre 135 einen Hain des Adonis errichten. Aber gerade dadurch bewahrte er das Gedächtnis der Geburt Jesu. Die Geburten der heidnischen Götter sind ortlos. Man vermag nicht den Platz anzugeben, an dem sie angeblich das Licht der Welt erblickten. Denn sie sind mythische Gestalten, Ausgeburten der menschlichen Vorstellungskraft. Vom Mythos führt keine Brücke zur Geschichte.
Gewisse Erklärer der Heiligen Schrift wollen dem Bericht von der Geburt Jesu in Bethlehem die mehrfach bezeugte Herkunft Jesu aus Nazareth entgegensetzen. Sie sagen: Jesus ist in Wirklichkeit in Nazareth geboren, Bethlehem ist lediglich der theologische Ort seiner Geburt. Er entspringt einer theologischen Ideologie, wonach der Messias aus Bethlehem stammen müsse. Diese Ansicht besagt: Die Evangelisten Matthäus und Lukas haben die Geschichte zugunsten der Ideologie verfälscht. Gegen diese freche Behauptung ist zu sagen: Die beiden Texte von Matthäus und Lukas sind unabhängig voneinander und gehen in gleicher Weise auf eine zuverlässige Tradition von der Geburt Jesu in Bethlehem zurück. Diese Tradition wird nicht durch eine bodenlose Spekulation ausgehebelt. Es ist kein Widerspruch zu sagen: Jesus ist in Bethlehem geboren, aber in Nazareth aufgewachsen und wird daher als der Nazarener bezeichnet.
Gott lässt das Erscheinen seines Sohnes durch einen himmlischen Boten kundtun: „Seht, ich verkündige euch eine große Freude, die allem Volk zuteilwerden soll.“ Die Botschaft von der Geburt des Sohnes der Maria ist eine freudige Nachricht. Denn jetzt ist der da, den die Propheten verheißen haben. Jetzt ist die Zeit der Wende. Jetzt sieht das Volk im Todesschatten ein Licht. Diese Freude ist nicht von der Erde, sie stammt vom Himmel. Gott ist ein Mensch geworden. Eine unerhörte, erregende, erschütternde Nachricht. Der Unsichtbare wird sichtbar. Nicht in seiner eigenen Gestalt, sondern in einer fremden. Der Unendliche geht ein in das Endliche, in die Natur des Geschöpfes. Durch die Menschwerdung hat Gottes Sohn nicht etwa aufgehört, Gott zu sein. Er blieb, was er war, aber er nahm an, was er (bis dahin) nicht hatte. Der Gottmensch Jesus von Nazareth besteht aus einer Person, nämlich seiner Gottheit, und zwei Naturen, der göttlichen und der menschlichen. Seit dieser Verkündigung des Engels ist die christliche Offenbarung eine Freudenbotschaft, eine Heilsbotschaft wie keine andere. Die Grundstimmung des Christen, soweit sie den Glauben betrifft, muss deswegen die Freude, die dankbare Freude sein. Gott hat Wort gehalten, er hat seinen Heiland gesandt. Nicht einen herausragenden Menschen, nicht einen hervorragenden Heerführer, nicht einen außerordentlichen Staatsmann, sondern seinen eigenen Sohn, der sich eine Menschennatur angeeignet hat. Wozu? Zum Zweck der Genugtuung für die Sünde und der Erlösung der Menschheit. Ein unerhörtes, ein unausdenkbares Geschehen! Aber ein wirkliches Geschehen. Weil das alles wirklich geschehen ist, deswegen gibt es das Christentum. Kein Märchen, keine Legende, sondern wirkliche Geschichte. Seitdem ist Weihnachten ein frohes Fest. Gelobt seist du, Jesus Christ, dass du als Mensch geboren bist, von einer Jungfrau wunderbar, des freuet sich der Engel Schar. Alleluja!
Mit „Euch“ sind die Hirten gemeint. Sie gehörten zu den Letzten, zu den Verachteten im Judentum. Aber sie, und gerade sie, sind von Gott als Repräsentanten des ganzen Volkes, ja der Menschheit auserwählt worden. Das ist die Weise, wie Gott seine Pläne durchsetzt: indem er sich an das Kleine, Unscheinbare hält. Damit die Menschen erkennen, dass Gott am Wirken ist. Was ihnen mitgeteilt wird, das ist für alle bestimmt, und die Hirten sollen es weitertragen. Denn es ist eine Freude, die dem ganzen Volk verheißen und bestimmt ist. Das Volk, von dem hier die Rede ist, ist natürlich das Volk Israel, das auserwählte Volk. Aber hinter ihm steht die gesamte Menschheit aller Zeiten. Die Geburt Jesu ist kein partikuläres Ereignis. Jesus ist kein Stammesgott; er ist der Heiland der Welt.
„Heute ist euch der Heiland geboren.“ Der Name „Heiland“ oder „Retter“ bezeichnet den eben Geborenen als den Bringer der Heilszeit. Das griechische Wort dafür ist „Soter“. Lukas schrieb ja sein Evangelium für Christen, die aus dem Heidentum kamen und kannte daher den Ausdruck Soter, Heiland, Retter. Die hellenistische Welt des Heidentums verehrte angeblich göttliche Heilande, Asklepios, Sarapios, Zeus. Aber auch politische Gestalten wie die vergöttlichten Herrscher des Ostens oder römische Kaiser wurden als Retter oder Heiland vorgestellt; ihre Geburt oder ihre Thronbesteigung bezeichnete man als Frohbotschaft. Gegenüber diesen Verirrungen bezieht die Botschaft des Engels zu Bethlehem Stellung. Nicht Kaiser Augustus ist Heiland, sondern der Sohn Mariens. Gott selbst sorgt dafür, dass kein Missverständnis über den wahren (und einzigen) Heiland aufkommen kann. Der Pflegevater Joseph erhält den Befehl, den Sohn Mariens Jesus zu nennen. Warum? Jesus ist ein hebräisches Wort und bedeutet „Jahwe“ – also Gott – „hilft“. Er hilft durch diesen Jesus und niemand anderen. Es ist kein anderer Name unter dem Himmel für die Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden müssen (Apg 4,12). Er und er allein ist der Befreier von der Sünde. Gott hilft durch den Heiland Jesus. Als solcher hat er sich in seinem ganzen Leben erwiesen. Das Lukasevangelium ist in besonderer Weise auf diese Funktion Jesu, nämlich Heiland, Retter zu sein, ausgerichtet. Er ist der mitleidsvolle Helfer und Arzt, der Sünderheiland, der Anwalt der Armen, der die Frauen ehrt und die Mächtigen nicht fürchtet, der gütig, fromm und geduldig ist im Leiden, kurz: der Retter.
Aber nicht genug. Der Engel bezeichnet den Neugeborenen nicht nur als „Heiland“; er nennt ihn auch den „Christus“, den Messias. Das Wort Christus ist griechisch bzw. lateinisch, das Wort Messias ist hebräisch bzw. aramäisch, besagt also dasselbe. Messias, Christus, ist der von Gott Gesalbte, also Auserwählte und Beauftragte, der von den Propheten geweissagte Bringer des Heils. Nach der herrschenden jüdischen Erwartung sollte er aus dem Geschlecht Davids hervorgehen und das Königtum Davids glanzvoll erneuern und Israel für immer von seinen Feinden befreien. Die davidische Abstammung Jesu ist durch Joseph gewährleistet. Jesus ist nicht von Joseph gezeugt. Aber als der Ehemann Mariens ist er dessen gesetzlicher Vater. Durch Joseph ist Jesus in das Geschlecht Davids eingegliedert. Josephs Ahnen sind die Ahnen Jesu. Der Evangelist Matthäus führt den Nachweis, dass die Weissagungen des Alten Bundes über den Messias in Jesus von Nazareth erfüllt sind. Der Sohn Mariens ist der (in der Heiligen Schrift des Alten Bundes) verheißene davidische, alle Gerechtigkeit erfüllende, unschuldig leidende Messias. Das erste und früheste Bekenntnis der christlichen Kirche lautet deshalb: „Jesus ist der Christus, der Messias.“ Christus war damals also eine Amtsbezeichnung, nicht ein Name. Jesus ist der Gesalbte. Seine Messianität ist aufgeblitzt in seinem Selbstbewusstsein, in seinen Selbstbezeichnungen, in seiner Verkündigung, in seinen Machttaten. Die Massen freilich missverstanden ihn. Sie sahen in ihm einen politischen Messias, der die römischen Besatzer aus dem Land vertreiben sollte. Aber er war gekommen, um die Herrschaft des Satans zu brechen. Besessene und Kranke erkannten ihn. In der Synagoge von Kapharnaum schrie ein Besessener: „Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth! Du bist gekommen, uns zu verderben. Ich weiß, wer du bist: Du bist der Heilige Gottes!“ Zwei Blinde, die ihm folgten, schrien: „Erbarme dich unser, Sohn Davids.“ Als Jesus in Jerusalem einzog, begrüßten ihn begeisterte Volksscharen als den Messias: „Hosanna dem Sohne Davids.“
Jesus ist Heiland, ist Messias, ist aber nach der Engelbotschaft auch der „Herr“, griechisch der Kyrios. Das ist ein Name für Gott. Der dem Moses geoffenbarte Gottesname Jahwe wird in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes über sechstausend Mal mit Kyrios übersetzt. Wer also Gott den Kyrios nennt, der meint damit Jahwe, den Gott Israels, und wer von Jahwe spricht, der meint damit den Kyrios, den Herrn, den einzigen Gott über allen Göttern. Dieser Gottesname Kyrios wird von Gott in der Botschaft des Engels auf den Sohn Mariens übertragen. Seitdem bekennt die Kirche Gottes: Jesus ist der Herr. Dieser Ausdruck zeigt, dass Gott selbst auf die Erde gekommen ist. Weihnachten ist nicht mehr und nicht weniger als die Menschwerdung Gottes. Im Neuen Testament wird Jesus von Nazareth fortwährend als der „Herr“ bezeichnet. Mit diesem Wort ist zuerst die herrscherliche Stellung Jesu im All ausgesagt. Er sagt von sich selbst: „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden.“ An einer anderen Stelle: „Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden.“ Seine Machttaten bezeugen seine göttliche Kraft: „Wenn ich die bösen Geister durch den Finger Gottes austreibe, dann ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ Die Zeitgenossen waren von seiner Herrschermacht überwältigt. Als er dem Sturm und dem Meeresbeben gebot, sprachen die Zeugen zueinander: „Was ist denn das für einer, dass er sogar dem Wind und dem Wasser gebietet, so dass sie ihm gehorchen?“ Ja, wer ist das? Das ist der herangewachsene Sohn Mariens, das ist das einstige Krippenkind von Bethlehem. Das ist der in stiller Nacht, in heiliger Nacht Geborene, Hirten kundgemacht durch der Engel Halleluja, von dem es tönt laut von fern und nah: „Christ, der Retter ist da, Christ, der Retter ist da.“
Amen.