Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. Dezember 2024

Jesus der Menschensohn

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jesus weiß sich hier und jetzt als den, der das Dereinst und das Jetzt, die Endzeit und die jetzige Generation in seiner Person zugleich umgreift. Er weiß sich schon jetzt als den, der dereinst auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen, die Völker vor sich versammeln und sie voneinander scheiden wird, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. „Die Schafe wird er zu seiner Rechten, die Böcke aber zu seiner Linken stellen.“ Er weiß sich schon jetzt als den König des neuen Reiches. Er wird zu denen auf seiner Rechten sagen: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmet in Besitz das Reich, das seit Grundlegung der Welt euch bereitet ist“ (Mt 25,33f.). Es ist ein kühnes, ein im Menschenmund ungeheuerliches Wort, das Jesus hier von sich aussagt. Und doch ist es das Wort, das uns den Schlüssel zum Verständnis seiner Sendung an die Hand gibt. In seinem Selbstbewusstsein begegnen sich Gegenwart und Zukunft, ja Zeit und Ewigkeit. In einer uns gewöhnlichen Sterblichen unfassbaren, prophetischen Schau fasst er den gegenwärtigen Richter und das kommende Gericht, den gegenwärtigen König und sein kommendes Reich, das gegenwärtige Geschlecht und den heranbrechenden neuen Äon zu einem einzigen Wirklichkeitserlebnis zusammen. Das große Kommende ist in seiner Person schon da. Indem er „im Finger Gottes“ die dämonischen Gewalten überwindet, beweist er, dass das Reich und seine Kräfte schon am Werke sind. Es ist nicht so, als ob der Fürst dieser Welt erst am Ende der Zeiten gerichtet würde. Er „ist“ vielmehr schon gerichtet (Joh 16,11). „Jetzt ist das Gericht der Welt. Jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen“ (Joh 12,31). Und zwar durch den Sieger Christus.

Jesu ganze Verkündigung wurzelt in seinem Bewusstsein, dass er, der Galiläer, der Mensch von heute, zugleich der künftige Richter der Welt und der König des herankommenden Gottesreiches ist. Von da tritt er uns in einem völlig neuen Licht entgegen. Wir sehen ihn auf dem Königs- und Richterstuhl Gottes. Die fallenden Sterne sind sein Gewand. Er ist der Herr der herankommenden Endzeit. Er ist unsere Entscheidung, das Schicksal der Welt. Jesus sprach dieses Bewusstsein in engstem Zusammenhang mit der Selbstbezeichnung aus, die uns merkwürdig anmutet. Er nannte sich den „Menschensohn“. Das Wort vom Menschensohn geht auf den Propheten Daniel zurück. Er sprach von einem Menschensohnähnlichen, der mit den Wolken des Himmels zur Rechten des Altbetagten erscheinen werde. Das Wort vom Menschensohn führte das religiöse Denken zu jener geheimnisvollen Gestalt, die nach dem Glauben der Besten dereinst als König der Endzeit Israel erlösen werde. Jesus eignete sich dieses Wort als Selbstbezeichnung an. Das tat er deswegen, weil er wusste, dass es für ihn geschrieben war. Es war wie ein Rätselwort, das aufhorchen ließ. Es lenkte das Denken in überirdische göttliche Sphären. So oft Jesus auf die Endzeit zu sprechen kommt, spricht er von dem Menschensohn, der zur Rechten der Kraft Gottes sitzt und auf den Wolken des Himmels erscheint. Von Anfang an weiß er diese Prophetie in seiner Person erfüllt. Im Bild vom Menschensohn offenbart er sich der Welt als den kommenden Weltrichter und als den König des neuen, vom Himmel herabsteigenden Reiches. Sein Berufungs- und Sendungsbewusstsein kulminiert im Überzeitlichen und Ewigen. Sein irdisches Leben ist von da aus nur das Vorspiel dieser ewigen letzten Wirklichkeit. Sein eigentliches, tiefstes Wirkungsfeld ist das Reich des Überirdischen, des Göttlichen, dort, wo der Thron des Altbetagten ist.

In seiner Person bricht die Ewigkeit in die Zeit herein, das Übergeschichtliche in die Ebene der Geschichte, das Göttliche ins Menschliche. Es handelt sich um eine Epiphanie von der Rechten der Kraft Gottes her. Es ist die Epiphanie des richtenden Gotteswortes. In ihm, dem Menschensohn, ist das ewige Gottesgericht und das ewige Königtum bereits erschienen. Darum ist er die Krise der Menschen, „bestimmt zum Fall und zur Auferstehung vieler in Israel“ (Lk 2,34). Er ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben, und der nun zum Eckstein geworden ist (Mt 21,42). Das Verhalten zu seiner Person in der Zeit entscheidet für alle Ewigkeit. „Wer mich vor den Menschen bekennt, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel bekennen. Wer mich vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater, der im Himmel ist“ (Mt 10,32). „Selig, wenn die Leute euch hassen um des Menschensohnes willen“ (Lk 6,22).

Es liegt hier klar zutage: Indem Jesus die Prophetie Daniels vom Menschensohn auf sich selbst bezieht, überschreitet sein Bewusstsein die Grenzen aller menschlichen Möglichkeiten. Sein Anspruch dringt bis an die Seite Gottes. Jesus nimmt das Wort Daniels durchaus nicht bloß als eschatologisch, bezogen auf das Endgericht. Es betrifft auch sein Wirken in der Gegenwart. Jesus weiß sich als den, der Not und Sünde der Gegenwart hinwegnehmen und die Menschen für das neue Reich erlösen wird. Weil er, der Menschensohn, Herr und König des dereinstigen Gottesreiches sein wird, ist er auch schon in der Gegenwart der rechte Ort des Heils. Seine eschatologische Aufgabe setzt die messianische voraus. Beide bedingen sich. Mit Vorliebe gebraucht deshalb Jesus die Selbstbezeichnung Menschensohn gerade dann, wenn er auf sein Erlöserwirken in der Gegenwart zu sprechen kommt. „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren war“ (Lk 19,10). „Der Menschensohn“ ist es, der den guten Samen sät, die Kinder des neuen Reiches“ (Mt 13,37f.). Es steht dem „Menschensohn“ zu, das sittlich-religiöse Wollen von allen fremden Bindungen zu befreien, selbst wenn es sich um ein so Heiliges wie den Sabbat handelt. „Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat“ (Mk 2,28). Ja, der „Menschensohn“ tut selbst das, was Gott allein tut. Er vergibt Sünden, „auf dass ihr wisst, dass der Menschensohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben“, sprach er zum Gichtbrüchigen. „Nimm dein Bett und geh nachhause“ (Mk 2,11). Hier, in der Vergebung der Sünden, erreicht das gegenwärtige, die diesseitige Welt umfassende Erlösertum des Menschensohnes seine höchste Spitze und sein messianischer Anspruch den stärksten Ausdruck. Hier dringt Jesus nicht bloß an die Seite Gottes. Er dringt in das Herz Gottes ein. Und weil er davon erfüllt ist, dass sich das Erlösertum des Menschensohnes in Leiden und Kreuz vollenden muss, darum nennt er sich den Menschensohn auch immer dann, wenn er von seinem Leiden spricht. „Der Menschensohn ist nicht gekommen, bedient zu werden, sondern zu dienen und sein Leben als Lösegeld hinzugeben für die vielen“ (Mt 20,28). Indem Jesus dies sagt, verschmilzt ihm das Bild des Isaias vom leidenden Gottesknecht und der Prophetie Daniels vom Menschensohn zu einer einzigen großen Vision. Er, der sich als Weltenrichter und als König des neuen Reiches schaut, weiß sich zugleich im Sinn des Isaias (53,11f.) als den, der „die Verschuldungen vieler auf sich lädt und sein Leben in den Tod dahingibt“. In dem kleinen Wort vom Menschensohn verbergen sich die ungeheuersten Spannungen des Selbstbewusstseins Jesu. Bis zum Himmel weiß er sich erhöht, in den Staub der Erde sieht er sich hinabgestoßen. Er ist gekommen, zu richten und zu herrschen. Und doch ist er hinwiederum gekommen, zu dienen und für die Menschen zu sterben. König des Himmelreiches ist er und ein Knecht der Menschen zugleich.

Von hier aus empfängt auch das andere Wort, mit dem Jesu Zeitgenossen ihren Glauben an den König der Endzeit aussprachen, das Wort vom Gesalbten, dem Messias, dem Christus einen neuen Sinn. Die Juden dachten, wenn sie um das Kommen des Messias flehten, an ein Wiedererstehen der Königsherrschaft Davids. Jesus sah diesen Messias nicht anders als im Zeichen des Menschensohnes, als den Heiland und Richter der Welt. In diesem Sinn nahm er das Bekenntnis des Petrus: „Du bist der Christus“ (Mk 8,29; Lk 9,21) entgegen und führte es ob seiner geheimnisschweren Tiefe auf eine Einsprechung von oben herab: „Nicht Fleisch und Blut hat dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist“ (Mt 16,17). Der Ausdruck „Messias“ (Christus) war vordem mit den jüdischen Vorstellungen belastet, dass der kommende Messias irdischen Geblüts sein werde. Jesus lenkte nunmehr die Herzen zum Menschensohn, zur Rechten des Altbetagten, zum Seligmacher der Gegenwart, zum Richter und König der Zukunft. Darin ist das Neue, Aufrüttelnde des Anspruchs Jesu gelegen. Es stand in schroffstem Gegensatz zu dem, was die Juden seiner Zeit von dem kommenden Messias hofften. Darin ist auch das erregende Moment des Dramas von Golgotha zu suchen. Hätte sich Jesus als einen Christus in jüdisch nationalem Sinne bekannt, so wäre er nicht gekreuzigt worden, selbst dann, wenn man seinen Anspruch bekämpft und verworfen hätte. Denn nach dem geltenden jüdischen Recht war solch ein Anspruch, auch wenn er unberechtigt erschien, keine Gotteslästerung und darum auch kein todeswürdiges Verbrechen. Erst dadurch, dass Jesus in ernster Stunde die Frage des Hohenpriesters: „Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ nicht bloß bejahte; sondern dass er in schroffstem Bekenntnis mit jener Wahrheit und Klarheit, die sein Wesen war, hinzufügte: „Aber ich sage euch, von jetzt an werdet ihr den Menschensohn sehen sitzend zur Rechten der Kraft und kommend auf den Wolken des Himmels“, gab er der mehrdeutigen Frage des Hohenpriesters einen eindeutigen Sinn und eine eindeutige Antwort. In Fesseln geschlagen, sieht er sich zur Rechten der Kraft. Vor dem irdischen Richterstuhl stehend, weiß er sich auf dem Richterstuhl Gottes. Gab es eine größere Paradoxie und ein entsetzlicheres Ärgernis? „Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und schrie: Er hat Gott gelästert. Was brauchen wir noch Zeugen? Seht, jetzt habt ihr die Lästerung gehört. Was dünkt euch? Sie antworteten und sprachen: Er ist des Todes schuldig. Da spien sie ihm ins Angesicht und schlugen ihn aufs Haupt“ (Mt 26,65ff.). Jesus starb. Jesus musste sterben, weil die Menschen zu klein und zu eng, zu stumpf und zu niedrig waren, um an sein himmlisches Geheimnis zu glauben. Er starb, weil er der Menschensohn war.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt