15. Dezember 2024
Jesu Hingabe an den Willen des Vaters
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das religiöse Innenleben der menschlichen Seele Jesu war beherrscht von der restlosen Hingabe an den Willen des Vaters im Himmel. Wir wissen von keinem Menschen, der das biblische Wort „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüte“ so in seinen Tiefen erfasst und verwirklicht hat wie Jesus von Nazareth. Das erste Wort, das wir von ihm kennen, erinnert an sein Daheimsein beim Vater: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49). Und sein letztes Wort ist ein Ausatmen im Vater: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Alle großen Ereignisse seines Lebens stehen in der Weihe und Kraft des Gebetes. Als Jesus getauft wurde, da „betete er und es tat sich der Himmel auf“ (Lk 3,21). Als er daran ging, seine Jünger auszuwählen, „stieg er auf einen Berg, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott. Und als es Tag geworden, rief er seine Jünger“ (Lk 6,12f.). Ein Großteil seiner Wunder, wie die Heilung des Taubstummen (Mk 7,34), des tobsüchtigen Knaben (Mk 9,28), die Erweckung des Lazarus (Joh 11,41), die Brotvermehrung (Mk 8,6) entsprießen aus seinem Gebetsleben. Auf der Höhe seiner Wirksamkeit, da seine Jünger von erfolgreichem Missionswirken zurückkehrten, „frohlockte er im Geiste und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde“ (Lk 10,21). Vor allem atmen die Großtaten seiner Passion den Geist und Adel des Gebetes. Im Abendmahlssaal weiht er sich und die Seinen dem Vater und stiftet dankend und segnend das neue Bundesmahl in seinem Blute. In Gethsemane fällt er auf sein Angesicht und betet: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt 26,39). Sein qualvolles Sterben auf Golgotha war ein in immer neuen Gebetsstufen sich behauptendes Ringen um den Willen des Vaters. Das Inwendigste und Unwandelbare im Denken und Tun Jesu ist seine innigste Verbundenheit mit dem Vater. Sie ist das Existentielle in seinem Leben, der Kern seines Lebenswillens.
Das Gebetsleben Jesu ist gekennzeichnet durch seine Zurückhaltung und Verborgenheit. Nirgends betet er lieber als in der Einsamkeit, wo kein anderer Mensch ist, wo nur der Vater ist. „Und da er das Volk entlassen hatte, stieg er auf einen Berg, um allein zu beten. Und es war sehr spät. Und er war dort allein“ (Mt 14,23=Mk 6,46; Joh 6,15). In nächtlicher Einsamkeit fand er seinen Vater. Ihn allein. Die von ihm erhaltenen Gebete sind von stärkster Ergriffenheit. „Ich danke dir, Vater, dass du mich erhört hast“ (Joh 11,41). „Vater, nicht wie ich will, sondern wir du willst“ (Mt 26,39). „Ich preise dich, Vater, dass du dieses den Weisen und Verständigen verborgen, den Kleinen aber geoffenbart hast. Ja, Vater, also war es wohlgefällig vor dir“ (Mt 11,25f.). Um Jesus ist nicht bloß die gewöhnliche Einsamkeit des Frommen. Um ihn ist die geheimnisschwere Einsamkeit des Sohnes. Wenn Jesus betet, tritt er aus dem Kreis der Menschen heraus, um sich ausschließlich in den Lebenskreis seines Vaters zu stellen.
Jesus braucht die Menschen nicht. Er braucht keinen einzigen. Er braucht nur den Vater. Die Jünger leben beinahe drei Jahre mit ihm zusammen. Niemals bespricht er sich mit ihnen über seine Pläne und Entschlüsse. Niemals fragt er sie um Rat. Niemals holt er sich von ihnen Trost und Beruhigung. Als er einige von ihnen auf den Ölberg mitnahm und ihnen einschärfte: „Bleibt hier und wacht mit mir“ (Mt 26,38), tat er es nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen. Sie sollten sich für die kommende Gefahr bereiten. „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet“ (Mt 26,41). Die Jünger geben ihm nichts. Er gab ihnen alles. Auch seine Liebe zur Mutter war immer eine verhaltene, entsagende Liebe. Es gab in Jesus ein Innerstes, zu dem nicht einmal seine Mutter Zutritt hatte, wo nur allein der himmlische Vater war. Der innerste Punkt seiner Seele war völlig menschenleer, völlig erdenfrei, allen irdischen Beziehungen entrückt, allein dem Vater geweiht.
Der innerste Lebenskreis Jesu ist seine Wesens- und Lebensbezogenheit zum Vater. Sein Beten ist nichts anderes als ein immer neues Fühlungnehmen mit dem Vater, eine beglückende Nötigung, die Einsamkeit seines Ichs im Du des Vaters zu entspannen und auszulösen. Er schließt sich mit dem Vater in eine Einheit zusammen, an der niemand von den Menschen teilhat. So oft Jesus von den Menschen und von ihrer Beziehung zum himmlischen Vater spricht, vermeidet er es geflissentlich, sich selbst darin einzuschließen. Gott ist „ihr“ Vater, „euer“ Vater. Jesus allein betet „mein Vater“. Der Vater, zu dem er ruft, gehört ihm in ganz besonderem Sinne an. Jesus legt den Menschen ans Herz zu flehen; „Vergib uns unsere Schuld, führe uns nicht in Versuchung“. Aber er persönlich kennt diese Bitte nicht. Niemals ist über seine Lippen der Flehruf gegangen: „Vater, vergib mir.“ Er betet wie einer, der die Sünde nicht kannte. Eben deshalb sind seine Gebete zum großen Teil nicht Bittgebete, sondern Lob und Dankgebete. Nicht wie ein Bettler steht Jesus vor seinem himmlischen Vater, erst recht nicht wie ein verlorener Sohn. Mit unbefangenen strahlenden Kinderaugen schaut er zu ihm auf und schließt sich mit ihm zu einer innigsten persönlichen Gemeinschaft zusammen. Noch niemals, seitdem wir von Gebeten und Opfern auf Erden wissen, hat ein Sünder, hat ein Frommer, ein Heiliger so gebetet.
Welches Bild hat Jesus von Gott? Er ist der allwirkende, schöpferische Gott. Sein Gott kleidet die Lilien, nährt die Raben. Und wie das Leben der Natur wirkt er das Leben der Geschichte. Alle führenden Geister der Menschheit, die Propheten und der Täufer, sind von ihm gesandt. Das Weltgeschehen, die Menschheitsgeschichte ist für Jesus ein Offenbarwerden des lebendigen Gottes. Darum nimmt er diese Dinge und Menschen in seine Liebe auf. Seine Weltliebe ist angewandte Gottesliebe. Jesus liebt alle Menschen und Dinge, weil sie ihm nicht bloß ein Zeichen, sondern eine Erscheinung des göttlichen Willens sind. Jesus weiß um die Freiheit und Unbedingtheit des göttlichen Willens. Gott ist ihm der absolute freie Wille, das absolute freie Können, vor dem jedes andere Wollen und Können zerstäubt: „Bei Gott ist alles möglich“ (Mk 10,27). Er kann dem Vater Unglaubliches zutrauen, weil er den wirkenden Gott überall und jederzeit unmittelbar am Werke sieht. Das schöpferische Wirken Gottes ergreift er unmittelbar im Jetzt und Hier der Dinge. In dem schauenden Erleben des allwirkenden Gottes gründet die Sicherheit und die Zuversicht, mit der Jesus die Möglichkeiten des Geschöpflichen durchbricht, um die Möglichkeiten Gottes zu verwirklichen, Wunder und Zeichen zu vollbringen, nicht nur Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen, sondern auch die Erweckung von Toten. Seine Wunder sind ein überwältigendes Zeugnis der unbedingten Verbundenheit seines menschlichen Willens mit dem Allmachtswillen des Vaters. Sie sind ein einzigartiges, unerhörtes Ja zum wirkenden, schaffenden Gott.
Mit dem unmittelbaren Schauen und Erleben des allwirkenden Gottes verbindet sich die Gewissheit vom allheiligen Gott. Dieser heilige Gott steht in der Seele Jesu, blitzt aus seiner Verkündigung und verklärt sein eigenes Leben. Der Wille Gottes ist wesenhaft Wille zum Sittlich-Guten, zu dem, was Gott der Herr in seinen zehn Geboten vom Menschen fordert, vor allem, was er in seinem „größten und vornehmsten Gesetz“ (Mt 22,38) zur Pflicht aller Pflichten erhoben hat: „Du sollst Gott deinen Herrn lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deinem ganzen Gemüt und den Nächsten wie dich selbst.“ Religion ist ihm restloser Gehorsam gegenüber dem fordernden Gott, Gehorsam bis zum Äußersten. Darum gibt es in ihr Verdienst und Lohn, Missverdienst und Strafe, Himmel und Hölle. In diesen Gegensatzpaaren offenbart sich Jesus der absolute Gegensatz von Gut und Böse, das ewige Ja und Nein der Heiligkeit Gottes. Und wie er predigte, so war er, der verkörperte Wille des heiligen Gottes. „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat“ (Joh 4,34). Wo immer wir Jesus in den Evangelien sehen und hören, in der Wüste, am Krankenbett, beim Hochzeitsfest und am Kreuz, immer ist er daran, den Willen des Vaters zu tun. Sein Weg ist ein fortgesetzter Weg zur Höhe. Und er geht ihn gerade da, wo er am steilsten ist. Ein Jeremias, ein Paulus, ein Augustinus, ein Buddha, ein Mohammed: man kann ihr Leben nicht beschreiben, ohne zugleich von gewaltigen Erschütterungen und Wandlungen und von ihren seelischen Niederlagen zu berichten. Jesu Leben allein verläuft ohne Krisen und ohne ein seelisches Erliegen. Sein erster und sein letzter Tag leuchten in der herben Klarheit des allerheiligsten göttlichen Willens.
Der Eindruck des Heiligen, des schlechthin Unschuldigen und Reinen verstärkt sich noch, wenn wir unseren fragenden Blick von seinem äußeren Tun auf sein inwendiges Begehren und Streben richten. Wir finden darin nichts als den Willen seines Vaters allein. Wohl liebt er die Heimat und die Seinen. Er bricht in Tränen aus, da er Jerusalems und seines Untergangs gedenkt (Lk 19,41). Seine eigene Verkündigung entbehrt nicht eines nationalen Einschlags (Mk 7,27; Mt10,5). Und doch verlässt er die Seinen um des Vaters willen, und doch sieht und bejaht er in Jerusalems Untergang den zürnenden, strafenden Willen seines Vaters. Und wie die Bindungen der Heimat und Familie, so fallen für ihn auch die übrigen irdischen Fesseln dahin. Er ist der Freieste unter allen Freien, weil er wie keiner der Knecht Gottes ist. Die goldenen Ketten des Besitzes und des Reichtums drücken ihn nicht. „Der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt 8,20=Lk 9,58). Irdische Ehren, der Beifall der Menge verlocken ihn nicht. Er verwehrt es, von seinen Wundertaten zu erzählen. Nicht ihm, sondern dem Vater sollen die Geheilten danken (Lk 17,18). Als sie ihn zum König ausrufen wollen, verbirgt er sich (Joh 6,15). Die Freuden des Familienlebens begehrt er nicht. Niemals sucht er das Seine. Das Mitleid, das ihm die weinenden Frauen auf seinem Kreuzweg entgegenbringen, wehrt er ab (Lk 23,28). Wo wir nur immer in der Seele Jesu suchen, wir finden nichts von rein irdischen Neigungen und Sehnsüchten. Selbst der stärkste Trieb, den ein Mensch haben kann, der Trieb zum Leben, ist von seinem Willen zum Vater aufgenommen und überwunden. „Wer sein Leben verliert, der wird es gewinnen“ (Mt 10,39). Das irdische Leben hatte ihm nichts zu geben und nichts zu nehmen.
Wir stehen auf dem granitenen Boden der Geschichte. Es hat tatsächlich einmal einen Menschen gegeben, der sich in innigster Lebens- und Liebesverbundenheit mit seinem Vater im Himmel wusste, der Gottes Schöpferwirken wie mit bloßen Augen sah, dessen ganze geschichtliche Erscheinung die Erscheinung des Heiligen war. Dieser einmalige und einzigartige Mensch ist der Sohn Gottes, der Sohn Mariens.
Amen.