1. Dezember 2024
Gestalt und Wesensart Jesu
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die zweite Person in Gott ist ein Mensch geworden. Das ist der Inhalt des Festes der Christgeburt. Was ist das für ein Mensch? Wie ist seine Ausstattung? Wie hat er gelebt? Diese Fragen wollen wir uns heute und an den folgenden Adventssonntagen stellen. Sie sind unentbehrlich. Denn wir müssen Christus kennen lernen, damit wir ihn lieben und immer treuer folgen können. Jesu Geburt fällt wohl in den Herbst des Jahres sieben vor unserer Zeitrechnung. Damals fand eine Konjunktion der Planeten Jupiter und Saturn statt. Sein Todestag ist auf den 7. April des Jahres 30 anzusetzen. Jesus war danach 37 Jahre alt, als er hingerichtet wurde. Wenn man seine öffentliche Wirksamkeit auf drei Jahre ansetzt, war er 34 Jahre alt, da er seine Heimat aufgab und an den Jordan zog, um sich von Johannes taufen zu lassen. Er stand somit auf der Höhe seines Lebens und seiner Kraft, als er seine Verkündigung begann. Wie mag seine äußere Erscheinung gewesen sein? In seiner Tracht unterschied er sich gewiss nicht von den Juden und den Rabbinen seiner Zeit. „Er ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch empfunden“, schreibt Paulus (Phil 2,7). Jedenfalls ging er nicht in einem auffälligen, den strengen Asketen verratenden Gewand wie sein Vorläufer Johannes, der nach Prophetenart mit einem Lendenschurz von Kamelhaaren umgürtet war. Wie seine Landsleute trug er für gewöhnlich einen Hemdrock aus Wolle, ferner einen Gürtel, der zugleich als Geldtasche diente (vgl. Mt 10,9), dazu einen Mantel (vgl. Lk 6,29), sowie Sandalen (vgl. Apg. 12,8). Aus seiner Leidensgeschichte erfahren wir, dass sein Hemdrock „ohne Naht war, von oben an ganz durchwoben“ (Joh 19,23). Auf seinen weiten Wanderungen schützte er sich gegen die sengenden Sonnenstrahlen mit dem herkömmlichen weißen Schweißtuch, das Haupt und Hals umhüllte. Petrus fand es später in seinem Grab (Joh 20,7). Im Übrigen verpönte Jesus jedes „ängstliche Sorgen“ um die Kleidung (Mt 6,28). Auch in leiblicher Hinsicht vermied er alles Auffallende, Befremdliche. So trug er zweifellos den landesüblichen Vollbart. Überhaupt war ihm, wie die Evangelien deutlich bekunden, eine verständige Leibespflege nicht fremd. Er warnte vor einer Überschätzung der bei seinem Volk üblichen kultischen Waschungen und verurteilte es, wenn die Pharisäer „die Becher und die Schüsseln von außen reinigten, inwendig aber voll Raub und Schmutz sind“ (Mt 23,25). Er hielt auf Reinlichkeit und vernünftige Körperpflege. Sogar für die Zeit der Buße und des Fastens, ja gerade für sie, empfiehlt er Waschungen und Salbungen.
Jesu leibliche Gestalt muss einnehmend und gewinnend gewesen sein. Wir haben keine ausdrückliche Mitteilung darüber. Allein das Zeugnis des Lukas (2,52), dass Jesus in seiner Kindheit „an Gnade vor Gott und den Menschen“ zugenommen habe, deutet nicht nur auf ein Wachstum seiner seelischen, sondern auch seiner leiblichen Anmut. Darüber scheint auch Jesu seltsame Bemerkung über die Ausdruckkraft des gesunden Menschenauges zu verweisen. „Das Licht deines Leibes ist dein Auge. Ist dein Auge gesund, so wird dein ganzer Leib erleuchtet sein“ (Mt 6,22). Jesus sprach dies wohl aus seiner persönlichen Erfahrung heraus. Es muss etwas Strahlendes, Leuchtendes von seiner Erscheinung ausgegangen sein, das alle feinfühligen Menschen, zumal die Frauen und Kinder, fesselte und zu ihm hinzog. Eine Frau aus dem Volke brach ganz unvermittelt in den Lobpreis aus: „Selig der Leib, der sich getragen hat, und die Brust, die du gesogen hast“ (Lk 11,27). Die korrigierende Antwort Jesu: „Selig sind, die das Wort Gottes hören und es befolgen“ (11,27) verrät, dass die Frau neben den geistigen Vorzügen Jesu doch wohl auch leibliche im Auge gehabt hatte.
Jesus übte bei seinem erstmaligen Auftreten auf das gewöhnliche Volk, zumal auf die Kranken sowie die Sünderinnen und Sünder, einen gewaltigen Eindruck aus. Er war gewiss von geistigen und religiösen Kräften getragen, aber ein Teil seiner Wirkung war auch seiner hinreißenden äußeren Erscheinung zu verdanken, die jeden in ihren Bannkreis zog und darin festhielt. Besonders auffällig muss das Auge Jesu, sein zündender, weckender, strafender Blick gewesen sein. Es ist bezeichnend, dass Markus nicht selten, wenn er ein bedeutsames Herrenwort berichtet, die Wendung gebraucht: „und er blickte sie an und sprach“ (Mk 3,5.34; 5,32; 8,33; 10,21.23.27). In seinem Blick lag etwas, was herrscherlich und bezwingend war.
Mit der äußeren Wohlgestalt Jesu verband sich der Eindruck des Gesunden, Kraftbeschwingten, Disziplinierten in der Erscheinung Jesu. Nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Evangelien muss Jesus ein überaus leistungsfähiger, abgehärteter und kerngesunder Mann gewesen sein. Schon dadurch unterscheidet er sich von anderen Religionsstiftern. Mohammed war ein kranker Mann, erblich belastet, in seinem Nervenleben zerrüttet, als er die Fahne des Propheten entrollte. Buddha war innerlich zerbrochen, verlebt, ausgelebt, als er die Welt verließ. Von Jesus hören wir niemals, dass er von irgendeiner Krankheit heimgesucht worden wäre. Alle Leiden, die über ihn kamen, waren Berufsleiden, Entbehrungen und Opfer, die ihm seine messianische Sendung auferlegte. Sein Leib muss in nicht gewöhnlichem Maße abgehärtet gewesen sein. Darauf verweist schon seine Gewohnheit, am frühesten Morgen an seine Aufgaben zu gehen. „Und des Morgens stand er sehr früh auf und kam an eine wüste Stätte und betete daselbst“ (Mk 1,35). „Nach Tagesanbruch rief er seine Jünger zu sich und wählte zwölf von ihnen aus“ (Lk 6,13).
Denselben gesunden, frischen, unverbrauchten Sinn atmet seine Freude an der Natur. Besonders liebte er die Berge und den See. Gern stieg er nach anstrengender Tagesarbeit auf einsame Höhen. Noch spät am Abend ließ er sich auf den schimmernden Wassern des Sees Genesareth in die Nacht hineinfahren (Mk 4,35; 6,23). Wir wissen ferner, dass sein ganzes öffentliches Leben ein Wanderleben war, ein Gehen und Wandern durch die Bergtäler seiner Heimat, ein Gehen und Wandern von Galiläa nach Samaria und Judäa, ja bis in das Gebiet der Zehn Städte und bis in die Gegend von Tyrus und Sidon (Mt 15,21). Er machte diese Wanderung in einfachster Ausrüstung, so wie er es auch von seinen Jüngern haben wollte: „Nehmet nichts mit auf den Weg, keinen Stab und keine Tasche, kein Brot und kein Geld“ (Lk 9,3). So waren oft der Hunger und der Durst seine Begleiter. Unter diesen Umständen stellt noch sein letzter Aufstieg von Jericho nach Jerusalem eine erstaunliche Leistung dar. Bei heißestem Sonnenbrand musste er auf schattenlosen Wegen über ödes Felsengewirr hinweg in sechsstündigem Marsch eine Steigung von mehr als tausend Metern überwinden. Und das Erstaunliche war: Jesus zeigt keine Müdigkeit. Noch am gleichen Abend nimmt er an einem Festmahl teil, das ihm Lazarus und seine Schwestern bereiteten (Joh 12,2). Der weitaus größte Teil des öffentlichen Lebens Jesu spielt sich nicht im traulichen Heim, sondern in der freien Natur ab, allen Unbilden der Witterung ausgesetzt. Auch die Stätten seiner Geburt und seines Todes lagen außerhalb der menschlichen Behausung. Zwischen dem Stall von Bethlehem und dem Hügel von Golgotha vollendet sich ein Leben, das heimatloser und ärmer war als das Leben der Vögel in ihren Nestern und der Füchse in ihren Höhlen. Wenn Jesus in Häuser kam, waren es die Wohnstätten seiner Freunde und Bekannten. Er selber hatte nicht, wo er sein Haupt hinlegen konnte (Mt 8,20). Es kann wohl nicht zweifelhaft sein, dass Jesus viele hundert Male im Freien übernachtete, und dass ihm die Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels nicht zuletzt von daher so vertraut waren. Nur ein kerngesunder Leib war solchen Ansprüchen gewachsen.
Dazu war dieses Wanderleben mit Arbeit und Mühe ohnegleichen ausgefüllt. Wiederholt bemerkt Markus: „Sie hatten nicht Zeit zu essen“ (Mk 3,20; 6,31). Bis tief in den Abend kamen und gingen die Kranken (Mk 3,8). Und mit den Kranken kamen und gingen hämische Gegner, Pharisäer und Sadduzäer. Da prallte Wort gegen Wort, Geist gegen Geist. Da gab es aufregende Streitreden, gefährliche Kämpfe und Spannungen. Dazu die ermüdenden Auseinandersetzungen mit den eigenen Jüngern, die schwere Last, die ihm ihr Unverstand und ihre Selbstsucht auferlegten. Jede kranke oder auch nur schwache Konstitution hätte hier versagen und zusammenbrechen müssen. Jesus versagte niemals und nirgends, selbst nicht in den aufregendsten und gefährlichsten Lagen. Mitten im rasenden Sturm des Sees Genesareth schlummert er weiter auf seinem Kissen, bis ihn die Jünger wecken. Dann, aus tiefem Schlaf gerissen, findet er sich sofort in die Situation und meistert sie überlegen. Jedes fahrige, aufgeregte Wesen war ihm fremd. Er beherrschte sein Sinnenleben.
Wie gab sich Jesus selbst als schlichter Mensch? Wie haben wir uns ihn nach seiner rein menschlichen geistigen Struktur vorzustellen? Die Evangelisten geben uns hierüber eindeutigen Bescheid. Was ihnen an der menschlichen Wesensart Jesu vor allem auffiel, ist die ungeheure Zielklarheit seines Denkens und die davon getragene Straffheit, Geschlossenheit seines Wollens, die zielharte Männlichkeit, mit der er den Willen des Vaters als seine Aufgabe sieht und bis zum Verströmen seines Blutes durchführt. Schon in seinem Sprachgebrauch, in den immer wiederkehrenden Wendungen: „Ich bin gekommen“, „Ich bin nicht gekommen“ spricht sich dieses entschlossene, harte Ja und Nein seines Lebens aus. „Ich gekommen, nicht den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34). „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder“ (Mt 9,13). „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren war“ (Lk 19,10). „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben zur Erlösung für viele“ (Mt 20,28=Mk 10,45). „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern sie zu erfüllen“ (Mt 5,17). „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und was will ich anders, als dass es brenne“ (Lk 12, 49). Jesus weiß, was er will, und er weiß es von Anfang an. Bereits als Zwölfjähriger bringt er in der Tempelszene zu Jerusalem sein Lebensprogramm zu deutlichem Ausdruck: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49). Die drei Versuchungen in der Wüste sind eine sieghafte Auseinandersetzung mit der gottwidrigen Möglichkeit, seine messianische Gewalt zu egoistischen Zwecken und nicht zum Aufbau der Gottesherrschaft zu gebrauchen. Wir sehen, wie Jesus gleich zu Beginn der öffentlichen Wirksamkeit den Weg geht, den ihm der himmlische Vater bestimmt hat.
In der Folgezeit waren es nicht bloß seine Feinde, die ihn davon abzubringen suchten. Wenigstens an drei Stellen werden Einflüsse aus seinem eigenen Kreis spürbar, die ihn von dem ein für allemal eingeschlagenen Passionsweg abdrängen wollten. In Kapharnaum setzte der Widerstand seiner eigenen Angehörigen ein. Sie suchten sich seiner zu bemächtigen (Mk 3,21). Bei Cäsarea Philippi entschloss sich Petrus zum offenen Protest. „Das sei ferne von dir, Herr, das darf dir nicht widerfahren“ (Mt 16,22). Zuletzt, als Jesus vom Essen seines Fleisches und vom Trinken seines Blutes sprach, kam es zu einem Massenabfall der eigenen Anhänger: „Da zogen sich viele von seinen Jüngern zurück und gingen nicht mehr mit ihm“ (Joh 6,66). Aber Jesus schritt seinen Weg weiter, entschlossen, ihn, wenn nötig, ganz allein und einsam zu gehen. Kein Wort der Beruhigung hat er für seine Jünger, sondern nur die scharfe, knappe Frage: „Wollt auch ihr gehen?“ (Joh 6,67). Das ist Jesus: der Mann des klaren Wollens, der zielsicheren Tat. Im ganzen öffentlichen Leben Jesu ist kein Augenblick auffindbar, wo er überlegt, wo er unschlüssig schwankt oder wo er gar ein Wort oder eine Tat rückgängig macht. Dasselbe gestraffte, zielklare Wollen verlangt er von seinen Anhängern. „Wer die Hand an den Pflug legt und rückwärts schaut, ist nicht tauglich für das Reich Gottes“ (Lk 9,62). „Wer einen Turm baut, setzt sich zuvor hin und berechnet die nötigen Kosten“ (Lk 14,28). „Wer einen König bekriegt, zählt vorher seine Truppen“ (Lk 14,31).
Es ist seine eigene, ganz persönliche Art, die er hier den Jüngern einprägt. Das unüberlegte, vorschnelle Handeln, das unsichere Schwanken oder gar das Paktieren und das Kompromissesuchen ist nicht seine Sache. Jesus ist immer der Ganze, der Fertige, weil er niemals anders als mit seiner ganzen hellen Bewusstheit und mit seinem vollen starken Lebenswillen redet und handelt. Darum kann er, er allein, den Imperativ wagen: „Eure Rede sei Ja für ein Ja und Nein für ein Nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“ (Mt 5,37). Sein Wesen und Leben ist ganz und gar Einheit, Geschlossenheit, Helligkeit, ursprüngliche Klarheit und Wahrheit. Es trug derart das Merkmal des Echten, des Wahren, des Aufrechten und Starken, dass selbst seine Feinde sich diesem Eindruck nicht entziehen konnten. „Meister, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und dich vor niemand scheuest“ (Mk 12,14). Hier liegt der Punkt, wo sein Lebenskampf gegen die Pharisäer einsetzte und von wo sein Weg unmittelbar zum Kreuz hinführte. Das war in psychologischem Betracht sein tragisches Verhängnis: die Wahrheit und die Echtheit seines Wesens, die Treue zu sich selbst im Dienst seines Vaters. Er musste sterben, einen grausamen Tod, weil er damit unser Leben erkaufte.
Amen.