Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Seele
3. November 2024

Die Seele

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

I.

Der Glaube der Kirche hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass jeder Mensch eine geistige Seele besitzt, die unzerstörbar ist und auch nach dem Tod des Leibes weiterlebt. „Der Leib unseres Herrn Jesus Christus bewahre deine Seele zum ewigen Leben.“ So spricht der Priester, wenn er einem Gläubigen die konsekrierte Hostie reicht. Hier ist von der Existenz der Seele des Menschen und von ihrer Unvergänglichkeit die Rede. Katholische Christen beten: O Gott, gib den Verstorbenen die ewige Ruhe; sie beten für die armen Seelen im Fegfeuer. Sie wissen um die Gemeinschaft der Heiligen in der streitenden, in der leidenden und triumphierenden Kirche. Nun ist aber die Seele weder zu sehen noch zu greifen. Und es gibt Menschen und Vereinigungen, welche die Existenz der Seele leugnen. Der materialistische Monismus anerkennt nur die Wirklichkeit des Stoffes und bestreitet das Dasein einer unstofflichen, geistigen Seele. Sind wir wehrlos gegenüber dem Bestreiten der geistigen Seele? Oder können wir nicht nur aus dem Glauben, sondern auch mit der Vernunft beweisen, dass wirklich jeder Mensch eine Seele besitzt? Wir wollen heute versuchen, diesen Beweis zu führen. Es ist wahr. Die Seele entzieht sich in ihrem eigentlichen Sein und Wesen der anschaulichen Erfahrung. Aber sie offenbart sich in der reichen Mannigfaltigkeit ihres Erlebens und Tätigseins. Dieses ist wie jedes andere Tatsachengeschehen empirisch fassbar und konstatierbar. Von ihm aus kann man dann durch schlussfolgerndes Denken zur Erkenntnis der Natur und des Wesens der Seele vordringen. Sie offenbart sich hier als ein substantielles, geistiges, individuelles Sein, die das ganze menschliche Sein und Leben bedingt. Die Menschenseele offenbart sich in ihren Äußerungen und Betätigungen als Substanz, d.h. als ein in seiner Existenz selbständiges wirkliches Seiendes, das im Wechsel seiner Zuständlichkeiten und Qualitäten Bestand hat und mit diesen in lebhaftem Wirk- und Beziehungszusammenhang steht.

II.

Woher kommt der Gedanke? Aus dem Gehirn? Eine medizinische Zeitschrift schrieb in einer Studie über „Seele und Gehirn“: Nach der Feststellung Claude Bernards (1813-1878), des berühmten Biologen, hat „die Behauptung, der Gedanke sei nichts anderes als eine Ausscheidung des Gehirns, keine andere Bedeutung als die Behauptung, die Zeit sei eine Ausscheidung der Uhr“. Der Gedanke ist nichts Stoffliches, sondern etwas Geistiges. Darum stammt er nicht aus dem Körper (Gehirn), sondern von der Seele (Geist). Der Körper ist nur der „Sende- und Empfangsraum“ der Seele. Das Gehirn spielt die Rolle einer Telefonzentrale. Die Geistseele verhält sich zum Gehirn wie der Künstler zum Instrument. Sie sind nicht dasselbe, aber aufeinander angewiesen, voneinander abhängig. Niemand bestreitet die Unentbehrlichkeit des Gehirns für unser Leben. Aber das Gehirn ist nicht die Seele; es ist ein Werkzeug der Seele. Die Akte unseres Erkennens, Denkens und Wollens richten sich nach Gesetzen, die nichts mit den physikalisch-chemischen Gesetzen zu tun haben, denen die Prozesse in unserem Organismus unterliegen. Die Gesetze, nach deren sich das logische Denken richtet, sind völlig anderer Art als die der molekularen Gehirnvorgänge. Dass ich diese und keine anderen moralischen Werturteile fälle, hat nichts mit chemischen Umwandlungen im Nervensystem zu tun, wenn diese auch unerlässliche Vorbedingung dafür sein mögen, dass es überhaupt zum Denken und Urteilen kommt. Die geistigen Akte, aus denen Werke hervorgehen, folgen einer eigenen, neuen Gesetzlichkeit, die mit den naturwissenschaftlich fassbaren Prozessen, die sich im Menschen abspielen, nichts zu tun hat.

III.

Schon die bloße Tatsache des seelischen Lebens in seinen Hauptäußerungen des Wahrnehmens, Denkens und Wollens verlangt notwendig ein wirkliches, reales Etwas, ein Seiendes, welches alle diese Vorgänge erlebt und diese Fähigkeiten entfaltet. Jede Tätigkeit hat zu ihrer Voraussetzung ein Tätiges. Eine subjektlose Tätigkeit ist ein schlechthin unvollziehbarer Gedanke. Dazu kommt Folgendes. Die meisten unserer seelischen Erlebnisse sind nicht etwas bloß Momentanes, Flüchtiges, sondern erstrecken sich über eine gewisse Zeit. Empfindungen, Denkbewegungen und Strebungen des Willens dauern an. Die Verfolgung eines hohen Zieles kann die einzelne Seele Tage, Wochen, ja auf Jahre hinaus denkend und wollend in aktiver Spannung halten. Denken Sie an das Erlernen eines Berufes oder an die Absolvierung eines Studiums. Solche Dauer seelischer Erlebnisse und Tätigkeiten über längere Zeit hin ist nicht möglich ohne ein konstantes, beharrendes, die einzelnen Akte überdauerndes und sie zur Einheit zusammenfassendes Subjekt. Ohne solchen Bestand eines seelischen Seins im Menschen wären so bedeutsame Menschheitsaufgaben wie Unterricht, Erziehung und Wissenschaft durchaus unmöglich. Erfolgreicher Unterricht kann nicht sein ohne das Fortdauern und Beharren eines geistigen Subjektes, das den Inhalt des Unterrichts in sich aufnimmt und erkenntnismäßig sich zu eigen macht. Erziehung und Bildung haben nur dann Sinn und Aussicht auf Erfolg, wenn es ein wirkliches bleibendes Subjekt gibt, das den erziehlichen Beeinflussungen zugänglich ist. Darin offenbart sich eine wirkliche, in ihrem Sein selbständige und beharrende, d.h. substantielle Seele.

IV.

Die geistige Seele des Menschen hat, obwohl die tatsächliche Verbindung mit dem Leib nicht Bedingung ihrer Existenz ist, als Wesensform des Leibes eine wesensnotwendige Beziehung zu ihrem Leib. Als solche Form bildet sie im sinnlichen Erkennen und Streben eine Wirkeinheit mit dem Körper; sie ist auch im geistigen Tun, solange die Verbindung mit dem Körper dauert, wenigstens indirekt an stoffliche Vorbedingungen ihres geistigen Tuns gebunden. Doch es will beachtet werden: Die Zellen ändern sich und vergehen, doch der Mensch, der bleibt. Der Körper erneuert sich vollständig innerhalb von sieben Jahren. Jeder von uns hat heute einen anderen Leib als vor zehn oder zwanzig Jahren. Der Körper hat einen totalen Stoffwechsel durchgemacht. Das Fleisch, das Blut, die Nerven, das Gehirn sind sich nicht gleichgeblieben. Aber eines ist geblieben trotz allen Wechsels: das Bewusstsein, dass ich derselbe bin. Das „Ich“ ist die Seele. Niemand könnte sagen: Ich habe vor zehn oder zwanzig Jahren das getan, wenn der Stoff dieses „ich“ wäre. Ist der Stoff nicht mehr da, dann ist auch das damalige „ich“ nicht mehr vorhanden. Wäre das richtig, dann könnte ich auch nicht mehr für Taten von früher verantwortlich gemacht werden, da ich ein ganz anderer geworden bin. Denken Sie an folgenden Fall: Erich Mielke trat mit 18 Jahren der KPD bei und wurde in deren „Selbstschutz“ leitend tätig. Der Ermordung von zwei Polizeioffizieren angeklagt, floh er 1931 zuerst nach Belgien und danach in die Sowjetunion. In der DDR war er maßgeblich am Aufbau des Staatssicherheitsdienstes beteiligt und erhielt den höchsten Rang eines Armeegenerals. Mord verjährt nicht. Nach der Wende wurde er (am 26.10.1993) vom Landgericht Berlin für die Erschießung der Polizisten 1931 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Der Mielke von heute ist derselbe wie der Mielke von gestern. Er kann sich nicht herausreden: Ich bin nicht der Mielke von 1931. Was ist also die Brücke, die sich unberührt vom ständigen Fluss des Stoffes über allem Wechsel der Materie wölbt, über alle Änderung von Jugend-, Mannes- und Greisenalter? Es ist das Bewusstsein des eigenen Ich. Dieses aber ist nicht Sache des Stoffes, der Materie, sondern ein Selbstzeugnis des Geistes, der Seele.

V.

Dass der Mensch mehr ist als eine bloße Stoffwechselmaschine, zeigt seine Fähigkeit, ins Übersinnliche, also rein Geistige vorzustoßen. Der Mensch kann nicht bloß sehen, er kann auch einsehen. Er kann in abstrakten Begriffen denken und reden, was über das Vermögen materieller Kräfte hinausgeht. Sinnlich vorstellen lässt sich ein Einzelmensch, z. B. Goethe, nicht aber der Allgemeinbegriff „Mensch“. Die Seele kann es. Ich gehe noch weiter. Die Seele kann nicht nur Übersinnliches erkennen, sondern auch durch Übersinnliches in sich Lust- oder Unlustgefühle hervorrufen. Ja, der Mensch kann um der rein geistigen Güter willen auf sinnliche Güter verzichten. Pflanzen und Tiere kann man nicht für geistige Ideale begeistern. Sie besitzen zwar ein Gehirn, aber keinen Geist, keine Seele. Mit dem Erfassen und Erstreben übersinnlicher geistiger Werke (z. B. Tugenden) hängt auch des Menschen sittliches Streben und kultureller Fortschritt zusammen. Das hebt ihn über das Tier hinaus und macht ihn zur Krone der Schöpfung. Auf seiner geistigen Selbst-Tätigkeit beruht letztlich die geistige Selbst-Ständigkeit und damit die vom Stoff unabhängige geistige Unsterblichkeit der Seele.

VI.

Es ist durchaus unzureichend, allein das Bewusstsein und die geistigen Tätigkeiten des Menschen als Seele zu bezeichnen. Handlungen und Befindlichkeiten bedürfen eines Trägers. Bewusstsein im eigentlichen Wortsinn besagt eine Art Begleit-Wissen um das eigene seelische Sein und seine augenblicklichen Befindlichkeiten. Durch dieses Begleit-Wissen kann der Mensch um seine Lebenstätigkeiten wissen, kann er seine Erlebnisse haben. Das reflexe, d.h. ausdrücklich gemachte Bewusstsein macht es uns möglich, zwischen Ich, Akt und Objekt zu unterscheiden, uns gleichsam von ihnen zu distanzieren, nach ihren gegenseitigen Beziehungen, nach dem logisch-formalen, erkenntnistheoretischen, ethischen Wert der Akte zu fragen und so zur Geisteskultur zu gelangen. Die Formen des reflexen Bewusstseins eignen nur dem geistigen Wesen, und die Fähigkeit dazu gehört zum Wesen des sich selbst besitzenden, bei sich seienden Geistes. Das Bewusstsein ist nicht bloße Begleiterscheinung der Materie, sondern verweist auf eine substantielle Seele. Die Seele ist nicht Bewusstsein, sondern sie hat es. Die Seele ist eine Substanz, das heißt das eine und beharrende Substrat der vielen und wechselnden Bewusstseinsvorgänge. Die körperliche Welt weist stets die Eigenschaften der Ausdehnung und der räumlichen Zusammensetzung auf. Das Bewusstsein ist keine ausgedehnte Größe. Liebe und Hass sind mehr und anderes als messbare elektrochemische Veränderungen des Gehirns. Das Bewusstsein ist eine einzigartige, neue, unräumliche Qualität.

VII.

Am deutlichsten offenbart sich die Seele als substantielle Einheit in der wesenhaften Einheit des menschlichen Bewusstseinslebens. Aus dem unmittelbaren Bewusstsein um sein Ich nimmt jeder Mensch die seelischen Erlebnisse als seine Erlebnisse in Anspruch. Wenn wir sagen: Ich denke, ich nehme wahr, ich will etc., stellen wir allen diesen verschiedenen geistigen Akten ein gemeinsames Prinzip derselben gegenüber, das sich zu ihnen als ihr Subjekt verhält. Solches Ichbewusstsein, das mit allen seelischen Erlebnissen untrennbar verbunden ist, verlangt notwendig ein sie erlebendes, von ihnen verschiedenes Subjekt, das eine wirkliche Seele sein muss. Die Seele steht als etwas Selbständiges, hinter und über den einzelnen Seelentätigkeiten, geht ihnen voraus, ist von ihnen verschieden, bringt sie hervor und trägt sie.

VIII.

Diese Betrachtung der Seele wird bestätigt durch die Vergleichbarkeit der mannigfaltigen Bewusstseinserlebnisse eines jeden Menschen. Damit Vergleichung möglich wird, müssen die zu vergleichenden Erlebnisse bewusst aufgefasst werden, und zwar von ein und demselben die Vergleichung übenden Subjekt. Dieses Subjekt muss ein Abwägen und Abschätzen des einen gegen das andere, eben das Vergleichen vornehmen. Dieses Vergleichen (z. B. von Aufsätzen der Schüler einer Klasse) kann infolgedessen nicht eine Tat der verglichenen Erlebnisse selbst sein. Sie fordern ein aktives Subjekt, welches die Erlebnisse als seinen Besitz hat und sie vergleichend einander gegenüberstellen kann, ein Subjekt also, das von den Erlebnissen selbst verschieden ist, aus eigener Kraft sie zusammenfasst und eint. Das aber kann nichts anderes sein als die reale, von den Erlebnissen verschiedene und unterschiedene, sie habende, sie einigende und vergleichende Seele. Diese Vergleichung kann nicht bloß bei gleichzeitigen Erlebnissen statthaben. Sie ist auch in weitem Umfang eine solche gegenwärtiger Erlebnisse mit vergangenen, ja mit vergangenen unter sich möglich. Das verlangt: Das seelische Subjekt muss im Ablauf und Wechsel der einzelnen Erlebnisse fortdauern und identisch ein und dasselbe bleiben. Diese Fortdauer wird besonders klar aus der Tatsache, dass wir längst vergangene seelische Erlebnisse immer wieder klar und deutlich als die unserigen erkennen und in der Erinnerung festhalten und weithin nach Belieben wieder reproduzieren können. Solches ist nur möglich, wenn das Subjekt des augenblicklichen Bewusstseins und das Subjekt beim ehemaligen ersten Erlebnis schon aktuell gewesenen numerisch ein und dasselbe ist. Nur eine stetige bleibende Seinseinheit, eben die reale Seele, gibt den Grund ab für die hier sich offenbarende Bewusstseinseinheit. Nichts garantiert mehr die Einheit und die Dauer dieses menschlichen Bewusstseinssubjektes (das wir Seele nennen) als die Tatsache der Erinnerung im Ichbewusstsein. Dieses fasst das ganze Leben eines jeden Menschen zu einer großen persönlichen Einheit zusammen. Diese Einheit wird nicht einmal durch Unterbrechungen des aktuellen Bewusstseins im Schlaf oder durch Zustände der Bewusstlosigkeit aufgehoben oder auch nur bedeutsam verändert. Die Erinnerung geht mit uns. Denken Sie an die Generalbeicht über einen längeren Abschnitt des Lebens oder an eine Lebensbeicht.

Manche Menschen, mit denen man über die Seele und ihre Unvergänglichkeit spricht, sagen: Es ist noch niemand herübergekommen. O doch! Einer ist von drüben herübergekommen, sogar zweimal, einmal bei seiner Menschwerdung und das andere Mal bei seiner Auferstehung von den Toten: Jesus Christus, der Sohn Gottes, der Sohn der Jungfrau Maria. Die Rettung der unsterblichen Seelen vor der Verdammnis war das Ziel seines Lebens, Leidens und Sterbens. Von daher kommt es, dass wir gläubig sprechen dürfen: Jeder Mensch besitzt eine unsterbliche Seele, das Embryo und der Fötus, der Geisteskranke und der Greis. Darauf beruht ihre Würde und ihre Unverletzlichkeit. Es gibt eine Seele. Sie ist unzerstörbar. Die Vernunft macht uns ihrer Geistigkeit und Unzerstörbarkeit gewiss. Für uns Christen ist der Tod nicht Ende, sondern Vollendung. Uns wird das Leben nicht entrissen, sondern verwandelt. Wenn die Herberge unseres Erdenwandels in Staub zerfällt, steht die ewige Heimat im Himmel bereit. Unsterblichkeit der Seele – kein Wahn, sondern vernünftiges Wissen, ja durch Christus selige Gewissheit. Wie sagt unser Herr und Heiland? „Ich sage euch, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, aber danach keine Macht haben, ein Übriges zu tun. Ich will euch zeigen, wen ihr fürchten sollt: Fürchtet den, der, nachdem er getötet hat, die Macht besitzt, in die Hölle zu stoßen. Ja, sage ich, den sollt ihr fürchten.“

Amen.

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