6. Oktober 2024
Das Leben aus dem Glauben
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der Inhalt des christlichen Glaubens lässt sich aussagen in Sätzen, die wir Dogmen nennen. Die Dogmen des Christentums sind etwas Objektives, das zu uns kommt und in uns eindringen will. Ihre Aufnahme ist der Glaube. Die Dogmen sind ein Wort, das zu uns gesprochen wird. Das Aufnehmen dieses Wortes ist der Glaube. Die Dogmen sind eine Forderung, die an uns gestellt wird. Die zustimmende Antwort ist der Glaube. Der Glaube ist eine Auseinandersetzung mit Dingen, die an uns herantreten und etwas von uns wollen. Die Dogmen bedeuten eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit Gottes und der göttlichen Werke. Auch die Sinnenwelt ist eine Wirklichkeit Gottes; auch in den sichtbaren und greifbaren Dingen ist Gott und begegnet uns. Aber da ist er wie in einer großen Ferne; da ist er als der große Schweiger, der Fremdling, der große Unbekannte, der durch die Welt geht. Man ahnt es kaum, dass er vorübergeht in den Stürmen und in den Morgenröten, in den Blutstropfen und in den Lichtsternen dieser Welt. Aber in den Dogmen des Christentums ist von einer Wirklichkeit Gottes und von Gotteswerken die Rede, in denen er uns nahekommt, so dass er mit vernehmbaren Worten zu uns spricht. Da ist er der liebe Gast, der vertraute Freund, der sich enthüllende, sich aufschließende, sich aussprechende Gott. Die Wirklichkeit, die in den Dogmen gemeint ist, gehört also einer höheren Art von Wirklichkeit an. Sie ist wirklicher als alles, was unsere Sinne wahrnehmen; denn sie enthüllt mehr, unendlich mehr von Gott; sie ist überfließend von Gottes Dasein. Daraus ergibt sich, dass auch der Glaube, mit dem wir diese Wirklichkeit aufnehmen, etwas Stärkeres sein muss als alles Sehen und Hören, mit dem wir die Sinneswelt erfassen.
Die Dogmen meinen eine Wirklichkeit. Also ist der Glaube, mit dem wir sie aufnehmen, nichts anderes als die Anerkennung dieser Wirklichkeit. Dass wir sie als wirklich annehmen, das geschieht mit dem bereitwilligen Eingehen auf ihr Dasein, ihre Gesetze und ihre Forderungen. Dass wir unser Leben den Gesetzen der Gnade, der Eucharistie, der Kindschaft Gottes anpassen. Das nennt man Leben aus dem Glauben, diese Anpassung unserer Lebensführung an die Tatsachen, die uns von den Dogmen verkündet werden. Wenn wir den Dogmen Glauben schenken, leben wir in zwei Welten, in der Wirklichkeit, die wir aus der Erfahrung kennen, und in der Wirklichkeit, die wir im Glauben umfassen. Dann sind wir Bürger zweier Welten. Das Verhältnis dieser beiden Welten ist dieses: Die eine ist die höhere, die andere Welt ist die niedere. Die eine ist ein ferne, die andere eine nahe Welt. Die eine ist eine unendlich erfüllte, die andere eine unendlich bedürftige Welt.
Die Welt des Glaubens ist die höhere Welt. Denn sie ist eine Welt des Geistes, der Persönlichkeit, der Liebe, der Gnade, der Gemeinschaft, der Freiheit und der Heiligkeit. Die andere Welt enthält zwar auch Geist, aber sie enthält auch Stoff, Triebe, Gewalt; sie enthält sogar Schuld und Minderwertigkeit. Darum liegt sie tiefer als die Glaubenswelt. Die erste große Schwierigkeit, die das Leben aus dem Glauben findet, besteht darin, dass, wer in die Glaubenswelt eintreten will, ein besonderes und eigenes Aufgebot von Kraft und Wille machen muss. Er kann sich nicht einfach treiben, nicht einfach gehen lassen. Nicht spielend und tändelnd, nicht schlafend und genießend wird man der Glaubenswelt gerecht, sondern nur schaffend und wollend, wachend und rufend. Dazu kommt, dass in unserem Menschentum ein Zug nach unten ist, ein Widerstreben gegen das Höhere. Wir alle folgen, wenn wir uns gehen lassen, lieber der Laune als dem Entschluss, lieber dem Trieb als dem Willen, lieber der Bequemlichkeit als der Notwendigkeit, lieber dem Sinnlichen als dem Geistigen. Der Glaubenswelt werden wir nur kämpfend gerecht. Wir müssen gegen uns selbst Krieg führen, müssen die Stimmen, die nach unten rufen, überhören; müssen die Kräfte, die nach unten ziehen, bändigen; müssen uns überwinden und sogar wehetun. Das ist die erste große Schwierigkeit, die das Leben aus dem Glauben findet. Es ist nicht die größte Schwierigkeit, aber es ist die nächstliegende, die uns allen und alltäglich bewusst und fühlbar wird, die erste große Schranke, der wir auf unserem Weg zur Welt Gottes begegnen. Und wie die Menschen tatsächlich sind, versagen sie schon vor dieser ersten Stufe. Die meisten Menschen werden ihr Leben lang nicht fertig mit ihr, bleiben entweder vor ihr liegen oder fallen immer wieder zurück in ein Leben, das nur der niederen Welt angehört. Christ wird und bleibt man nicht ganz von selbst. Die Dogmen des Christentums schließen Unannehmlichkeit und Unbequemlichkeit für uns ein und die Bereitschaft, solche Widerwärtigkeiten auf sich zu nehmen. Wer das begriffen hat, der wundert sich wenigstens nicht immer, dass er Opfer bringen soll für seinen Glauben; dass er nicht alles haben, nicht alles mitmachen, nicht alles genießen, nicht alles tun darf, was ihm eben einfällt, sondern dass täglich aus der Welt des Glaubens der Ruf an unsere Seele ergeht: Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich. Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und seine Begierden! Man kann nicht an die Güte und Gerechtigkeit Gottes glauben und zugleich der eigenen Selbstsucht und Habsucht rücksichtslos und erbarmungslos folgen. Man kann nicht mit Verehrung und Bewunderung zur gebenedeiten Mutter unseres Heilands aufblicken und zugleich jedes beliebige Frauenwesen als Spielzeug benutzen wollen. In all diesen Fällen heißt es, sich bemühen, sich überwinden, sich beherrschen, um das Abgleiten in die niedere Welt zu verhindern und den Aufstieg in die höhere Welt einzuleiten.
Der zweite Unterschied der beiden Welten ist dieser: die eine ist eine nahe, die andere eine ferne Welt. Nahe sind unsere täglichen Erfahrungen, die uns die Sinne vermitteln. Demgegenüber ist die Welt der Dogmen eine ferne Welt. Aber das ist ein kurzsichtiger Standpunkt. Die Wichtigkeit, die Macht und der Einfluss einer geistigen und göttlichen Welt hängt nicht davon ab, dass sie räumlich nahe ist. Die Dinge und die Ereignisse des Glaubens gehen uns sehr stark an, ja entscheiden über uns, obgleich sie unseren Sinnen ferne liegen. Dass der Tod und die Letzten Dinge, die hinter ihm kommen, unser heutiges Wohlbefinden noch nicht stören, kann uns nicht sorglos machen. Denn jetzt schon, in diesem Augenblick, sind wir diesen fernen Mächten verfallen und ausgeliefert. Dass die Opferfeier, die Christus in unserer Mitte vollbringt, in unseren Großstädten übertönt wird von dem Lärm und der Hast des großstädtischen Lebens und Treibens, das beweist noch nicht, dass diese Opfertat des Herrn etwa an den Rand der Welt gedrängt ist. Es ist ganz gut möglich, dass sie in der Mitte der Welt steht und im Angelpunkt allen Geschehens. Ja, es ist tatsächlich so: Seit dem Erscheinen Christi ist Gott selbst nicht mehr ferne von jedem von uns, sondern unser Allernächster, in dem wir leben, uns bewegen und sind. Die Welt des Glaubens scheint fern zu liegen und ist doch die wichtigere, bessere und mächtigere Wirklichkeit. Es ist schwer, im Lärm unserer Straßen eine singende Amsel oder eine läutende Glocke zu hören. Aber das wäre noch ein geringes Unglück gegenüber der Taubheit eines Menschen, der in diesem Lärm von dem Singen und Klingen der göttlichen Einsprechungen und von dem fernen Donner der ewigen Dinge nichts mehr wissen wollte.
Noch ein dritter Unterschied ist zwischen der Welt des Glaubens und der Welt der irdischen Erfahrung, und das ist vielleicht der wichtigste: Die Welt des Glaubens ist unendlich erfüllt, die andere ist unendlich bedürftig. Darum müssen sich beide ergänzen und sind aufeinander angewiesen. Die höhere Welt umfasst, erfüllt und durchdringt die irdische Welt. Sie hat das Recht und die Kraft, die irdische Welt zu einem neuen, höheren hinaufzuheben und sie dadurch auch in sich zu verändern. „Ihr möget essen oder trinken“, schreibt der heilige Paulus, „oder sonst etwas tun, tuet alles zur Verherrlichung Gottes.“ Seitdem die Wirklichkeit des Glaubens herabgestiegen ist und uns eingehüllt hat, seitdem hat auch die Arbeit, der Beruf, die Familie, der Staat, die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kunst eine neue Berufung und damit auch eine neue Möglichkeit erhalten: nämlich teilzunehmen an der göttlichen Nähe der Gotteskinder. Damit ist auch in der Behandlung aller irdischen Dinge eine Wende eingetreten. Wir können die irdischen Sachgebiete jetzt nicht mehr so behandeln, als ob sie allein da wären. Man muss den Leib jetzt anders behandeln, seitdem Gottes Sohn einen Leib angenommen hat. Man muss die Frau jetzt anders behandeln, seitdem Jesus von einer Frau geboren wurde. Man muss das Staatsleben jetzt anders betreiben, seitdem Christus neben und über dem Staat eine Kirche gesetzt hat. Man muss das Leiden, die Tränen und den Tod jetzt anders bewerten, seitdem der Erlöser am Kreuze gestorben ist. Man muss überhaupt den ganzen Menschen mit anderen Augen ansehen, seitdem Gott ein Mensch geworden ist. Es ist unsere Aufgabe, in zwei Welten zu leben, nicht nacheinander und nicht nebeneinander, sondern zu gleicher Zeit. Wir müssen zwei Welten zusammenweben, die so weit auseinander sind wie Himmel und Erde, wie Gott und Geschöpf. Wir sind Gottes Knechte, und müssen doch leben wie Gottes Kinder. Wir dürfen den Erdboden nicht verlassen, und doch muss unser Wandel im Himmel sein. Wir müssen als Erdenbürger leben und doch eine künftige Stätte suchen. Wir müssen besitzen, als wären wir besitzlos. Wir müssen uns freuen, als ob wir schon jenseits aller irdischen Freuden wären. Wir müssen weinen, als ob es schon keine Tränen mehr gäbe. Wir können uns nie und nirgends, bei keiner Tätigkeit und bei keinem Verhalten völlig beruhigen. Das ist der tiefste Sinn des Lebens aus dem Glauben: eine unaufhörliche Unruhe, ein endloses Strömen, eine alles erfüllende Spannung ist über uns gekommen. Ist das ewige Leben nicht wert, jede Mühe und Plage auf sich zu nehmen? Es ist doch wahrhaftig kein geringer Unterschied, ob man den Himmel gewinnt oder verliert. Wer wirklich aus dem Glauben lebt, der kann, ja der muss sagen: Mein jetziges Leben im Fleische ist ein Leben im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingeopfert hat (Gal 2,20).
Amen.