18. August 2024
Der Nächste
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Siebzig sind zurückgekehrt. Der Herr hat sie zum ersten Mal ausgeschickt, zu predigen und gute Werke zu tun. Es ist die Bettelreise der Novizen, wie sie später die Orden vorschrieben. Nun stehen sie in Gruppen um ihn und erzählen, ein jeder seine Taten und seine Erfolge. Er sieht eine Weile zu. Dann erlaubt er sich, bescheiden zu erinnern, ihre Ruhmredigkeit solle die Maße nicht verschieben. All die kleinen Tageserfolge. Was ist das gegen die monumentale weltgeschichtliche Tatsache, dass sie in der Nähe des Messias stehen. Dass er sie in seinen Schatten gesammelt und mit seiner Kraft ins Land geschickt hat. Wie selbstverständlich er von sich selbst, als dem göttlichen Souverän, spricht. Was sind Propheten und Könige vor seinem Angesicht! „Ich sage euch, das wäre für jene ein Ereignis gewesen, die messianische Zeit zu erleben. Mit dem Auge des Simeon das Christuskind zu schauen. In seinen Armen es über die Tempelbalustrade zu halten. Es war ihnen nicht vergönnt. Euch ist es gewährt. Dieses eine überleuchtet mit Sonnengewalt euer ganzes Leben. Dieses Sammelsurium, das ihr euer Leben nennt. So höret auf, von euren Taten zu reden.“
Da saß zwischen ihnen ein Gesetzeslehrer. Er hörte, wie dieser Nazarener sich über alle stellte. Er setzt sich geradezu auf den gleichen Thron, auf dem der ewige jüdische Gott thront. Er bannt alle königliche und priesterliche Größe seines Volkes unter die Stiege seiner Füße. Alle anderen Juden, auch wenn sie dreifachen Doktorhut tragen, sind ihm subaltern. So wollen wir ihm die letzte und größte Frage des Menschenlebens vorlegen. Er soll sie lösen. Der Pharisäer hat ein Jahrzehnt an den Quellen der theologischen Wissenschaft zu Jerusalem studiert. So wollen wir hören, wie er sich zu diesen Fragen stellt. „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu besitzen? Um gegen die Nichtigkeit dieser Welt den Besitz des ungefährdeten und übermächtig bewachten Gutes zu erlangen. Was muss ich tun, um der Inhaltlosigkeit dieser Zeit zu entgehen; wo stehen die ewigen Wohnungen des Menschen, die keine Stürme zerschlagen und die keine Sonne schmilzt?“ Der Herr dreht die Frage um: „Du selber sollst des Gesetzes Antwort sagen: Wie liesest du in der jüdischen Bibel?“ Der kennt das Deuteronomium auswendig und zitiert die bezügliche Stelle: „Du sollst Gott aus tiefster Seele, aus dem Geäder deines Herzens, aus der Quellkraft deiner Natur, mit der letzten Dynamik deines Denkens über alles halten, über alles erheben, über alles respektieren, über alles hochschätzen und lieben. Ein paar Seiten weiter steht, als das zweitgrößte, das Gesetz, das Gebot, den Nachbarmenschen hochzuschätzen, gegen ihn gerecht zu sein, sich vor ihm zu verneigen, ihm in Güte zu helfen.“ Der Herr nickt bedächtig zu. „Du hast richtig geantwortet. Dein Gedächtnis ist lückenlos. Deine Einsicht reicht. Nun fehlt nur die Ausführung des Wortes. Tue dies, so wirst du leben.“
Die Jünger stoßen sich an. Das war eine Antwort. Der Meister hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Das ist ein Schlag ins Zentrum. So biegt der Schriftgelehrte ab, unwillig ob der rauhen Belehrung vor so viel Menschen, denen die Schadenfreude in den Augen steht. „Das war nicht das eigentliche Problem. Ich bin zu dir gekommen, um im Grunde etwas anderes zu fragen: Was die Schrift eigentlich sagen will, wenn sie vom Nächsten spricht. Wer ist eigentlich mein Nächster? Auch die Sklaven Babylons? Auch die Verächter des jüdischen Gesetzes, die Zöllner? Auch die Samariter, die Halbheiden, die drüben bei Sichem wohnen? Auch die dunkle Welt der Barbaren, die Gottlosen, die jenseits der Grenzen unseres Landes leben? An unserer Universität steht die erdrückende Mehrzahl der Dozenten auf dem Standpunkt, dass man nur die Auserwählten, die Orthodoxen, nur die Volljuden als Nächste ansprechen darf und unterstützen soll, nur unsere Leute.“ Da antwortet der Herr nicht, sondern erzählt eine malerische Geschichte voll der Anmut und voll der Weisheit. Die Geschichte des Juden, der den langen Weg von Jerusalem nach Jericho hinabpilgert. Das geht 250 Meter tief und 27 Kilometer weit. Das ist von Köln bis Bonn, von München bis Starnberg, von Berlin bis Potsdam. Der Weg führt durch die unbewohnte, schluchtenreiche Wüste Juda. In ihr ist der einsame Wanderer schutzlos und kamen Überfälle durch Räuber häufig vor.
Der Mann fiel unter die Räuber. Denn dies ist eine Pilgerstraße. Von Arabien kommen sie mit gespickten Börsen zur heiligen Stadt. Von Jerusalem wandern sie mit allerlei Dingen, die wertvoll sind, mit heiligen und unheiligen, in die Heimat zurück. Den Beduinen zur Freude. Die auf ihren schnellen Pferden durch die Steppe am Jordan traben. Sie plünderten ihn aus, sie schlagen ihn blutig. Sie lassen ihn halbtot und ausgezogen am Straßenrand liegen. Nun hebt sich der Vorhang der Szene. Schau, da kommt ein Priester. Er hat seine drei Monate Tempeldienst hinter sich. Er kehrt, froher Erwartungen voll, zu Frau und Kind zurück. Es geht ihm um jede Minute. Er schaut sich nicht um. Er hört das Wimmern, aber er schreitet weiter. Schau, fünfzig Schritte hinter ihm der Levit, sein Assistent. Der die drei Monate mit ihm im Tempel assistierte. Auch ihn zieht es heim. Der Acker steht in Reife, und jede Hand ist willkommen, die eine Sichel führt. Er hat keine Zeit umzuschauen. Er hört das Wimmern und schreitet weiter. Dann wird es eine Weile still. Wer trabt da über den Waldesrand? Ein reisender Kaufmann, aber kein Jude. Einer aus Samaria. Der im Umkreis von Sichem wohnt. Dem das Geschäft näher liegt als das Gebet. Sein Gehirn ist mit Zahlen angefüllt, mit Rechnungen, mit Projekten, nichts anderes interessiert ihn. Nichts anderes? Vom Rande der Straße ein leises Wimmern. Er horcht auf. Er schaut um. Da liegt einer. Das Blut rinnt in den Graben. Der heiße Atem steigt über die trockene Lippe. Der Kopf ist bleich wie eines Sterbenden Haupt, nach rückwärts geworfen. Der Kaufmann vergisst alles Kaufmännische. Der Mensch in ihm begreift alles Menschliche. Er packt seine Reiseapotheke aus. Er holt das feine Olivenöl und den Schluck Wein, den er bei sich führt. Er wäscht die Wunde aus und verbindet ihn. Dann hebt er ihn ganz leise, der ungefüge Mann den zerschlagenen Freund auf seinen Maulesel. Er bindet ihn fest, er stützt ihn, er schiebt seinen Mantel, den aufgerollten, unter den ächzenden Körper. Er deckt ihn zu. Er führt das Tier, vorsichtig im zagen Schritt, bis über den Kamm des Berges, bis an die Herberge, die droben steht. Er trägt ihn in das Fremdenzimmer. Er wacht bei ihm die ganze Nacht. Er horcht auf den fiebernden Atem. Er netzt die Zunge. Nun ist es Morgen geworden. Er muss weiter. Er ist ein armer Kaufmann, die Firma verlangt von ihm Aufträge. Es scheint auch, dass es dem Kranken bessergeht. So zieht er aus der Tasche zwei Denare. Das ist ein Stück Geld. Er sagt dem Wirt: „Trage Sorge für ihn. Ich komme in acht Tagen zurück. Wenn du mehr brauchst, ich habe Kredit bei dir. Wende alles auf für ihn.“
So erzählt der Herr die wundersame Geschichte. Er erzählt sie, er singt sie wie eine Melodie, die über den Staub der jüdischen Straße klingt, über den herzlosen Staub, über die egoistische Welt, über die Spekulation der Börsenleute, die zwischen Kapharnaum und Bethlehem wohnen. Die Melodie ist verklungen. Nun schaut der Meister den Schriftgelehrten an: „Wer von den dreien hat die Preisfrage gelöst, hat sie praktisch entschieden, die Frage nach dem Umfang des Begriffs: der Nächste?“ Der kuscht sich bis zur tiefen Erde und sagt geschlagen und wohl auch ergriffen: „Der nicht flüchtete, der nicht auswich, der gehandelt hat, der Barmherzigkeit übte.“ Und Jesus sagte: „Gehe hin und tue desgleichen.“
Der Mann fragt: Wen soll ich als Nächsten lieben? Jesus antwortet: Wer hat in jener Geschichte als Nächster gehandelt? Jener fragt also nach dem Objekt der Liebe, Jesus dagegen nach ihrem Subjekt. Der Schriftgelehrte fragt aber mit seiner Frage zugleich nach der Grenze, über die seine Liebe nicht hinauszugehen braucht. Die Pointe der Parabel ist die, dass, wo ein Mensch wirklich Liebe im Herzen besitzt, diese ihm sagen wird, wer sein Nächster ist. Die Nicht-Befolgung des Gebots der Nächstenliebe kommt niemals aus einem Mangel an genauer Unterrichtung über die praktische Anwendung, sondern aus dem Mangel an Liebe. „Nächster“ war der am Wege Liegende auch dem Priester und dem Leviten, nicht bloß dem Samariter. Dieser allein hat aber danach gehandelt, und zwar deshalb, weil er gar nicht erst danach gefragt hat, ob der Schwerverletzte wirklich sein Nächster ist oder nicht. Die Antwort Jesu korrigiert einmal die Fragestellung des Gesetzeslehrers, indem sie nicht von der eigenen Person des zur Nächstenliebe Verpflichtenden ausgeht, sondern von der des anderen, vom Du statt vom Ich. Indem aber als der das Gebot der Nächstenliebe Erfüllender ein Samariter gewählt ist, korrigiert Jesus auch den jüdischen Begriff des „Nächsten“, der den Kreis der Liebenden beschränkt. Dass der Überfallene ein Jude war, ist zwar die nächstliegende Annahme, wird aber wohl absichtlich unbestimmt gelassen. Denn die Liebe, die den Mann rettet, fragt nicht nach Nationalität und Konfession. Der Mann, den der Samariter halbtot am Wege findet, ist ihm ein völlig Unbekannter, Fremder. Aber er fragt nicht nach dessen Herkunft, sondern handelt. Dass der Dritte, der den Hilflosen findet, gerade ein Samariter ist, hat nicht den Zweck, den von den Juden verabscheuten Ketzer über diese zu stellen, sondern zu zeigen, wie selbstlose Liebe handelt: sie fragt nicht nach der Herkunft des anderen, sondern wo ein Mensch Hilfe braucht, empfängt er sie. Die Antwort des Gesetzeslehrers nennt treffend statt der bloßen Person des Samariters die Tat, durch die er sich als wahrer Nächster des in Not Befindlichen erwiesen hat. Jesus gibt in seiner Antwort nicht eine Begriffsbestimmung des Nächsten, sondern zeigt in einer Beispielerzählung, wie echte Nächstenliebe handelt. Und weil es beim Liebesgebot nicht auf das theoretische Wissen ankommt, sondern auf die praktische Betätigung, schließt Jesus mit der Aufforderung zu dieser: „Geh hin und tue desgleichen.“
Amen.