Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. August 2024

Taub und stumm

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Evangelium begleitet den Herrn über die Grenze ins Heidenland. Er kommt von Tyrus nach Sidon. Er vermeidet das Betreten jüdischen Landes. Die nun folgende Heilungsgeschichte setzt allerdings voraus, dass Jesus als der große Wunderarzt bekannt ist; das war aber in der Nähe des Sees ohne weiteres möglich. Er kommt nicht, um seine Geheimnisse zu predigen. Die Geheimnisse des Reiches Gottes sind für seine Landsleute, für das auserwählte Volk. Es gehört schon das Versagen dieses Volkes, besonders seiner Führerschicht, dazu, den Herrn zu bestimmen, dass er sein Angesicht den Heiden zuwendet und sie scharenweise auf das Parkett des Königssaales einlädt. Das jüdische Volk, der historische Träger des großen Religionsgedankens im Morgenland der Welt, steht zur Seite und lehnt an den Fenstern des hohen Saales in die Finsternis. Zwischen Tyrus und Sidon ein unvorhergesehener Programmwechsel. Die Syrophönizerin erzwingt sich durch die Unglaublichkeit ihres Glaubens die Wunderheilung ihrer Tochter; das ist eine Episode für sich. Nun hofft der Herr, ungestört seinen Weg fortsetzen zu können. Er schwenkt weit um Galiläa und den See im Bogen auf den Jordan zu. Dieses Land heißt Zehnstädtegebiet. Auffallend große Dörfer liegen hier hintereinander gesetzt. Dass er gekommen ist, dass er dieses heidnische Land betreten und die Zollbarrieren übersprungen hat, ist im Lauffeuer durch das bevölkerte Gebiet gegangen. Er sieht sich, wie einst im galiläischen Frühling, wieder umlagert von Aufmerksamen, von Neugierigen, von gesunden Menschen, die den großen Propheten von drüben sehen und erleben wollen. Sie bringen alles mit, was kurbedürftig ist, Reiche und Arme, Fußgänger und Reiter, Leichtgestörte und Schwerkranke. Eine Karawane wälzt sich, wie Gebirgswasser, von allen Seiten zum Talkessel, in dessen Mitte er haltgemacht. Der Herr liebt nicht diese Öffentlichkeit. Alles, was nach Jahrmarkt schreit, alle grellen Farben, alle schreierische Reklame ist ihm verhasst. Er stellt sich nicht in den lauten Trubel der Kirmes; er lehnt die Schauwunder ab, die den Namen seiner göttlichen Kraft über Berg und Hügel tragen wollen. Es ist ihm wirklich um die Menschen zu tun, zu denen er sich neigt. Er will ihnen körperlich helfen, damit ihre Seele zu ihm eingehe. Er will diese Menschen erobern. Er will aus ihnen Christen machen.

Der Taubstumme, den sie gerade vor ihn hinstellen, ist einer von den vielen, die man, ohne sie zu fragen, aus den Dörfern des Zehnstädtegebietes zu ihm bringt. Taubstumme sind gehörlose Menschen, deren Spracherwerb infolge ihrer Taubheit verhindert ist und die daher wegen fehlender gezielter Sprecherziehung nicht sprechen können. Sie können sich nur über Mienenspiel und Gebärden äußern. Er winkt ihn auf die Seite, weil er kein Schauwunder wirken will. Er wandert mit ihm eine Viertelstunde in die Schlucht, die zum Berge führt, bis die beiden allein dastehen. Der schaut auf. Er hört nichts; er kann nicht fragen; was begibt sich um ihn? Die anderen haben gebeten, er solle ihm die Hände auflegen. Diese Konzession macht der Herr. Er lehnt diese sichtbare Brücke oft ab. Er weiß, wie die Juden daran hängen, erst recht diese Heiden des Ostjordanlandes, in der Form des Jahrmarktes behandelt zu werden; jede Physik überspringend, in rein geistiger Form. Er heilt den Sohn des Hauptmanns aus der Distanz, drahtlos; er fährt nicht hin; er tastet nicht an seine Stirn; er berührt die kranke Stelle nicht in physischer Annäherung; er demonstriert grundsätzlich, dass seine Kraft über alles erhaben ist. Aber manchmal neigt er sich gütig zu den Kranken. So auch hier. Er legt seinen Finger dem Taubstummen ins Ohr, dass das rauschende Ohr erwache. Er berührt mit dem Speichel, den er mit Erde mischt, seine Zunge, die vertrocknete, dass sie geschmeidig quelle und den lebenden Ton beflügle. Er stellt sich dicht vor ihn hin, seufzt aus tiefstem Grunde und spricht dann in den Lauten seiner Heimatsprache das Wort der Eröffnung; dieses Wort heißt: Epheta! Er nimmt nicht ein fremdes, unverständliches, fantastisches Wort, ein Wort aus der Faustküche. Er sagt nicht: Hokuspokus, sondern: „Tue dich auf.“ Nirgends spricht er so absolut natürlich und so weithin verständlich. Da haben sich die Ohren geöffnet, so dass der Kranke die Sprache der Umgebung verstand, und, o Wunder, das Band seiner Zunge löste sich. Er, der nie in seinem Leben einen Satz gezimmert hat, der von Jugend auf stumm war, der keine Zeile richtig schreiben konnte, sprach plötzlich geläufig und richtig. Ohne Anstoß beherrschte er Grammatik und Syntax. Nun nimmt er ihn bei der Hand und führt ihn die Schlucht wieder hinab zu den Menschen, zu dem großen Jahrmarkt, der in den bunten Farben des Orients mitten unter diesen Dörfern aufgetan ist. Weithin schallend und nachdrücklich sagt er ihm und hundert anderen, sie sollen von diesem Wunder niemand erzählen, von diesem nicht und auch nicht von den anderen, die in den kommenden Tagen jenseits der Grenze im Heidenland geschehen werden. Denn es ist nicht seine Absicht, mit Fremden aus dem Ostjordanland die galiläischen Truppen zu verstärken, die dann vereint auf Sion losmarschieren. Nein, das will er nicht. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Er baut an einem ganz anderen, an einem geistigen, einem heiligen Königtum. Da sie diesseits und jenseits der Grenze diese Herrschaft doch nicht begreifen, sollen sie von den Dingen, die sich zugetragen haben, niemand etwas sagen. Was er ihnen aber nicht verbieten kann, ist, sich zu verwundern, mit großen Augen in die Offenbarung des Jenseits zu schauen, den Atem niederzuhalten über dem Propheten, der im Format des Elias und des Elisäus unter ihnen aufgestanden ist. Das ist das unerhörte Ereignis. In der Tat: „Taube macht er hörend. Stumme macht er redend.“

Taubheit und Stummheit sind körperliche Leiden. Aber sie finden sich auch im geistigen Bereich und im religiösen. Taub ist, wer für Gottes Offenbarung, für die Verkündigung der Kirche unzugänglich ist. Stumm ist, wer sich dem Bekenntnis zu Gott, zum Glauben, zur Kirche verweigert. Gott spricht zu uns von außen, durch seine Boten, seine Diener, seine Propheten, seine Apostel. Gott redet auch in unserem Inneren. „Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen“ (Goethe, Tasso). Gott redet zu uns durch die Stimme des Gewissens. Das Gewissen ist die Empfangsstelle, wo die Schallwellen der Nähe Gottes, das Flüstern seiner Gnade aufgefangen werden. Taub ist, wer Gottes Wort in Offenbarung und Verkündigung nicht hört. Taub ist, wer die Glocken nicht hört, die ihn zu Anbetung und Gottesdienst rufen. Taub ist, wer Gottes Einsprechungen und Impulse im Gewissen überhört. Die religiöse Taubheit wird als Verstocktheit bezeichnet. Verstocktheit ist der Zustand des Willens, der mit Gott gebrochen hat und unabänderlich an der Sünde festhält.

Stumm ist, wer nicht mehr zu Gott spricht. Gebet ist Verkehr mit Gott. Wer nicht betet, bricht den Verkehr mit Gott ab. Wer sich nicht durch das Gebet mit Gott verbunden hält, trennt sich von Gott. Es ist ein und dasselbe: das Gebet aufgeben und den Weg zu Gott verlassen. Stumm ist auch, wer seinen Glauben, den er im Herzen trägt, nicht mit der Zunge bekennt. Denn mit dem Herzen glaubt man, und mit der Zunge bekennt man (Röm 10,10). Christus fordert von seinen Jüngern dieses Bekenntnis. Wer mich vor den Menschen bekennt, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen (Mt 10,32f.).

Das Bekenntnis des Glaubens geschieht nicht nur mit dem Mund, sondern auch durch die Werke. Wir sind nur dann wahrhaft Gläubige, wenn wir den Glauben mit dem Mund bekennen und im Werk zeigen. Das Bekenntnis im Werk, das Gott von uns erwartet, ist unser tägliches Leben, unser Verhalten in der Familie und in der Nachbarschaft, unser Benehmen im Beruf. Unser Leben nach Gottes Geboten ist ein Bekenntnis zu Gott.

Dieser Tage ist ein alter Mann in die Ewigkeit gegangen. Seine Angehörigen haben einen Nachruf verfasst, in dem es heißt: „In großer Dankbarkeit und im festen Glauben an ein Wiedersehen bei Gott nehmen wir Abschied von unserem geliebten Ehemann, Vater und Großvater.“ Die Angehörigen dieses Christen waren nicht stumm. Sie haben seinen Glauben und ihren Glauben einer glaubensfernen und glaubenslosen Umgebung bekannt.

Amen.

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