Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
28. Juli 2024

Pharisäer und Zöllner

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Tempel gehörte den Juden. Er war heilig wie eine Moschee. Heiden durften sich bis zum Tempelplatz nicht wagen. Bei Todesstrafe nicht. Hier lag der Vorhof, in dem die Beispielerzählung Christi spielt: das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. Wieder ein Kabinettstück der Erzählerkunst des Herrn. Ein öffentlicher Vortrag an den Straßenecken der galiläischen Stadt. Das Publikum ist das Volk. Stark durchsetzt von „Menschen, die auf sich selbst vertrauten, dass sie gerecht seien und die übrigen verachteten“, also von Pharisäern. Daneben die „anderen“. Auch die Zöllner. Die beiden Männer stellen die äußersten Gegensätze innerhalb des Judentums dar. Der Pharisäer ist der Typ der vollkommenen Hingabe an das Gesetz als der höchsten Norm jüdischen Glaubens und jüdischer Moral. Der Zöllner repräsentiert die niedrigste Schicht jüdischen Lebens, die von den religiösen und ethischen Idealen der Nation am weitesten entfernt ist. Mit feinem Geschmack umschreibt der Evangelist diese Pharisäer. Gut gepflegte Köpfe mit scharfen Adlernasen, mit unerbittlich kalten Augen, mit Augen, welche die Fehler des Nächsten prompt und durchdringend sehen, mit den schmalen Lippen, die diese Fehler ebenso unerbittlich und klassisch formulieren. Das ist der vollblütige Pharisäer. Er gehört zum Vorstand seiner Gemeinde. Er wird zu allen Festen zugezogen. Wehe, wenn man ihn vergisst. Er hat die Frömmigkeit und die Anständigkeit gepachtet. Der Herrgott muss froh sein, ein paar solcher Exemplare in seinem Garten zu haben.

Das Gleichnis, eine Beispielerzählung, spricht vom Beten. Aber nicht das rechte und falsche Beten will es darstellen, sondern die rechte und die falsche Frömmigkeit, die sich im Gebet, im Reden mit Gott, offenbart. Das Gebet im Tempel galt deswegen als besonders wirksam, weil der Tempel die Stätte der besonderen Gnadengegenwart Gottes ist. Wer in den Tempel geht, der tritt vor Gottes Angesicht. Man weiß nicht, ob das ein Morgengebet ist oder eine Sonntagswanderung zum Tempel. Da muss man aufwärts steigen; der Tempelplatz liegt 743 Meter über dem Meeresspiegel, auf der Höhe des östlichen Stadthügels; zwischen östlichem und westlichem Rücken liegt das Tal Tyropöon, das Stadttal. Der Pharisäer schreitet die hohen Marmorstufen hinauf. Noch ein anderer wandert aufwärts. Man wird seiner kaum gewahr. Er verdrückt sich an den Rand der breiten, sonnenglänzenden Treppe. Gegen das Geländer hin. Ganz scheu, wie einer, der sich ständig umschaut, ob er nicht auffällt. Wie einer, der von Stiege zu Stiege um Entschuldigung bittet, dass er geboren ist. Wie einer, der bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele von seiner Unwürdigkeit überzeugt ist. Nur einmal hat der da droben heruntergeschaut: „Ah so, ein Zöllner!“ Bitte, Herr Pharisäer, ein bescheidener Zöllner! „Jawohl, mein Herr, der hat allen Grund dazu. Ich will meinem Mitbürger da unten nicht wehe tun. Er man persönlich ein braver Mann sein. Aber ich bitte Sie, der ganze Stand, die ganze Gesellschaft! Reden wir von Besserem. Ich würde mein Kind sofort aus der Schule nehmen, wenn es neben das Töchterchen eines Zöllners gesetzt würde. Eine unglaubliche Gesellschaft. Sie stehen im Dienste der Besatzer. Sie ziehen die Steuern dieser Erpresser ein. Kein Quentchen von Patriotismus, keinen Stolz als Israeliten haben sie. Der letzte Sträfling im Gefängnis von Jericho ist mir lieber als diese Brut.“

So betreten die beiden den Vorhof der Juden. Heiden ist der Eintritt verboten. Die beiden aber sind Juden, beide. Sie treten ein. Ein azurner Himmel spannt seine Wölbung über das Schiff. Marmorne Säulen starren aufwärts. Kein Mensch sonst. Mittagsstunde. Sie die beiden einzigen Beter. Weithin über den Raum zerstreut. Ganz hinten der Zöllner. Ganz vorn der Pharisäer. Wir wundern uns nicht, dass er steht. Jüdische Gebetssitte ist es: zu stehen, die Hände weit ausbreiten, mit festen Augen aufwärts schauen, an den Kapitälen der Säulen vorbei, zum blauen Himmel. Dort wohnt der Gott der Juden. Auch der Zöllner steht. In Tempel und Synagoge sitzt nur der Prediger, der das Gesetz und die Psalmen erklärt. Der betende Mensch steht. Wie die Oranten in den Katakomben. Er betet, der Pharisäer, ein Mustergebet. Die Literaturgeschichte kennt keine feinere Persiflage. „Lieber Gott, ich gratuliere dir zu mir. Du bist zu beneiden, dass es noch so anständige Menschen gibt, wie ich einer bin. Zum Unterschied von so viel tausend Halunken, die in der Welt umherlaufen, als da sind: Räuber, Schieber, Ehebrecher, Zöllner. Dass ich ihn nicht vergesse. Hinten steht einer. Wir haben ganze Schiffsladungen solcher Menschen in Judäa. Gott schütze mein Haus vor diesem Typ.“ Das ist die Aufzählung der typischen Verbrechen, die man begehen kann. Von Babylon bis Rom klingt seit Jahrhunderten diese Skala. In den Gesetzbüchern, in den Paulusbriefen, in der lateinischen Literatur. Immer wieder die gleiche Tonleiter: Räuber, Betrüger, Ehebrecher. Das ist der klassische Kodex der Gemeinheiten und die konventionelle Aufzählung der Sünden. Der Pharisäer ist konventionell. Er lebt von solchen Zitaten. Der Pharisäer beginnt, jüdischer Gebetssitte entsprechend, mit einem freudigen Dank an Gott für all das, was ihm an verdienstvollen Leistungen gelungen ist. Im Grunde ist aber dieser Dank nur Ausdruck seiner stolzen Zufriedenheit mit sich selbst. Er weiß, dass er besser ist als die anderen, denen er sich nun gegenüberstellt. Ja, er findet an sich überhaupt nur Gutes. Nichts von all dem, wodurch die Sünder Gottes Missfallen erwecken, hat er sich vorzuwerfen. Deshalb blickt er mit Verachtung auf sie herab. Nun aber kommt die positive Moral. Er fühlt sich nicht nur frei von Schuld; er kann Gott auch besondere Leistungen vorweisen, die ihm auf seinem himmlischen Konto gutgeschrieben werden müssen. Ja, müssen! Denn Gott kann, weil er gerecht ist, gar nicht anders verfahren. So macht er Gott durch seine frommen Leistungen zu seinem Schuldner. Zu diesen gehört sein freiwilliges zweimaliges Fasten in der Woche. Der Sinn dieses freiwilligen Privatfastens war, Sühne zu leisten für die schwere Verschuldung des Volkes. Für sich selbst bedarf der Pharisäer der Umkehr nicht. Denn er tut das, was Gott verboten hat, nicht. Er ist aber ein Glied des Volkes und tritt darum mit seinem Fasten stellvertretend für die ein, die durch ihr Sündigen Gottes Zorn nicht nur für sich selbst, sondern auf das ganze Volk herabziehen. Weil er sich als gerecht fühlt, braucht er Gott nicht um Vergebung irgendeiner Schuld zu bitten. Er gibt den Zehnten von allem. Das ist Staatssteuer und Kirchensteuer zugleich. 10 Prozent vom Heu der Wiesen, 10 Prozent vom Korn des Ackers, 10 Prozent von der Traube des Weinbergs, kurzum, 10 Prozent. Nicht nur das gibt er. Man muss es genau nehmen. Er gibt den Zehnten von allem. Das Gesetz verlangte den Zehnten bloß von den Hauptfrüchten (Dt 12,17; 14,22ff.). Er entrichtet ihn von all seinem Erwerb. Von der Petersilie im Gemüse, von der Sellerie in der Suppe, vom Radieschen beim Abendbrot. Was steht bei Matthäus? Von Minze, Dill und Kümmel. Das ist ein anständiger Jude. So geziemt es sich für ein Mitglied des Gemeindevorstands. So hat die Gemeinde wirklich einen Halt, zu dem sie aufschauen kann.

Gott will, dass der Zöllner gleichfalls betet. Dazu ist dieser Mensch aus den Mühen des täglichen Lebens den Berg hinaufgeklettert. Er hat sein Sabbatkleid angezogen. Heute trifft es sich, dass er ein paar Stunden frei hat. Er kommt nicht jeden Sabbat zum Tempel. Aber er betet zu Hause mit seinen fünf Kinderchen am Freitagabend und am Sabbatmorgen ein schlichtes, andächtiges Gebet. Und die Stimme dieser Kinder, die viel schmäler sind als die gutgenährten Söhne und Töchter des Pharisäers, schlägt durch die Wolken. Armer Leute Kinder, die nichts dafür können, wie der Vater sein kärgliches Brot verdient, hat unser Herrgott gern. Sie sind so gottoffen; sie sind so menschenlieb; sie sind so stilecht. Also heute hat er selbst den Weg machen können, und nun steht er hier. In großer Verlegenheit. Das Gebetbuch hat seine Frau verlegt. Er steht ohne Gebettext da. Was wird so ein armer Mann beten? Er ist in der vierten Gehaltsstufe und ohne Schulbildung. Kein Oberzöllner wie Zachäus, der später zu den Aposteln kam. Was wird er in seiner Armseligkeit reden, oben im Vorhof? Er bleibt fern. Er bleibt ganz hinten an der Tür stehen. Er bringt die Haltung der Oranten nicht auf: Augen aufwärts, Arme ausgebreitet. Er senkt sein Haupt. Er wagt nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben. Er schlägt an seine Brust als den Sitz des Herzens, d.h. er innert sich an seine Schuld vor Gott, die Strafe verdient. Das ist der klassische Gestus des Schuldbekenntnisses. So zerschlagen die Aussätzigen ihre Brust mit lautem Jammergeschrei, dass sie die Ausgestoßenen der Welt sind. Der Zöllner kennt Gott gegenüber nur das Bewusstsein der Schuld. Er ruft Gottes gnädiges Erbarmen an. Damit tut er das Einzige, was er in seiner Lage tun kann. Die dünnen Lippen bringen das einzige Wort vor: „Ich bin sündhaft. Gott sei du gnädig.“ Dies ist das große Gebet der Weltgeschichte, dies ist die säkulare Formulierung des religiösen Menschen. Wo immer er steht, ob die Welt von ihm spricht, ob er zu den Prominenten gehört, ob er im Protoswagen sitzt, oder ob die hungernde Witwe neben der Chaussee ihre schmale Kuh durch die Rinnen führt; ob der Landarbeiter, der die Steine klopft, in der Sonnenhitze durstet; ob das weltvergessene Fürsorgekind, das viele Kritiker und viele Verführer, aber wenig Brüder findet, zu ihm betet, das große Gebet all dieser Menschen heißt: „Ich bin sündhaft, du aber, o Gott, sei gnädig.“

Dann sagt der Herr von diesen beiden: Der Zöllner ist leuchtend die Treppe des Tempels hinabgestiegen, all die Gassen hindurch, über die Plätze, durch das Tor bis zur Vorstadt, zu seiner Laube. „Dieser ging gerechtfertigt nach Hause.“ Der Sünder, und er allein, geht gerechtfertigt, d.h. freigesprochen nach Hause, weil Gott ihm wegen seiner Bußgesinnung seine Sünden vergeben hat. Das Gebet des Pharisäers kommt gewiss ebenso von Herzen wie das des Zöllners. Nichts von dem, was er darin ausspricht, ist unwahr. Und er vertritt dabei vollkommen lebenswahr den Typ des Pharisäers überhaupt. Doch das Gebet des Pharisäers war vor Gott wertlos, weil er sich darin nur in selbstgefälliger Weise selbst bespiegelt und Gott an den Lohn erinnert hat, den er von ihm erwarten, fordern zu können meint. Dazu kommt der noch größere Mangel: Dem Pharisäer fehlt völlig das Bewusstsein, dass er bei all seinem frommen Eifer doch ebenso wie die anderen ein Sünder und auf die Gnade Gottes angewiesen ist. Das Wort des Zöllners musste auch er sprechen. Dass er es unterlassen hat, war sein Fehler und sein Vergehen. Er ging nicht gerechtfertigt nach Hause.

Amen.

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