Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Ostern
7. April 2024

Selig, die nicht sehen und dennoch glauben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Ereignisse folgen jetzt rasch. Am Frühmorgen des ersten Wochentages die Frauen am Grabe. Am Nachmittag des ersten Wochentages die Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Am Abend des ersten Wochentages die Apostel beisammen. Natürlich fehlt Judas. Es fehlt auch Thomas, warum, wissen wir nicht. Wir erfahren nur von allen vier Evangelisten, dass er am Abend nicht dagewesen. So waren ihrer nur zehn. Aber die Evangelisten sprachen von dem Kollegium als von den „Zwölfen“; die Zahl „Zwölf“ hat sich feierlich durchgesetzt. Man nimmt an, dass der Versammlungsort das Haus der Mutter des Markus gewesen ist. Wahrscheinlich oben am Berge gelegen. Ein wenig abseits. So durfte man hoffen, nicht aufzufallen. Denn draußen war dicke Luft. Der Leichnam war verschwunden, die Siegel erbrochen, die Soldaten vernehmungsunfähig. Es rumorte in der Stadt. Man munkelte, dass sich der Verdacht der Sekte zuwende, die nach dem Galiläer benannt ist. Klugheit gebot, die Straße zu meiden und hinter sich das Tor sorglich zu schließen. So kann das nicht weitergehen. In absehbarer Zeit soll die neue Religionsgemeinschaft dastehen. Nach kurzer Sammlung soll sie sich zur Eroberung der Mittelmeerländer anschicken. Das ist, bei Gott, mit diesen bebenden Jüngern hinter den verschlossenen Türen nicht zu schaffen. Hier müssen wahrhaftig Wunder geschehen. Der Herr muss selber eingreifen, ihnen die Köpfe zurechtrücken, ihnen den Sturm des neuen Lebens einblasen. Selbst auf die Gefahr hin, dass die Welt nicht an die Kraft der Apostel glaubt. Schließlich ist er es ja selber, der das große Werk seiner Kirche von sich aus betreut. Sie wächst aus seiner Hand.

Gewiss ist Petrus der Fels. Aber der Urfels unter der dünnen Schicht der petrinischen Mitarbeit ist der Galiläer selbst. Durch die Türen des Hauses, in dem die Jünger versammelt sind, hindurch schreitet er selbst. Durch die geschlossenen Türen. So steht er mitten unter ihnen. Sein erstes Wort ist: „Nun soll all diese Unsicherheit aufhören. Die große Ruhe, die euch drei Jahre umfloss und die die Schreckensnacht des Ölgartens und des Golgathahügels zerbrach, soll euch wieder durchdringen. Ich bin wirklich auferstanden. Ich habe mein Wort wahr gemacht. Seht hier die durchbohrten Hände und Füße.“ Johannes, der vierte Evangelist, fügte bei: „Seht hier die von der Lanze durchstochene Seite.“ Über diese Wunde hat er in Sonderheit, genauer als die anderen, mit besonderer Betonung, in seinem Evangelium berichtet. Die Wirkung blieb nicht aus. „Da freuten sich die Jünger und sie erkannten ihn wahrhaftig wieder.“ Er war es. Nun sagte er noch einmal mit erhobener Stimme: „Es ist wirklich so, und ihr sollt nun wirklich Ruhe halten, und es soll nun wirklich aus sein mit dieser lächerlichen Angst und mit diesem Pessimismus, der euer Apostelamt zermürbt. Ich brauche Soldaten. Ich brauche Bekenner. Ich brauche Martyrer. Für das große Werk, das vor meiner Seele steht und für das ich euch seit Jahren geworben. Der vollendete Friede sei mit euch. Das ist eine Sendung, so ernst, so groß, so gewaltig, so universal, wie meine Sendung durch den Vater. Eure Aufgabe ist die Erfüllung meines Werkes.“

„Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ „Nie ist die Notwendigkeit dieser Kraft von oben so evident gewesen, wie nach der dunklen Woche, die sich über mich und über eure Seelen gesenkt hat. Nie war alles menschliche Werkzeug so zusammengebrochen, nie alle irdische Kraft so inhaltlos; sie haben mich alle verlassen; selbst Petrus hat mich verleugnet; derselbe Petrus, auf dessen Schultern ich das Weltgebäude der neuen Religion zu errichten mir vorgenommen und ihm zugesagt hatte. Nie war so klar vor aller Menschheit, dass ihr den Sturmgeist der anderen Welt braucht, um eure Aufgabe zu lösen.“ „Empfanget diesen stürmischen Geist, der euch dazu wappnet und dazu stärkt, der Welt das Leben und die Heiligkeit zu geben. Ihr schafft das nicht aus euch selbst. Ihr müsst bis in die Seelen greifen und wirken können. Euer Apostolat ist dünn wie eine Seifenblase, ist matt wie eine verklingende Stimme, ist kraftlos wie der Hauch des Kindes. Ihr braucht sakramentale Kraft: die Überwindung der Sünde in den Menschen.“ „Denen ihr die Sünden nachlasst, denen sind sie nachgelassen, und welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie behalten.“ „Ohne das bleibt ihr Attrappe!“

Es ist aber so, dass an diesem Abend außer Judas noch ein Apostel fehlte. Er hieß Thomas und führte den Beinamen eines „Doppelgesichts“, eines „Zwillings“; eines Menschen, der „sowohl“ „als auch“ ist, „einerseits“ und „anderseits“; der die rasche Entscheidung und die ausgeprägte Bejahung flieht. Er war an dem Abend nicht bei ihnen. So erzählten ihm am Dienstag oder Mittwoch die anderen von dem Gesicht des Herrn, überfroh der neuen Gewissheit. Aber er blieb ungewiss, wie immer, und etwas breit und etwas protzig entgegnete er aller Erzählung, „er müsse solche Dinge erleben; wenn er nicht seine Finger in das Mal der Nägel und seine Hand in die Wunde der Seite lege, dann müsse er dankend ablehnen; er sei gewissenhaft und ein kritischer Mensch, sozusagen ein moderner Mensch, und halte den Glauben für unsittlich, wenn er nicht reichlich begründet sei; Begründung aber könne ihm nur eigene Erfahrung geben.“ Nach acht Tagen waren die Jünger wieder in der Markuswohnung; diesmal Thomas bei ihnen. Jesus kam wieder durch verschlossene Türen; stand wieder unter ihnen und sagte wiederum das große Wort von der Selbstsicherheit, die er von ihnen erwarte, die er ihnen gebe. Dann wandte er sich an den einen. Er zitierte, wie wenn er an jenem Abend dabei gewesen wäre und zugehört hätte Wort für Wort: „Lege deine Finger in das Mal der Nägel und lege deine Hand in die Wunde der Seite; so wirst du in Konsequenz deiner Prüfung glauben müssen.“ Er tat wie befohlen. Er legte die Finger in das Mal der Nägel, er legte die Hand in die Wunde der Seite. Das war nun übergenug. Thomas fühlte bis in die letzte Tiefe der zitternden Seele, was er sich herausgenommen hatte zu verlangen. Wie wenn er ein Prominenter sei. So viel kritischer, so viel wahrhaftiger, so viel begabter als die anderen. Unter dieser Einsicht brach er in die Knie und vermochte nur noch stammelnd das eine Bekenntnis zu sagen, das keiner der Apostel bisher so klassisch formulierte und so bis zu den letzten Folgerungen aussprach: „Du, o Galiläer, bist wahrhaftig der Gottgleiche: der Kyrios, mein Herr und mein Gott.“ Der Galiläer nimmt das Bekenntnis entgegen. Es soll so gut sein. Eine kleine kritische Bemerkung nur: „Du hättest, Thomas, es soweit nicht treiben sollen. Das Zeugnis der anderen durfte dir genügen. Wie viele Millionen werden in der Geschichte der kommenden Kirche glauben ohne die Anmaßung der physischen Erfahrung. Glauben, ohne mit den körperlichen Augen zu sehen. Selig, die nicht sehen und dennoch glauben.“ Mit diesem Wort hat der Auferstandene eine fundamentale Wahrheit ausgesprochen. Die Christen aller Zeiten sind für ihren Glauben auf das Zeugnis der Apostel angewiesen.

Die Apostel wissen, dass von ihrer Zeugnisfähigkeit, ihrer Zeugniswilligkeit und ihre Zeugniszuverlässigkeit der Glaube aller zukünftigen Generationen der Christen abhängt. Die Urzeugen und die Evangelisten wissen, dass ihre ganze Osterbotschaft einzig und allein auf der Gewissheit aufruht, dass Christus wahrhaftig und wirklich auferstanden ist. Darin erblicken sie die eigentliche Substanz ihres Apostelamtes, Zeugen der Auferstehung Jesu zu sein. Ausdrücklich fordert Petrus anlässlich der Ersatzwahl, die nach dem Ende des Judas vorzunehmen war, dass nur einer von den Männern gewählt werde, „der mit uns zusammen war während der ganzen Zeit, da der Herr bei uns aus und ein ging, von der Taufe des Johannes an bis auf den Tag, da er uns hinweggenommen wurde; von diesen muss einer mit uns Zeuge seiner Auferstehung werden“ (Apg 1,21f.). Das dogmatische Interesse der Apostel verschlang also keineswegs ihr historisches. Es war ihnen wohl bewusst, dass nach dem Willen Gottes und des Herrn Jesus Christus auf der Einmaligkeit ihres Ostererlebnisses, auf der Verlässigkeit ihrer Sinne, ihres Urteils, ihres Entscheids der Glaube aller folgenden Generationen gründe. Sie wussten, dass diese folgenden Generationen nicht selber sehen und urteilen würden, sondern ihrem Sehen und ihrem Urteilen vertrauen müssten. Gerade hierin wurzelt ihr apostolisches Hochgefühl, ihr frommer Stolz, Apostel Jesu Christ zu sein. Dass gerade sie, ihr Augenblick, ihre Einmaligkeit, ihr individuelles Sehen und Urteilen nach dem Willen Christi eine übergeschichtliche, eine zeitlose Geltung haben sollte. Dass sie nicht bloß zufällige, sondern authentische, von Gott berufene, von Christus auserwählte, mit Zeichen und Wundern beglaubigte Zeugen für alle kommenden Generationen seien, die „von Gott vorherbestimmten Zeugen“ (Apg 10,41), für die neue Weltzeit und den neuen Glauben nicht weniger grundlegend, wie es Moses und die Propheten für die alte Zeit und den alten Glauben gewesen waren. Die Apostel predigen von der Auferstehung Christi nicht nur, weil sie wissen, sondern weil sie müssen. „Ein Zwang“ treibt sie dazu. „Wehe“, wenn sie das Evangelium „nicht verkünden“ (2 Kor 9,16). In ihrem Osterzeugnis steckt nicht nur die Zuversicht der Augenzeugen. Es steckt darin das bedrückend erhebende Wissen um ihre Sendung, die ganze Verantwortlichkeit eines von Gott Berufenen, eines Propheten, eines Bekenners und eines Martyrers.

Die verklärte Menschheit Jesu ist das Organ, durch das der dreimal heilige Gott seinen Gnadensegen über die Menschheit ergießt. Er ist in allen Kranken- und Sterbehäusern der Erde, in den Armenwinkeln der Großstädte. Er ist in allen Gefängnissen und auf allen Schlachtfeldern, die menschlicher Wahn und menschliche Selbstsucht jemals verschuldete. Seine leuchtende Gestalt schreitet über eisige Gletscher, durch einsame Prärien und versengte Wüsten, über tosende Flüsse und weite Meere. Wo nur immer gequälte Menschen zum Himmel schreien, da ist er nahe, der Allernächste. Da legt er seine milde Hand auf die heiße Stirn des Bedrängten und gießt Kraft und Vertrauen in seine müde Seele. „Fürchte dich nicht! Ich bin es! Vertrau, mein Sohn! Vertrau, meine Tochter!“ Ja, so ist es: Er, der Verklärte, der ewige Christus ist und bleibt die Heimat der Menschen, ihre einzige Hoffnung, ihr letztes Glück.

Amen.

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