21. Mai 2023
Wo ist der Himmel?
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das hab’ ich mir vorgenommen: In den Himmel will ich kommen. Mag es kosten, was es will, für den Himmel ist nichts zu viel. Wenn wir sagen, dass wir in den Himmel kommen, dann meinen wir, dass wir zu Gott gelangen; dass wir an seiner Lebensfülle und seiner Existenzkraft Anteil gewinnen. Himmel bedeutet erstlich eine Lebensform, nämlich die Lebensform der Teilnahme am Leben Gottes. Es ist ein Glaubenssatz unserer Kirche: Es gibt einen Himmel oder ein ewiges Leben, in dem die Gerechten endlos an der Seligkeit Gottes teilnehmen. Das Wort Himmel kommt in der Heiligen Schrift in dreifacher Bedeutung vor: 1. für den materiellen Sternenhimmel, 2. für die Wohnung Gottes, 3. für die Stätte der ewigen Seligkeit der Kinder Gottes. Himmel und Erde kommen in der Bibel nur in ihrer religiösen Bedeutung als Werke Gottes in Betracht, nicht physisch oder astronomisch. Jede Ortsangabe fehlt. Die Organe der Offenbarung tragen keine Lehre über ein lokales Jenseits vor. Das Buch der Weisheit weiß die Seligen schon sofort „in Gottes Hand“ (3,1), „im Frieden“ (3,3), „der Hoffnung der Unsterblichkeit voll“ (3,4); „König wird sein ihr Herr in Ewigkeit“ (3,8), der „sie in Sicherheit gebracht hat“ (4,17). „Die Gerechten leben ewiglich, und im Herrn ist ihr Lohn und die Sorge für sie beim Höchsten. Deshalb werden sie erhalten das Reich der Verherrlichung und das Diadem der Schönheit aus der Hand des Herrn“ (5,16f.). Christus geht interesselos an den in seinem Volk verbreiteten Vorstellungen der Jenseitsorte vorüber. Gewiss erwähnt er Himmel und Hölle in den verschiedensten Wendungen und Verbindungen, lässt sich aber niemals über die Örtlichkeit aus. Sein ganzer Akzent ruht auf dem sittlichen Zustand als Disposition für den Himmel und auf dem, was wir die himmlische Seligkeit nennen. Wenn Christus im vierten Evangelium von „oben“ und „unten“ spricht, ist das nicht lokal, physisch gemeint, sondern religiös, spirituell. „Oben“ verweist auf Gott, „unten“ meint die Geschöpfe. Die Apostel sind in diesem Punkt treu den Fußstapfen des Meisters gefolgt. Nach Paulus wohnt Gott in unnahbarem Lichte (1 Tim 6,16). Mit Licht ist die strahlende Herrlichkeit bezeichnet, die Gott umgibt. Die Unnahbarkeit oder Unzugänglichkeit weist auf seine absolute Transzendenz, Überweltlichkeit hin. Paulus ergänzt seine eben angeführten Worte mit dem Zusatz: „Kein Mensch hat Gott gesehen, kein Mensch kann ihn sehen“ (1 Tim 6,16). Der Mensch besitzt kein Organ, mit dem er Gott sehen könnte. Paulus schildert die Seligkeit negativ: Was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört und was in keines Menschen Herz gedrungen ist, hat Gott denen bereitet, die ihn lieben (1 Kor 2,9). Paulus hat den Wunsch, aufgelöst zu werden (d.h. zu sterben) und mit Christus zu sein. Er weiß, dass die Erfüllung dieses Wunsches das Verlassen der Erde bedingt (Phil 1,23). Die volle Gemeinschaft mit Christus, nach der er sich sehnt, ist mit dem irdischen Leben nicht zu vereinbaren. Pläne und Absichten Gottes sind nicht nur geheimnisvoll, sondern unbegreiflich. Das gilt auch für die jenseitige Freude.
Die Frage nach dem Ort des Himmels tritt demgemäß zurück. Die seligen Menschen sind verwandelt und verklärt, sind also von Raumhaftigkeit und Zeithaftigkeit befreit. Dennoch sind sie infolge ihrer Geschöpflichkeit raumgebunden. Von der Auferstehung der Toten an bekommt ihre Raumgebundenheit eine besondere Note. Doch lässt sich im Weltall kein Wohnort feststellen, der ihnen vorbehalten wäre, und es ist uns auch keiner geoffenbart. Der Himmel ist die Lebensform, die durch die vollendete Herrschaft Gottes herbeigeführt ist. Daher ist der Glaube an den Himmel völlig unabhängig von dem Weltbild, das die Menschen entwerfen, und vom Wandel der Weltbilder, der sich unaufhörlich vollzieht. Der Glaube an den Himmel ist mit jedem Weltbild vereinbar, denn er trotzt jedem Weltbild und überragt jedes Weltbild. Gott und Welt, der unerschaffene Gott und die geschaffene Welt, sind total voneinander verschieden. Infolge dieser Qualitätsverschiedenheit kann Gott mit seiner Herrlichkeit überall gegenwärtig sein; seine Wirklichkeit steht der Wirklichkeit der Welt nicht im Wege und umgekehrt. Der unerschaffene Gott und die geschaffene Welt stoßen sich nicht. Infolge der Qualitätsverschiedenheit von Gott und Welt ist auch jeder Bereich innerhalb der Schöpfung geeignet, der Begegnung des Menschen mit Gott zugeordnet zu werden. Hierbei hat kein Raum einen Vorzug von einem anderen. Auch ist dafür keine bestimmte Weltgestalt erforderlich. David Friedrich Strauß spottete, dass für Gott und die Heiligen im Himmel kein Platz mehr sei, da wir wüssten, dass dieser schon von anderen Dingen wie Sternen voll besetzt sei. Strauß hatte eine falsche Auffassung vom Himmel. Er stellte sich ihn vor in den Kategorien der Erde. Dadurch übersah er die totale Andersartigkeit von Himmel (als Stätte der Seligen) und Erde. Gott kommt für das Jenseits nicht in Wohnungsnot. Der Zugang zum Himmel ist uns Menschen nicht deswegen unerreichbar, weil er zu weit entfernt ist, sondern weil er einer Wirklichkeit angehört, für deren Wahrnehmung uns jedes Organ fehlt. Jede eschatologische Ortsbestimmung ist uns verwehrt. Es gibt keine Topographie des Jenseits. Wir sind außerstande, aufgrund der Offenbarung eine solche aufzustellen. Wie Christus uns nicht Zeit und Stunde des Hereinbrechens der Gottesherrschaft geoffenbart hat, so auch nicht Ort und Lage.
Die Lebensform der vollendeten Gottesgemeinschaft wird grundgelegt in den Tagen der Pilgerschaft. Der Himmel ist die Enthüllung und Ausreifung dessen, was auf der Erde gesät wird, aber bis zum Tode verborgen ist. Das uns in der Taufe geschenkte göttliche Leben, der Gnadenstand, ist in den Tagen der Pilgerschaft zugleich gegenwärtig und zukünftig. Es ist gegenwärtig als verborgenes und zukünftig als offenbares Gut. Wenn die Heilige Schrift sagt, dass wir das göttliche Leben haben, bezeugt sie seine Gegenwärtigkeit. Wenn sie uns auf das Leben in Gott, die Freude und den Frieden des Herrn hoffen lässt, bezeugt sie seine Zukunft. Die Hoffnung wird sich erfüllen, wenn sich Christus in seiner Herrlichkeit zeigt (Kol 3,4). Wenn dies geschieht, dann ist die Wanderung zu Ende. Im Tode kommt der Mensch an im Hause des Vaters (Joh 14,2). Dort ist ihm eine Stätte bereitet. Wenn er dort angekommen ist, ist er am Ziele, ist er zu Hause, in der Heimat. Hier bleibt er. Das Haus des Vaters ist kein flüchtig aufgeführter Bau, der nur vorübergehender Rast dient. Das Haus des Vaters ist eine bleibende Wohnung für die von der Wanderung zurückgekehrten Gotteskinder. In dem festgebauten, für die Ewigkeit gefügten Bau führen sie mit dem Vater ein frohes Leben der gemeinschaftlichen Freude. Für dieses Leben sind sie von Gott vorherbestimmt (Mk 10,40; Mt 25,34. 41). Es ist das Letzte und Höchste, dem sie entgegenpilgern. Darüber hinaus führt kein Weg, weil es darüber hinaus nichts gibt.
Zwischen dem göttlichen Leben in der Pilgerschaft und jenem in der Heimat besteht ein inniger Zusammenhang und zugleich ein großer Unterschied. Die Verschiedenheit wird durch die Worte Aussaat und Ernte, Fremde und Heimat, Zelt und Haus gekennzeichnet. Die Lebensform des Himmels wird von Gott in freier, allmächtiger Liebestat herbeigeführt. Gott wird die Verwandlung, durch welche die irdische Lebensform zur himmlischen umgestaltet wird, vornehmen. Der wesentliche Unterschied zwischen Pilgerschaft und Heimat besteht darin, dass das göttliche Leben im Zustand des Himmels das ganze Sein des Menschen verwandelt und durchherrscht. Der Zustand der Verhüllung geht über in den Zustand der Offenheit: die Verbundenheit mit Christus, die Teilnahme am dreipersönlichen Leben Gottes, die Durchglühung des menschlichen Ich mit der Liebe und Wahrheit Gottes.
Der Himmel ist der Zustand der vollendeten Gottesherrschaft; er stellt das vollendete Heil dar. Der Himmel ist die Gemeinschaft der vollendeten Menschen mit Christus. Die Verbundenheit mit Christus begründet die Lebensgemeinschaft mit dem himmlischen Vater. Der Himmel bedeutet die höchste Vollendung des Menschen, der ja infolge seiner Herkunft von Gott auf Gott hingeordnet ist. Ihm wird eine vollkommene übernatürliche Seligkeit zuteil. Die Seligen betätigen ihre Gemeinschaft in einer vorbehaltlosen gegenseitigen Liebe. Wir sind auserwählt „zur Hoffnung des ewigen Lebens, welches Gott, der nicht lügt, vor ewigen Zeiten verheißen hat“ (Tit 1,2).
Amen.