Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
14. Mai 2023

Ist das nicht der Sohn der Maria?

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Evangelist Markus berichtet vom Auftreten Jesu in seiner Heimatstadt Nazareth. Es setzt die Bewohner in Erstaunen. Die Leute von Nazareth sagen: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria?“ Jesus hat viel Zulauf in Nazareth. Aber die Leute sind skeptisch. Woher hat der Mann das? Sie haben von seiner erstaunlichen Wundertätigkeit gehört. Aber sie zucken die Achseln: Ist das nicht der Zimmermann? Man spürt den inneren Widerstand, der von Anfang an da ist und in einem Fememordversuch (Lk 4,29) gipfeln wird. Warum dieser Widerstand? Jesus kommt von Kapharnaum. Dort hat er die Wunder getan, von denen man überall spricht. Dort ist auch etwas anderes geschehen. Eines Tages ist in Kapharnaum eine schriftgelehrte Gutachterkommission erschienen. Sie war von Jerusalem ausgesandt, um die Wundertätigkeit Jesu von Nazareth an Ort und Stelle zu untersuchen. Das Ergebnis der amtlichen Visitation war: Dieser Galiläer tut tatsächlich Wunder. Aber er vollbringt sie im Bund mit teuflischen Mächten (Mk 3,22).

Der moderne Leser mag überrascht sein. Wir hatten vielleicht ganz andere Vorstellungen von den ersten Meinungskämpfen um Jesus von Nazareth. Im Altertum, so stellt man sich vor, waren die Menschen kritiklos und wundergläubig und von vornherein überzeugt, dass ein Gottesmann Wunder tun könne und müsse. Schon falsch. Johannes der Täufer zum Beispiel war ein berühmter Gottesmann, aber er hat nie ein Wunder getan – und galt dennoch vielen Zeitgenossen als der Messias, der da kommen sollte (Lk 3,15; Joh 10,41). Andere denken sich die Sache so: Die Christen glaubten an Jesus und erzählten viel von seinen Wundertaten. Die Juden lehnten Jesus ab und glaubten den christlichen Wundererzählungen nicht. Auch falsch. Der historische Tatbestand ist klar: Jesus hat viele und große Wunder getan. Darüber sind sich die Zeitgenossen Jesu und Augenzeugen seiner Wirksamkeit völlig einig, ganz gleich, ob sie zu den Anhängern oder zu den Gegnern Jesu gehören. Meinungsverschiedenheiten gibt es nur um die Frage, wie die Wunder Jesu zu deuten sind. Genau das ist die Situation, in die das Gutachterteam von Mk 3,22 eingreift. Die Herren kommen aus Jerusalem nach Galiläa; sie inspizieren die Wirksamkeit Jesu; sie stellen fest, dass er Wunder tut; sie stellen klar, dass seine Wunder nicht Gotteswunder sind, sondern Teufelswunder.

Aber wie in aller Welt kann ein gelehrter Gutachter entscheiden, ob ein Wunder göttlichen oder widergöttlichen Ursprungs ist? Die schriftgelehrten Abgesandten aus Jesusalem trauen sich diese Entscheidung ohne Anmaßung zu. Denn sie finden dafür einen Maßstab in ihrer Bibel. In 5 Mos 13,1-6 wird der Grundsatz entwickelt: Wenn ein Wundertäter das mosaische Gesetz respektiert, so sind seine Wunder echt, Gotteswunder. Wenn er dieses Gesetz verletzt, sind seine Wunder vom Teufel. Genau nach dieser Richtschnur sind die Jerusalemer Rechtsgelehrten vorgegangen im Falle Jesu. Hat Jesus das mosaische Gesetz verletzt? Jawohl. In aller Öffentlichkeit und demonstrativen Grundsätzlichkeit (z.B. Mk 2,7; 2,27; 7,15; 10,9; Joh 8,11). So wie sie es verstanden und auslegten; ohne zu berücksichtigen, dass in Jesus der Gottessohn als allein befugter authentischer Ausleger vor ihnen stand. Mk 2,7: Als Jesus dem Gichtbrüchigen erklärte: Die Sünden sind dir nachgelassen, sagten die anwesenden Schriftgelehrten: Er lästert Gott. Wer kann Sünden nachlassen als nur einer, Gott? Mk 2,27f.: Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Im Übrigen ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. Mk 7,15: Es gibt nichts, was von außen in den Menschen eingeht, das ihn verunreinigen könnte. Mk 10,9: Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen. Joh 8,11: Auch ich verurteile dich nicht. Das alles sind nach der Auslegung der Schriftgelehrten Verstöße gegen das mosaische Gesetz. Daher ihre Schlussfolgerung im Sinne von 5 Mos 13: Die Wunder Jesu sind Teufelswunder.

Der moderne Leser fragt sich wohl manchmal: Wie ist es eigentlich möglich, dass man Jesus verworfen und gekreuzigt hat trotz all der Wunder, mit denen er sich auswies? Die wissenschaftliche Antwort lautet paradox genug: Nicht trotz jener Wunder, sondern wegen jener Wunder hat man ihn verdammt. Das sagen die Pharisäer und die Schriftgelehrten im Neuen Testament allenthalben: Jesus ist ein Verführer; er will das Volk durch schwarze Magie zum Abfall vom mosaischen Gesetz und vom Gott der Väter verleiten (Mt 27,63; Joh 9,16. 28f.; 11,45ff.; 12,18f.). Die schriftgelehrten Originaltexte des neutestamentlichen Zeitalters sagen fast wörtlich dasselbe: „Jesus von Nazareth hat gezaubert und verführt und Israel zum Abfall verleitet“ (Traktat Sanhedrin 43a, Münchener Handschrift). Und selbst die Jünger Johannes des Täufers führen in ihrer oft sehr leidenschaftlichen Jesuspolemik gerade die Wunder gegen Jesus ins Feld. Wir besitzen einen Kampftext, der offenbar aus den ältesten Täuferkreisen stammt. Dort heißt es: „Unser Meister hat das Gesetz gelehrt und auf Wunder verzichtet. Jesus aber bricht das Gesetz und verführt das Volk durch dämonische Wunder.“ Kurz, in den Augen seiner gesetzestreuen Gegner hat der galiläische Ketzer sich durch seine Wundertätigkeit nicht legitimiert, sondern kompromittiert. Das Verdammungsurteil von Mk 3,22 aber ist mehr als irgendein Dokument der Agitatoren und der Polemik; es ist ein religionsgesetzliches Gutachten auf biblischer Grundlage, eine Art Bannbulle, gleichbedeutend mit einer öffentlichen Exkommunikation Jesu (Joh 8,48; 9,22; 11,57).

Die verheerenden Wirkungen dieser amtlichen Verlautbarung kann man sich vorstellen. In Kapharnaum, in Chorazin, in Bethsaida, überall in Galiläa, setzt jetzt eine antijesuanische Massenbewegung ein (Mt 11,22-24; Joh 6,60. 66). Nun wird uns klar, warum die Leute von Nazareth so skeptisch sind, trotz aller Wunder, die Jesus getan hat. Sie wissen von der Jerusalemer Bannbulle und sind von der antijesuanischen Massenpsychose erfasst. Die Jerusalemer Bannbulle hat eine Rechtskonsequenz, die tief in die Privatsphäre eingreift und an jenem Sabbatmorgen eine außerordentlich peinliche Rolle spielt. Wenn ein Jude in der Zeit und Heimat Jesu durch ein amtliches Verdammungsurteil gebrandmarkt ist, beschäftigt man sich alsbald ganz ungeniert mit den Umständen seiner Geburt. Ist da vielleicht etwas nicht in Ordnung, was man gegen ihn aussprechen kann? Ist da vielleicht Material zu holen für einen perfekten Skandalfall? Solange ein Jude sich korrekt an Moses hält, schont man ihn. Aber sobald er zum Ketzer erklärt ist, spricht man öffentlich von den intimsten Dingen, je lauter und giftiger, desto erfolgreicher. Genauso machen es die Landsleute Jesu in Mk 6,3. Denn das ist der Sinn des hässlichen Zwischenrufs: „Ist das nicht der Sohn der Maria?“ Der moderne Europäer liest das ganz unbefangen und denkt wohl gar: Jesus war „natürlich“ der Sohn Josephs, hat aber seinen Vater früh verloren und heißt darum hier der Sohn Marias. Aber das ist viel zu europäisch gedacht und viel zu modern. Man muss die Ahnung vom altjüdischen Familienrecht haben, wenn man jenen Zwischenruf richtig verstehen will. Im antiken Palästinajudentum führte man statt des Familiennamens den Namen seines Vaters mit dem Vorsatzwort ben oder bar (= Sohn des…). So z.B. Akiba, ben Joseph = Akiba, Sohn des Joseph; Samuel, bar Nachman = Samuel, Sohn des Nachman. Auch in griechischen Texten erscheint diese semitische Namensform. Berühmtestes Beispiel ist der Apostel Simon bar Jona = Simon, Sohn des Jona = Petrus in Mt 16,17. Diese Namensform blieb unberührt von der Frage, ob der Vater noch lebte oder nicht. Wenn ein antiker Palästinajude dagegen nach dem Namen seiner Mutter genannt wurde, so bedeutete dies, dieser Mann „hat keinen Vater“, er ist ein illegitimes Kind. Die Leute von Nazareth tuscheln miteinander: Ist das nicht der Sohn der Maria? Was wollen sie damit sagen? Dieser Mann, der da so gewaltige Reden hält, dieser Jesus sollte lieber ganz still sein, denn er hat keinen Vater. Dieser Angriff ist so hämisch und vernichtend, dass die späteren Evangelisten ihn auf jede Weise abzuschwächen versuchen (Mt 13,55; Lk 4,22; Joh 6,42). Auch die jüngeren Handschriften des Markusevangeliums haben das jüdische Kampfwort in 6,3 fürsorglich abgeändert. Warum? Weil sie wussten, dass die Bezeichnung „Sohn der Maria“ ein jüdisches Schimpfwort war, das kein Christenmensch in den Mund nehmen mochte.

So also ist es unserem Herrn ergangen. Er wurde verdächtigt und beschimpft. Der Heiligste von allen, den die reinste Mutter gebar, musste Schmähung und üble Nachrede über sich ergehen lassen. Und das in seiner Heimat, von seinen Stammesgenossen und Nachbarn. Sie suchen ihn zu steinigen, die Strafe für einen Gotteslästerer. Wahrhaftig, durch Leiden seines Gottesknechtes wollte Gott die Menschheit erlösen. „Verachtet war er, der letzte der Menschen, ein Mann der Schmerzen, mit Qualen vertraut. Wie einer, vor dem man sein Antlitz verhüllt. So war er verachtet. Wir schätzten ihn nicht.“

Amen.

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