19. März 2023
Die Worte der Anklage
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Christus hat in seiner Passion auch Worte der Anklage gesprochen. Es hat eine besondere Bewandtnis mit diesen Anklagen. Als die Knechte des Hohenpriesters dem Herrn die Augen zubanden, ihn schlugen und dann höhnisch fragten: „Nun weissage uns: Wer war es, der dich geschlagen hat?“, da hat er kein Wort erwidert; er hat keinen dieser Knechte angeklagt; das grausame Spiel strafte er mit Nichtachtung. Wohl aber hat er ein Wort der Anklage gesprochen gegen Pilatus, gegen die Hohenpriester und Führer des Volkes und gegen das Volk selbst. Aber auch diese Worte haben nicht den Ton der Anklage. Sie haben nichts Flammendes und Zürnendes, so wie er früher seine Anklagen gegen die Pharisäer geschleudert hat. Sondern der Herr hat seine Anklagen ausgesprochen mit ruhiger Sachlichkeit, hinter der freilich eine namenlose Traurigkeit steht. So lassen uns diese Worte der Anklage tief hinabschauen in sein heiligstes Herz.
Zuerst hat er ein Wort der Anklage gesprochen zu Pilatus. Der Prokurator fragte den Herrn mancherlei Dinge, und Jesus antwortete kein Wort. Da wunderte sich Pilatus und fragte: „Warum antwortest du mir nicht? Weißt du nicht, dass ich die Gewalt habe, dich zu kreuzigen, und die Gewalt, dich freizugeben?“ Darauf antwortete der Herr ganz sanft und ruhig: „Du hättest keine Gewalt über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.“ Das hört sich zunächst gar nicht an wie eine Anklage, sondern eher wie ein Ehrenzeugnis, das dem Pilatus ausgestellt wird. Pilatus war ein feiger Mensch, ein ungerechter Richter. Nichts war in ihm, was groß oder erhebend auf uns wirken könnte. Und doch ist in ihm etwas, das von oben gekommen ist; etwas Göttliches ist auch in ihm noch. Was war das Göttliche in Pilatus? Du hättest keine Gewalt über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre. Es ist ihm Gewalt gegeben über den Heiland. Pilatus war ein legitimer Herrscher und ein legitimer Richter. Jesus hat das anerkannt. Die legitime Autorität geht auf Gott und Gottes Willen zurück; sie stammt von oben, und dieses Göttliche ist wohl zu unterscheiden von dem Menschen, dem es anvertraut ist; und selbst wenn dieser Mensch ein Schurke sein sollte, ist etwas Göttliches in ihm. Die Autorität, die er vertritt, ist mit Ehrfurcht zu behandeln.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind viele Vorwürfe gegen die Kirche erhoben worden. Dass sie dem nationalsozialistischen System nicht schärfer entgegengetreten ist. Dass der Apostolische Stuhl die diplomatischen Beziehungen mit Hitler-Deutschland nicht abgebrochen hat. Dass der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz dem „Führer und Reichskanzler“ bis zum Schluss Geburtstagsglückwünsche ausgesprochen hat. Wer diese Vorwürfe erhebt, vergisst, dass die Regierung Hitler das Deutsche Reich repräsentierte und lenkte. Dass sie die Lebensmöglichkeiten der Menschen auf ihre Weise zu erhalten versuchte. Dass die Bevölkerung in Ernährung, Kleidung und Wohnung auf sie angewiesen war. Wie pervers das nationalsozialistische Regime auch war, es funktionierte in wesentlichen staatlichen Funktionen bis zum Schluss. Das deutsche Volk war daher vom sittlichen Naturgesetz gehalten, ihm in allem, was nicht in sich schlecht war, Gehorsam zu leisten. Man kann zu einer ungerechten Regierung schlechte Beziehungen unterhalten, aber man kann nicht gar keine Beziehungen haben. Danach hat die Kirche gehandelt.
Aber das war nicht alles, woran der Herr dachte, als er sagte: Du hättest keine Gewalt über mich. Es war in dem Pilatus etwas Besonderes. Dieser Mensch, diese Heide, dieser Römer war dazu berufen von Ewigkeit her, war dazu geschaffen worden, um in dieser Stunde Gewalt zu haben über Jesus. Er sollte an diesem Tage das Schicksal des Gottessohnes in seiner Hand tragen. Dafür war er von Gott bestellt, berufen und auserwählt. Das war die große Stunde seines Lebens. Dafür war er geschaffen worden, dass er in dieser Stunde Gewalt habe über Christus den Herrn. Aber er hat diese Gewalt, zu kreuzigen oder freizugeben, wie er sich ausdrückt, gebraucht, um den Herrn zu kreuzigen, um ihn zu verwerfen, um ihn wegzustoßen, um ihn zurückzusetzen hinter alle anderen Interessen. Dazu hat er seine Gewalt gebraucht. Das Größte, was ihm gegeben war, das Göttliche, das ihm anvertraut war, die göttliche Stunde, für die er geschaffen war, hat er so gebraucht. Das ist die furchtbare Anklage, die Jesus gegen Pilatus richtet: Das Beste, was du hast, das einzig Göttliche, das hast du zur Kreuzigung des Sohnes Gottes gebraucht.
Pilatus ist nicht der einzige, der diese Gewalt, diese wundersame, diese einzigartige Gewalt so gebraucht hat. Es hat viele Menschen gegeben und gibt es noch, denen Gewalt gegeben ist über Christus den Herrn. So hat es schon der Apostel Paulus mit Schrecken gesehen, dass den Hafenarbeitern und Kioskverkäufern in Korinth Gewalt gegeben war über den Glauben Jesu Christi; ob das Evangelium des Herrn gelästert oder gepriesen wird, das war ihnen in die Hand gegeben. So vielen Päpsten ist das Schicksal Jesu und seiner Kirche in die Hand gegeben worden, auf dass sie deren Glieder lehren, eindeutig lehren, nicht missverständlich, so dass ihre Äußerungen immer wieder interpretiert und korrigiert werden müssen. Und so vielen Priestern ist Gewalt gegeben über Jesus, dass sie jeden Morgen seinen Leib in ihren Händen tragen dürfen; es sollen reine, unbefleckte Hände sein, die den Sohn der Jungfrau tragen. Und Gewalt gegeben ist jedem Christen, was aus Christus wird in dieser Welt, aus seiner Lehre, aus seinem Evangelium, aus seiner Gnade. Ob er verherrlicht wird oder verachtet, wie seine Kirche dasteht in der Welt, das ist jedem von uns in die Hand gegeben. Das ist das Große, das ist das Göttliche in unserem Leben, dass uns Gewalt gegeben ist über Jesus den Herrn. Von uns, die wir uns katholische Christen nennen, die wir tagtäglich seinen kostbaren Leib empfangen, von uns, die wir den Glauben haben, von uns, die wir das Evangelium der Liebe bekennen, von uns hängt es ab, was man in der Welt von Christus denkt oder hält. Wie weit er kommt oder nicht kommt, ob er freigegeben wird oder ob er aufs Neue gekreuzigt wird, das hängt von jedem Christen zu seinem Teil ab.
Jesus hat Pilatus angeklagt, dass er seine gottgegebene Macht dazu gebrauche, den Sohn Gottes zu kreuzigen. Aber er fügt gleich hinzu: „Der, welcher mich dir überliefert hat, der hat die größere Schuld.“ Das ist eine Anklage gegen die Führer des Volkes. Denn sie wollten den Herrn töten, aus ihrem bösen Herzen heraus, aus Hass, aus Herrschsucht, weil er sie in ihrer Vorrechtstellung bedroht hat, weil sie zu seinen Gunsten hätten zurücktreten müssen von der Führung des Volkes. Das wollten sie nicht. Darum muss er weg. Darum haben sie das Volk aufgewiegelt, sind herumgegangen und haben ihnen zugeredet: Gelt, du mein Lieber, dass du mir den Barabbas losbittest und nicht diesen Galiläer. Und durch ihr eigenes Beispiel haben sie gewirkt und durch die Ausnutzung der äußeren Abhängigkeit. Gewiss waren zahlreiche Bewohner von Jerusalem von diesen Führern wirtschaftlich abhängig; ein jeder wusste, was ihm bevorstand, wenn er ihnen nicht zu Gefallen war. So ist es ihnen gelungen, eine Stimmung, eine öffentliche Meinung zu erzeugen, indem sie die Massen in Bewegung setzten, indem sie die Massen mit Hass erfüllten. Und der Massenhass hat keine Vernunft mehr, hat keine Zügel und keine Mäßigung. Und sie haben den Blutrausch der Masse geweckt, die Grausamkeit der Masse. Die Masse ist immer grausam, hat es am liebsten, wenn ein Mensch zum Tode verurteilt und hingerichtet wird. So haben sie die Massenpanik, die Massenfurcht erweckt: Wenn wir den nicht beiseite schaffen, werden die Römer uns alle vernichten. So entstand eine öffentliche Meinung, und gegen eine solche konnte Pilatus nicht aufkommen; da hätte wahrscheinlich selbst ein Stärkerer als er sich beugen müssen. So haben sie den Pilatus gezwungen, den Herrn zu töten. Darum haben sie die größere Schuld, und darum sind sie schuldig an diesem Justizmord, dem größten, der je geschehen ist. Denn sie haben die Stimmung erzeugt, aus der dieser Mord geschehen musste.
Das ist auch der Weg, auf dem wir alle immer noch schuldig werden, schuldiger als die Ausgestoßenen, die wir die Schuldigen zu nennen belieben. Wenn in einem Menschenherzen eine Leidenschaft ist, ungeordnete Habsucht, ungeordnete Sinnlichkeit, ungeordnete Herrschsucht, dann will er diesen Trieb auch befriedigen. Der Habgierige reißt alles an sich, was er erwischen kann, und es ist ihm jedes Mittel recht dazu. Es setzt ein Rennen nach irdischen Gütern ein, das geradezu ansteckend wirkt. Alles scheint dann erlaubt, wenn es nur zum Ziele führt. Es entsteht eine allgemeine Raubgier, eine allgemeine Gewissenlosigkeit. Oder einer hat eine besondere Methode des Lebensgenusses erfunden. Gleich machen es andere nach, alle machen es nach, jeder meint, es mitmachen zu müssen. Keiner will sich als den Dummen ansehen lassen, die Freunde und Freundinnen sollen nicht sagen: Du bist ja noch ganz rückständig, dass du das nicht mitgemacht hast, dass du dieses erotische Erlebnis noch nicht gehabt hast. So entsteht ein furchtbarer Zwang, mitzumachen. Schuld sind dann alle, die sich aus ihrem bösen Herzen auf diesen Weg begeben haben; alle tragen bei, diesen Zustand zu schaffen. Wenn dann ein Zustand allgemeiner Rücksichtslosigkeit, Habsucht, Selbstsucht, Genusssucht, Sinnlichkeit geschaffen ist, dann fährt plötzlich ein Blitz hernieder, ein Riesenbetrug, ein Pornographenring, ein Serienmord, ein Riesenkrieg, und dann fragt man: Wer ist schuld daran? Dann sagt der eine oder andere: Gott sei Dank, dass ich nicht so bin wie dieser Betrüger, dieser Sexualverbrecher, dieser Mörder! Ach nein, du bist mit daran schuld, weil du dazu beigetragen hast, eine solche Lage zu schaffen. Aber jene Armen, die schuldig geworden sind, die dann bestraft und ausgestoßen werden von der gleichen Gesellschaft, die sie erzeugt hat, werden von Christus in Schutz genommen: Ihr seid wohl schuldig, aber diejenigen haben die größere Schuld, die euch da hineingestoßen haben. Heute sind die Zeitungen voll von Berichten über Verfehlungen Erwachsener mit Kindern. Das Fernsehen bemächtigt sich des Themas mit wohliger Genugtuung. Jetzt kann man es der Kirche heimzahlen. Jetzt steht sie am Pranger. Jetzt sind die Pfaffen entlarvt. Aber wie konnte es zu den Übergriffen kommen? Ist nicht die sexuelle Revolution vorhergegangen? Hat man nicht den Sexualtrieb enttabuisiert? Hat man nicht Enthaltsamkeit und Beherrschung lächerlich gemacht? Hat man nicht den Kindern in der Schule die unterschiedlichen Arten sexueller Betätigung vorgestellt? Hat man sie nicht gelehrt, was safer sex ist? Ist nicht die Abtreibung der Leibesfrucht fortwährend verharmlost worden, bis man bei der Diskussion um das Recht auf Abtreibung angelangt ist? Gibt es nicht Stimmen, welche die Sexualität mit Kindern von Strafe freistellen wollen? In dieser Atmosphäre des Libertinismus scheint die Feststellung angebracht: Bei aller berechtigten Verurteilung der Übergriffe auf Kinder und Jugendliche ist zu fragen, ob nicht diejenigen die größere Schuld haben, welche die allgemeine sexuelle Enthemmung gefordert und betrieben haben.
Eine dritte Anklage hat der Herr erhoben. Als er sein Kreuz trug, sind ihm die Frauen von Jerusalem gefolgt oder begegnet, und sie hatten ein gutes Herz und weinten bitterlich über sein Schicksal. Da hat der Heiland sie angeredet und gesagt: „Ihr Frauen von Jerusalem, weinet nicht über mich, weinet über euch und eure Kinder. Denn siehe, es werden Tage kommen, da wird man die Frauen selig preisen, die gar keine Kinder haben. Da werden sie zu den Bergen sagen: Fallet über uns, und zu den Hügeln: Bedecket uns. Denn ich sage euch, wenn das am grünen Holz geschieht, was wird dann am dürren geschehen!“ Das ist auch eine Anklage, und die Angeklagten sind nicht diese guten Frauen, sondern das ganze Volk von Jerusalem. Er meint das Volk, über das er einst geweint hatte: „Ach, dass du es doch erkannt hättest an diesem deinem Tage!“ So aber bist du blind. Und was für eine Anklage erhebt er? Dass sie dürres Holz seien, ausgedörrt und leblos. So ist mein Volk geworden, ein dürres Holz. Das Leben wurde ihm dargeboten, aber es wurde nicht aufgenommen. Es fehlte an Empfänglichkeit, am bereitwilligen Herzen. Alles ist verstockt, versteinert, verhärtet, tot. Das ist wahrhaftig ein Unglück, ein Unglück größer als die äußere Passion Jesu Christi. Die Frauen weinen über sein Leid, aber sein Leid kommt gar nicht in Betracht gegen das namenlose Mysterium der verhärteten, der toten Seelen. Das ist ein so furchtbares Mysterium, dass kein anderes Leid dagegen aufkommt, dass man selbst über den leidenden Heiland nicht mehr weinen kann, wenn man dieses Mysterium geschaut hat. Und er hat es geschaut. Vom ersten Augenblick seines Lebens erscheint es durch sein ganzes Leben, erscheint es in diesen letzten Stunden seines Lebens; das steht unmittelbar und unaufhörlich vor seiner Seele. Die Frauen haben ihm nur den Anlass gegeben, das auszusprechen, aber die Gedanken, die ihn unaufhörlich beschäftigen, auch jetzt, während seines Leidens, das sind die düsteren Gedanken um das Geheimnis der Verhärtung seines Volkes, um das mysterium iniquitatis, um das Geheimnis der Bosheit. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Das Licht kam in die Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht begriffen. Das Leben ward dargeboten, aber es wurde zurückgestoßen. Sie wollten nicht. „Du hast nicht gewollt!“ Was für ein Mysterium ist das! Ein Mysterium, über das Jesus weint sein Leben lang, das ihm noch die letzten Stunden seines Lebens verdüstert hat, das Geheimnis, dass es möglich ist, dass an einer Menschenseele alles verloren ist, Gnade und Liebe und Blut; alles ist verloren an ihr. Das ist das düstere Geheimnis seiner letzten Stunden. Aber es erweckt in ihm keinen Zorn mehr, sondern nur noch namenlose Traurigkeit. Er fühlt es wie den großen Schmerz seines Lebens, den großen Schmerz seines göttlichen Herzens, das Geheimnis, das auch seine Liebe und seine Weisheit nicht aufhellen kann. So klingt die letzte Anklage, die eigentlich die furchtbarste ist, mehr wie eine Klage, eine Totenklage, eine Totenklage um sein totes Volk, eine Totenklage um die gestorbenen Seelen, eine Totenklage um das verlorene Blut, eine Totenklage um die vergebliche Liebe Gottes. Das ist der letzte große Schmerz seines Herzens, der ihn ans Kreuz begleitet.
Amen.