Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. Februar 2023

Gottes Weinberg

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

I. Unsere Seele ist Gottes Weinberg

1. Als das Volk Israel einstmals sein Herbstfest feierte, als die fröhliche Menge die Straßen Jerusalems durchzog und den Tempelvorhof belebte, trat der Prophet Isaias unter sie und begann zu erzählen. Er sprach von einem Freunde, der an einem fruchtbaren Ort einen Weinberg hatte. Er hegte und pflegte ihn. Er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin Edelreben. Alles hatte er getan, was für eine reiche Ernte notwendig ist. Doch als er nach dem Ertrag sah, fand er keine ausgereiften süßen Trauben, sondern nur Herlinge, die nicht zur Reife kommen. Da hielt der Prophet inne. Dann zum Volk gewandt, sprach er: „Ich will euch zeigen, was ich meinem Weinberg tun werde. Ich reiße seine Umhegung nieder, dass er zur Weide werde. Ich breche nieder seine Mauer, dass er zertreten werde. Den Wolken will ich gebieten, ihn nicht zu benetzen mit Regen“ (Is 5). Das war im Bild gesprochen. Des Herren Weinberg ist das Haus Israel, und die Männer von Juda sind seine Pflanzung. Gott hoffte auf Rechttun – und siehe da, Schlechttun. Er hoffte auf Gerechtigkeit – und siehe da, Schlechtigkeit. Jahrhunderte vergingen. Da sprach Christus ein ähnliches Gleichnis. Er erzählte von einem Hausvater, der einen Weinberg pflanzte, ihn mit einem Zaun umgab, eine Kelter darin grub, einem Turm baute, ihn den Winzern übergab und dann verreiste. Als die Zeit der Ernte kam, sandte er seine Knechte zu den Winzern hinaus; und siehe, sie töteten sie; zuletzt sogar seinen Sohn, den Erben. Dann richtete der Herr die Frage an das Volk: Wenn nun der Herr des Weinbergs kommen wird, was wird er diesen Winzern tun? (Mt 21,33ff.). Auch das ist im Bild gesprochen. Es bedarf der Übersetzung in die Wirklichkeit.

2. Das ist unsere Geschichte, die Geschichte unserer Seele, die Geschichte der von uns empfangenen Gnaden. Jedes Christenleben ist ein Gnadenleben, jedes Jahr ein Gnadenjahr, jeder Tag ein Gnadentag, jede Stunde eine Gnadenstunde. Über jedem Menschen schweben die heiligen Geheimnisse des Gnadenwaltens Gottes. Unsere Seele ist wie ein Weinberg Gottes, gepflanzt an ewigen Wasserbächen, betaut von seinen Himmelsgnaden, bestrahlt von seinem Sonnenschein, benetzt von seinem Gnadenregen. Wir Christen leben im Glanz der Gnade. Von der Taufe angefangen sind wir wie ein Weinberg Gottes, von dem er sagen kann: „Was hätte ich meinem Weinberg noch tun können, das ich ihm nicht getan habe?“ Wenn wir in Sünde und Schuld verwickelt waren, was dann? Ließ Gott nicht Gnade vor Recht ergehen? Seine Gnade war mit uns, ging uns nach, behütete uns, bewahrte uns vor dem Untergang. „Was hast du Mensch, das du nicht empfangen hättest?“ (1 Kor 4,7).

3. Gott tat alles. Was taten wir? Das ist die große Lehre dieses Gleichnisses. Gottes Wirken und unser Mitwirken, beides muss im Weinberg unserer Seele gelten. „Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der frühmorgens ausging, Arbeiter für seinen Weinberg zu dingen.“ Gott hat uns gedungen, den einen früh, den anderen später, wieder andere sehr spät. Aber alle wurden von Gott berufen, zur Arbeit eingeteilt; alle erhielten ohne Unterschied die Verheißung des Lohnes. Aber alle waren auch gehalten zu arbeiten. Für diese Arbeit gilt die Weisung des Herrn:

II. Unser Erdenleben ist ein Arbeitstag

1. „Wirket, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand mehr wirken kann“ (Joh 9,4). Dieses Wort des Herrn mahnt uns, die Zeit zu benutzen, die er uns in seiner Güte gab, die kostbare Lebenszeit. Viele Menschen sagen: Wir wollen uns die Zeit vertreiben. Der Apostel Paulus sagt dagegen: „Erkaufet die Zeit“ (Eph 5,16). Die ganze Zeit sollen wir zum Heil für die Ewigkeit benutzen. Das sagen uns die Ausgänge des Hausvaters zu den verschiedenen Stunden des Tages. Mancher meint, er könne sich in der Jugend ausleben, alles mitmachen und genießen. Die späteren Lebensjahre könne man für Gott verwenden, also Gott den Rest anbieten, das übriggebliebene Alter. Das ist ein böser Irrtum. Auch der Jugend hat der Herr des Weinbergs zugerufen: „Gehet auch ihr in meinen Weinberg!“ Dasselbe gilt für die reifen, die besten Jahre.

2. Andere meinen, es komme nicht darauf an, sich zu mühen und zu plagen, sie hätten Zeit, sie wollen sich nicht mit zu viel Arbeit wehe tun, wollen sich eine reichliche Anzahl von Tagen zum Müßiggehen aufsparen. Ihnen tönt die Stimme des Hausvaters entgegen: „Was steht ihr da den ganzen Tag müßig?“ Benutzet die Zeit; das Erdenleben ist euer Arbeitstag. In der Epistel betont Paulus den gleichen Gedanken. Er verweist auf die Wettläufer in der Rennbahn: „Wisst ihr nicht, dass diejenigen, die in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber nur einer empfängt den Preis? So laufet, dass ihr ihn erringet. Jeder aber, der im Kampfspiel ringt, enthält sich von allem, um einen vergänglichen Kranz zu empfangen, wir aber einen unvergänglichen“ (1 Kor 9,24ff.). Diese Mahnung gilt für alle unsere Erdenarbeit und unsere Ausnutzung der kostbaren Lebenszeit. „Laufet, damit ihr den Preis erringet!“ Steht an keinem Tag müßig. Alle Lebenstage sind kostbar. Das Erdenleben ist dein Arbeitstag. „Erkaufet die Zeit“, auf dass ihr den Herrn des Weinbergs nicht enttäuschet, sondern des Arbeitslohnes sicher seid, wenn die Stunde des Feierabends da ist.

III. Unser Feierabend ist der Tod, unser Arbeitslohn die Ewigkeit

„Als es nun Abend geworden war, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: „Rufe die Arbeiter und gib ihnen ihren Lohn, fange bei den letzten an, bis zu den ersten.“ Wie glücklich macht der Feierabend den müden Arbeiter. Das Leben ist unser mühebeladener Arbeitstag, der Todestag ist der Feierabend. Das Leben ist die Zeit der Aussaat, der Todestag die Zeit der Ernte. „Sie gehen hin und streuen ihre Saat unter Tränen, doch sie kommen wieder und fahren ihre Garben ein mit Frohlocken“ (Ps 125,6). Darum preist der Evangelist der Geheimen Offenbarung die Toten selig: „Selig sind die Toten, die im Herrn sterben. Von nun an, so spricht der Geist, sollen sie ausruhen von ihren Mühen, und ihre Werke folgen ihnen nach“ (Apk 14,13).

Zurück zum Gleichnis vom Weinberg. Mit der Arbeit ist wohl die Weinlese gemeint. Sie fordert den vermehrten Einsatz von Arbeitern. Weil die am Morgen gedungenen Arbeiter für die Arbeit nicht genügen, geht der Weinbergbesitzer um 9 Uhr, 12 Uhr, 15 Uhr und 17 Uhr nochmals aus und findet jedes Mal beschäftigungslose Leute vor. Nach Lev 19,13; Deut 24,15 musste auf Verlangen des Arbeiters der Lohn am Abend des Arbeitstages ausgezahlt werden. Man würde vermuten, dass zuerst die entlohnt werden, die am längsten gearbeitet haben. In dem vorliegenden Fall findet auf Anordnung des Weinbergbesitzers die Lohnauszahlung in umgekehrter Reihenfolge statt wie vorher die Einstellung der Arbeiter. Und alle ohne Ausnahme erhalten je einen Denar. Die Entlohnung wird zum Anlass eines Konfliktes. Die zuerst Gedungenen, die allein unter allen einen vollen Tag gearbeitet und damit ihren Lohn wirklich verdient haben, werden deshalb als Letzte entlohnt, damit sie sehen, dass auch die anderen ebenso viel wie sie empfangen. Das „Unrecht“, über das sich die zuerst Gedungenen beschweren, liegt einzig und allein darin, dass alle anderen, die weniger geleistet haben als sie, ebenso viel Lohn empfangen, wie sie, welche die Hitze und Last des Tages getragen haben.

Die Antwort des Weinbergbesitzers bringt die Lösung. Von einem Unrecht, d.h. einer Benachteiligung der zuerst Gedungenen, kann keine Rede sein; sie haben ja den am Morgen vereinbarten Lohn bekommen. Aber in ihrem Murren offenbart sich ihr Neid gegen die anderen. Es ist aber nicht bloße Laune, dass der Weinbergbesitzer so handelt. Der wahre Grund ist der, dass er gütig ist. Gott waltet bei seiner Vergeltung der menschlichen Arbeit mit souveräner Freiheit. Kein Mensch darf darüber mit ihm rechten. Gott kann bei seiner Vergeltung menschlicher Leistung so handeln, weil der Mensch sein Knecht ist und ihm nicht mit Rechtsansprüchen gegenüberstehen kann. Der Lohn, den Gott dem Menschen für seine sittlichen Leistungen gibt, bleibt immer ein „Gnadenlohn“.

Der Abbé Gaston, den Bruce Marshall in seinem Werk „Keiner kommt zu kurz“ schildert, bedenkt am Abend seines Lebens die Geheimnisse des Herrn. Wie unvollkommen verstand er sie! Eines aber glaubte er nun zu verstehen, nämlich dieses, warum alle Arbeiter im Weinberg, ob sie die Hitze und Last des Tages erduldet hatten oder nicht, den gleichen Lohn erhielten. Warum? Weil so vieles an der Arbeit seinen Lohn und so vieles in der Welt seine Strafe in sich selber trägt.

Arbeiten können, arbeiten dürfen ist ein Segen. Wer arbeitet, ist ein nützliches Glied der Gesellschaft. Er trägt bei zu ihrem Erhalt und Wohlergehen. Er ist tauglich, er wird gebraucht, die Gemeinschaft ist auf ihn angewiesen. Wer arbeitet, verdient Anerkennung und Dank. Er selbst empfindet Genugtuung darüber, dass er seine Kräfte einsetzen, eine Aufgabe erfüllen, ein Werk verrichten darf. Pflichterfüllung macht froh. Die Arbeit ermüdet zwar. Aber die Müdigkeit nach getaner Arbeit macht zufrieden. Man hat das Tagwerk geschafft. Man hat den Tag nützlich verbracht. Es kommt vor, dass die Arbeit misslingt, dass sie ergebnislos, ohne Erfolg ist. Wer vergeblich gearbeitet hat, wird an das Wort der Heiligen Schrift erinnert: Wenn der Herr das Haus nicht baut, bauen die Bauleute vergebens. In jedem Falle bleibt die Arbeit Gottes Auftrag, ist sie die Erfüllung des Schöpfungsbefehls, die Erde zu bebauen und zu pflegen. Gott hat den Menschen zur Arbeit erschaffen und zu diesem Zweck seine Glieder gebildet. Der Träge vereitelt deshalb seine Bestimmung und das Ziel seiner Erschaffung.

Das Leben des Menschen jenseits der Arbeit ist bunt und vielgestaltig. Manches mag ihn erheben und erfreuen. Aber vieles schadet ihm und schädigt ihn. Der Mensch sollte es wissen, und er wird es erfahren, dass vieles in der Welt seine Strafe in sich selbst trägt. Wer in der Welt sein Glück sucht und von ihr nimmt, was nur geht, unterwirft sich damit den Gesetzen dieser Welt. Er beutet sie aus, buckelt, um Karriere zu machen, hofiert, um an Vorteile zu gelangen, geht faule Kompromisse ein, weicht von der Wahrheit ab, vertraut der Geschichts-klitterung, baut auf Mehrheiten. In der Welt ist Fleischeslust, Augenlust und Hoffart des Lebens. Das alles stammt nicht vom Vater (1 Joh 2,16). Der hl. Augustinus hat aus eigener Erfahrung den Weg der Sünde im Menschen beschrieben. „Aus verkehrtem Willen ward die Lust, und da ich der Lust diente, kam es zur Gewohnheit, und da ich der Gewohnheit nicht widerstand, wurde sie zum Zwang. So waren es Ringe, in sich selbst gefügt, eine Kette, die mich in harter Knechtschaft gefangen hielt“ (Aug.). Johann Wolfgang Goethe hatte das Leben genossen. Und doch schrieb er. „Ach, ich bin des Treibens müde. Was soll all der Schmerz und Lust? Süßer Friede, komm, ach, komm in meine Brust!“ Der englische Dichter Oscar Wilde schrieb einmal eine Vision nieder, die das Gericht Gottes über die Menschenseele spiegeln sollte. Die Seele erscheint vor dem Richterstuhl ihres Herrn: „Ich muss dich verurteilen“, spricht dieser. „Du hast die andern ausgebeutet, deine Mitmenschen verachtet, die Eltern gekränkt, dir fremde Habe angeeignet.“ „Ja, Herr, das alles habe ich getan.“ „Du hast deine Sinne und Triebe herrschen lassen, bist blind deinen Leidenschaften gefolgt, hast dir alle Lust der Erde gegönnt.“ „Ja, Herr, das alles habe ich getan.“ „Ich muss dich also verurteilen.“ „Ja, Herr, das musst du.“ „Ich muss dich verstoßen zur Hölle.“ „Herr, das ist nicht möglich. Nein, Herr, das kannst du nicht, d.h. das kannst du nicht mehr. In einer Hölle bin ich allezeit schon gewesen!“

Der Christ ist kein Lohnsklave. Er tut seine Pflicht nicht um des Lohnes willen, sondern aus Gehorsam. Aber der Arbeiter ist seines Lohnes wert. Er darf in Hoffnung an den ewigen Lohn denken und auf ihn ausschauen, dem Wanderer gleich, der mühselig die Bergeshöhe ersteigt und dabei des Zieles und Ausblicks gedenkt, das ihn oben belohnen wird. Darum ist im Christenleben der Todestag der größte aller Tage, ein Festtag, der den treuen Knecht einführen soll in die Freude des Herrn. Es ist der Tag, der ihm erfüllt, was der Herr verheißen hat: „Freuet euch und frohlocket, euer Lohn wird groß sein im Himmelreich“ (Mt 5,12). Gott belohnt königlich. „Dort werden wir ihn schauen und lieben, ihn lieben und loben, ihn loben und ihm danken, ihm danken und bei ihm sein, bei ihm sein und bei ihm bleiben, am Ende ohne Ende.“ So ruft triumphierend der heilige Augustinus am Schluss seines Buches „Vom Gottesstaat“ aus. Darauf richtet den Blick in der Dämmerung des Erdenlebens: Ich glaube an ein ewiges Leben. Ich glaube an einen ewigen Lohn. Laufet, auf dass ihr den Preis in der Rennbahn erringet. Kämpfet als gute Soldaten Jesu Christi (2 Tim 2,3).

Amen.

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