Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
29. Januar 2023

Hat die Kirche versagt?

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Laue und abgefallene Christen erheben den Vorwurf: Die Kirche hat versagt. Sie hat 2000 Jahre Zeit gehabt, die Menschen nach dem Evangelium zu formen und mit Gottes Gnade in den Sakramenten zu stärken. Sie ist an ihrer Aufgabe gescheitert. Nach 2000 Jahren Christentum sind die Menschen immer noch die alten geblieben. Sie stecken tief in ihren Lastern, die Sünde ist in ständigem Steigen. Die Kirche hat versagt. Ist dieses Urteil berechtigt? Darf man wirklich sagen, das Christentum habe 2000 Jahre Zeit gehabt, die Menschen zu bilden? Es sind zwar seit 2000 Jahren Christen auf der Erde, aber das sind immer wieder andere Menschen. Um sie zu Christen zu formen, stehen im günstigen Falle 80 oder 90 Jahre zur Verfügung. Bei jedem einzelnen muss die Kirche neu ansetzen, um ihn nach dem Bilde Christi zu gestalten. Alle Christen und alle Generationen von Christen sind unmittelbar zu Gott. Die Kirche muss bei jedem Christen und bei jeder Generation von vorn anfangen, um sie zu christianisieren. Christentum vererbt sich nicht. Der Glaube und die Liebe reichen sich nicht weiter von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation wie leiblicher Besitz. Die Heiligung ist kein biologischer Vorgang. Sie wird nur gewonnen in der Entscheidung des Herzens und des Willens jedes Einzelnen. Jeder Mensch und jede Generation muss die Entscheidung für sich treffen. In jedem Menschen und in jeder Generation muss daher die Kirche von neuem anfangen. Sie muss immer wieder von vorn beginnen. Die Zeit ihrer Arbeit ist eng begrenzt.

Das Christentum ist eine Einladung. Ein Angebot. Ein Anruf. Christus lädt den Menschen ein, zu ihm zu kommen. Er appelliert an ihn. Er spricht seinen Willen an. Aber er zwingt den Menschen nicht. Er lässt ihm seine Freiheit. Auch die Freiheit, die Einladung abzulehnen. Am freien Willen des Menschen ist nicht bloß dem menschlichen, sondern auch dem göttlichen Wirken eine unübersteigbare Grenze gesetzt. Wenn der Mensch es ablehnt, sich zu Gott zu bekehren, kann Gott mahnen und warnen, drohen und strafen, aber den freien Willen des Menschen bricht er nicht.

Manche fragen höhnisch, andere schmerzlich: Warum hat die Kirche in 2000 Jahren nicht die gesamte Menschheit bekehrt? Warum bleibt die große Mehrheit vor ihren Toren stehen, ohne in sie einzutreten? Wir wissen die Antwort. Die Gabe ist zu groß, der gesuchte Empfänger ist zu klein. Das Christentum ist eine erhabene, nein, es ist die erhabenste Religion. Denn sie ist nicht geboren aus der religiösen Sehnsucht der Menschen, sondern durch Offenbarung Gottes zu den Menschen gekommen. Entsprechend hoch sind ihre Forderungen. Das Christentum ist eine anspruchsvolle, nein, die anspruchsvollste Religion. Ein englischer Bischof sagte zu einem seiner Priester: „Das Christentum unterscheidet sich von den anderen Religionen wesentlich dadurch, dass es den Menschen schwer fällt. Es ist nicht leicht für sie, auf Vergnügen, Wohlstand und Macht zu verzichten und jeden ihrer Tage so zu leben, als ob es ihr letzter wäre. Das war niemals leicht und wird es auch niemals sein.“ Was schwer ist, was Anstrengung und Überwindung kostet, zieht die Menschen nicht an. Die Kirche hat eine erhabene Glaubenslehre. Der dreifaltige Gott, der Gottmensch Jesus Christus, der Sühnetod des Gottmenschen am Kreuze sind Wahrheiten, ohne deren Annahme niemand ein Christ sein kann. Nicht jeder mag sich auf Gottes Offenbarung einlassen. Einfache religiöse Gebilde genügen Kaninchenseelen. Denken Sie an den Islam oder die Pfingstler. Ein englischer Bischof entgegnete einem, der der Kirche ihr Versagen vorwarf: „Sowohl der Dumme wie der Kluge haben von jeher die Kirche Gottes bevölkert. Nur der Halbgebildete ist jederzeit zu eingebildet gewesen, um in die Kirche zu kommen oder in ihr auszuharren.“ Ähnlich anspruchsvoll ist die Sittenlehre der Kirche. Den unsichtbaren Gott über alles lieben, den Mitmenschen, aber auch den Feind lieben, im Geiste wandeln und das Begehren des Fleisches überwinden, auf Schwelgerei und Schlemmerei verzichten, das kommt vielen Menschen schwer an. Der Schriftsteller Ernst Jünger hat sich erst mit 100 Jahren zur katholischen Kirche bekehrt. Warum so spät? Kommentatoren, die ihn kannten, sehen den Grund für sein Zögern in der kirchlichen Lehre vom Gebrauch der Geschlechtlichkeit. Jünger war kein treuer Ehemann. Die Kirche kann ihre Lehre nicht verbilligen. Sie vermag keinen Rabatt zu geben, wenn sie Gott treu bleiben will. In Paris fragte ein Straßenbahnschaffner einen Priester, ob nicht einmal vorübergehend die Vorschriften der Religion aufgehoben werden könnten, damit die Gläubigen eine Atempause bekämen. Aber der Priester versicherte ihm, das eben sei das Schwierige an der Religion, dass es niemals eine Atempause gebe, sondern immer nur den ganzen Weg lang eine Reise dritter Klasse.

Warum hat die Kirche in 2000 Jahren nicht die ganze Menschheit verchristlicht? Ein Grund, weshalb die Kirche in 2000 Jahren nicht mehr erreicht hat, liegt auch im Verhalten ihrer Glieder. Das schlechte Leben vieler Christen ist notorisch. Das wahre Christentum ist selten. Die Niedrigkeit der Charaktere, die Unsicherheit ihrer Überzeugung, die Ähnlichkeit ihres Lebens mit den Nichtchristen scheint zu beweisen, dass sie sich nicht genugsam von der Kraft und Größe des Evangeliums durchdringen ließen. Das schlechte Leben allzu vieler Christen schreckt Außenstehende ab, sich der Kirche anzuschließen und sich ihrem Einfluss zu überlassen. Der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung Mahatma Gandhi erklärte: „Ich wäre längst Christ geworden, wenn diese Christen nicht wären.“ Nicht das Christentum hat versagt, aber die Menschen haben versagt. Nicht die christliche Lehre hat sich als untauglich erwiesen, sondern die Menschen erwiesen sich als unfähig, sie zu leben.

Nun ist die Schwäche der Menschen eine bekannte Tatsache. Im ersten Buch der Heiligen Schrift spricht Gott selbst es aus: Das Sinnen des Menschen ist böse von Jugend auf (Gen 6,5). Doch gibt es die Möglichkeit der Umkehr. Die Kirche setzt eigene Zeiten fest, in denen ihre Glieder sich abkehren sollen von ihrem bösen Wandel und hinkehren zu Gott, die Fasten- und die Adventszeit. Die Kirche mahnt ihre Glieder, Reue zu erwecken. Sie lädt sie ein zum Sakrament der Erneuerung und der Versöhnung. Seit 2000 Jahren bietet sie ihre Mittel der Reinigung und Heiligung an. Aber die Menschen benutzen sie nicht, weichen ihnen aus. Warum ist die sündentilgende Beichte ein verlorenes Sakrament? Weil die Masse der katholischen Christen davon keinen Gebrauch macht. Die Seife ist seit vielen Jahrhunderten erfunden. Und doch werden die Menschen immer wieder schmutzig. Aber es gibt die Seife. Wer möchte behaupten, dass die Seife nicht sauber wäscht. Doch man muss von ihr Gebrauch machen.

Man wirft der Kirche vor, sie habe versagt, weil es ihr nicht gelungen ist, alle Menschen zu verchristlichen. Doch erinnern wir uns: Sie ist nicht die einzige religiöse Gemeinschaft, welche die Menschen in ihrer Hürde sammeln will. Die Kirche hat Konkurrenten. Sie suchen die Menschen vom Anschluss an die katholische Kirche abzuhalten oder sich von ihr zu trennen. Von diesen religiösen Gemeinschaften geht auf Personen, die überhaupt irgendein religiöses Bedürfnis haben, eine beträchtliche Anziehungskraft aus. Worin besteht sie? Die nichtkatholischen christlichen Gemeinschaften entfalten eine Werbekraft, indem sie die an ihre Anhänger zu stellenden Anforderungen, verglichen mit der katholischen Kirche, ermäßigen und unterbieten. Es ist ein Christentum zu herabgesetzten Preisen. Sie bieten eine einfache bis billige Glaubenslehre an. Soweit sie christlich sein wollen, sprechen sie z.B. kaum von der Dreieinigkeit Gottes oder lassen sie ganz fallen. Es bleibt im Allgemeinen ihren Anhängern überlassen, was oder wie viel sie glauben. Sie offerieren eine ausgedünnte und verbilligte Sittenlehre. Es bleibt ihren Anhängern im Wesentlichen überlassen, woran sie sich halten wollen. Man kann auch mit dem kantischen Pflichtethos protestantischer Christ sein. Fast ausnahmslos setzen sie die sittlichen Anforderungen auf dem Gebiet des Geschlechtlichen herab. Vorehelicher Verkehr, Ehescheidung mit Wiederverheiratung, Empfängnisverhütung, homosexuelle Betätigung und Abtreibung werden als zulässig oder gar empfehlenswert hingestellt. Ernsthafte Verpflichtungen zum regelmäßigen Besuch des Gottesdienstes existieren nicht. Wem die katholische Moral mit ihren präzisen, ins Einzelne gehenden sittlichen Normen nicht zusagt, findet leicht Geschmack an Vereinigungen, welche die sittlichen Anforderungen ermäßigen oder fallen lassen. Wie soll das katholische Christentum, die Kirche, Menschen verchristlichen, die ihm fernbleiben oder sich von ihm trennen?

Die Kirche wirkt seit 2000 Jahren. Das ist richtig. Aber ihre Widersacher, Gegner und Feinde wirken ebenfalls seit 2000 Jahren. Das ist ebenso richtig. Warum hat das Christentum nicht mehr erreicht? Warum hat es die Masse der Menschen nicht erhoben, veredelt, verinnerlicht? Weil sie 2000 Jahre lang daran gehindert wurde, ungestört ihr Heiligungswerk vorzunehmen. Es gibt kein Jahrhundert der Kirchengeschichte, in dem nicht sichtbare und unsichtbare Feinde bemüht waren, das Wirken Gottes in seiner Kirche zu hindern und zu stören, zu bekämpfen und zu zerstören. Seit 2000 Jahren tobt der geistige Kampf gegen das katholische Christentum. Von Anfang an haben sich Juden und Heiden ihm widersetzt, es herabgezogen, madig gemacht. Der Heide Celsus schmähte Jesus und seine heilige Mutter. Sie habe ihren Sohn im Ehebruch von einem römischen Soldaten empfangen. Dieser Anwurf hat bis heute seine Anhänger. Der Babylonische Talmud der Juden ist durchtränkt von Hass gegen Jesus, der als Betrüger bezeichnet wird. Er wird bis heute gedruckt und gelesen. Seit dem 7. Jahrhundert trat der Islam seinen Siegeszug an, zerstörte Hunderte von Bistümern und brachte die Bevölkerung durch Drohung oder Verlockung zum Abfall vom Christentum. Er ist bis heute der aggressivste Gegner des Christentums. In afrikanischen Ländern brennt er Kirchen nieder und zwingt die Bevölkerung in seine Hürden. Die Abfallbewegung Luthers und seiner Gesinnungsgenossen trug die Feindschaft gegen die Kirche und die Spaltung der Bevölkerung in alle Länder der Erde. Seit dieser Zeit hat unsere Kirche aufgehört, die Alleinvertreterin der Botschaft Christi zu sein. Die französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts haben es unternommen, ihr Land zu entchristlichen. Ihnen und ihren Nachfolgern ist es gelungen, das Christentum aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen und zu einer Randerscheinung zu machen. Frankreich ist kein christliches Land mehr. In Deutschland waren es vor allem die Anhänger des Darwinismus, das nationalsozialistische System (Staat und Organisationen) und (in der DDR) der Sozialismus, welche die Kirche bedrängten und einschränkten und die Gläubigen aus ihr herauszudrängen suchten. Die stärkste Konfession in unserem Land sind heute die Konfessionslosen. Zum Abfall kommt die offene Verfolgung. Man zählt mindestens 40 Länder, in denen das Christentum unterdrückt wird und die Christen verfolgt werden.

Die Kirche ist neben dem Göttlichen etwas Menschliches. Bei Menschen, allen Menschen, muss man mit Schwächen und Unvollkommenheiten rechnen. Es gibt keinen Menschen, gegen den keine Einwände erhoben werden können; selbst gegen Heilige lassen sich Beschwerden vorbringen.

Hat die Kirche versagt? Gewiss sind die Schwächen der Glieder und erst recht der Amtsträger schmerzlich und bedauerlich. Aber sie waren nicht imstande, den Segensstrom zu unterbrechen, der 2000 Jahre lang von den Altären und Predigtstühlen der Kirche ausgegangen ist. Die Geschichte der Kirche ist nicht eine Aneinanderreihung von Ausfall und Versagen. Sie ist vornehmlich die Abfolge von Dienst und Mühe, von Arbeit und Hingabe. 2000 Jahre hat sich die Kirche bemüht, die Menschen zu Gott zu führen, ihnen die Wahrheit und die Gnade des Heilands zugänglich zu machen. Sie hat die Kinder gelehrt, die Kranken getröstet, die Sterbenden heimgeleitet, die Frauen geschützt, die Ehe geheiligt. Unmessbar viel Gutes ist durch die Kirche geschehen. Sie hat sich als die Mutter der Elenden und Leidenden erwiesen. Das Christentum hat die Menschen geformt, die sich zu ihm bekehrt haben. Die Kirche hat es gewagt, sich den wilden Trieben und rasenden Leidenschaften der Menschen entgegenzustemmen. Sie hat bei vielen, die guten Willens sind, etwas erreicht, sie bekehrt, sie gebessert. Es hat viele gute Menschen auf der Erde gegeben und es gibt sie immer noch, die ihr Gutsein dem Christentum verdanken. Wenn heute in irgendeinem Winkel der Erde Katastrophen ausbrechen, da sind es die christlich geprägten Länder, die zuerst und wirksam Hilfe leisten. Die islamischen Staaten sind daran interessiert, den Islam zu verbreiten. An der Hilfe für die Bedrängten und Elenden liegt ihnen wenig. Christliche Entwicklungshelfer sagen uns: Wir bauen Straßen und graben Brunnen. Die Muslime errichten Moscheen. Weit über ihre gläubigen Glieder hinaus hat das Christentum die Menschheit mit ihrer Lehre beeinflusst. Am 9. Januar 1882 hielt der Reichskanzler Otto von Bismarck den ungläubigen Abgeordneten im Reichstag vor: „Auch diejenigen, die an die Offenbarungen des Christentums nicht mehr glauben, möchte ich daran erinnern, dass doch die ganzen Begriffe von Moral, Ehre und Pflichtgefühl, nach denen sie ihre andern Handlungen in dieser Welt einrichten, wesentlich nur die fossilen Überreste des Christentums ihrer Väter sind.“ Die Glieder und die Diener der Kirche haben nicht nur versagt. Sie haben sich auch bewährt in Kampf und Versuchung. Der Widerstand gegen das Unrechtssystem der Nationalsozialisten wurde mehrheitlich, ja entscheidend getragen von gläubigen Christen. Die Kirche war auch in Dachau und Auschwitz. Die Kirche ist nicht mit ihrer Aufgabe gescheitert. Sie ist in die Gefolgschaft ihres Herrn Jesus eingetreten. Sie geht ihm entgegen in der Erwartung seines Kommens. Wenn diese Stunde da ist, wird der Herr die Kirche als seine Braut umarmen und zu ihr sprechen: Wie bist du schön, meine Freundin, wie bist du schön!

Amen.

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