14. August 2022
Die Aufnahme Marias in den Himmel
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der katholische Glaube erhebt deswegen den Anspruch auf unumstößliche Sicherheit und verpflichtende Annahme, weil er begründet ist auf Gottes Offenbarungswort. Eine religiöse Lehre kann nur dann als Glaubenswahrheit oder Dogma verkündet werden, wenn sie in Schrift oder Überlieferung enthalten ist. Die Kirche schafft kein neues Dogma. Sie verkündigt eine Wahrheit als Dogma, welche der Kirche nach und nach aufgegangen ist. Es gibt Sterne im Weltall, die immer da sind, die aber erst durch einen Zufall oder ein neues Instrument entdeckt wurden. Der Astronom schafft keine neuen Sterne, er entdeckt sie nur. Am 23. September 1846 wurde der Planet Neptun, der von der Sonne gezählt achte Planet im Sonnensystem, entdeckt. Anlass ihn zu suchen waren Störungen der Bahn des Planeten Uranus; als deren Ursache vermutete man die Anziehungskraft eines weiteren, bis dahin unbekannten Planeten. Es war der Planet Neptun, den der Astronom Johann Gottfried Galle in der Sternwarte zu Breslau zum ersten Mal sah. So ähnlich verhält es sich mit Gottes Offenbarungswort. Als Hüterin und Lehrerin des Gotteswortes vermag die Kirche überlagerte und gleichsam eingeschlossene Wahrheiten herauszustellen, ohne der Offenbarung etwas Neues hinzuzufügen. Eine solche eingeschlossene geoffenbarte Wahrheit ist die Aufnahme Mariens in den Himmel. Der Christ, der stets alles glaubt und glauben muss, was Gott geoffenbart hat, glaubt mit der Aufnahme Mariens in den Himmel nicht Neuerfundenes, sondern etwas Neugefundenes. Er glaubt es, nachdem die Kirche es eindeutig, ausdrücklich und bewusst ans Licht gestellt hat. Die Wahrheit der Aufnahme Mariens in den Himmel besagt: Maria ist mit Leib und Seele in die Himmelsherrlichkeit eingegangen. Sie weilt auch mit ihrem verklärten Leib bei Gott und schaut ihn von Angesicht zu Angesicht. Bei allen anderen Heiligen und Seligen genießt nur die Seele die Anschauung Gottes bis zum Tag der Auferstehung der Toten.
Eine derartige Wahrheit kann nicht auf dem Wege geschichtlicher Beobachtung gewonnen werden. Die Aufnahme Mariens in den Himmel ist unerfahrbar. Sie hat keine Zeugen. Papst Pius XII. befragte im Jahre 1946 alle Bischöfe der katholischen Kirche, was in ihren Bistümern von der Aufnahme Mariens in den Himmel gelehrt und geglaubt werde. Die Antwort fast des gesamten Episkopats lautete: Es wird gelehrt und geglaubt, dass die Lehre von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel in der Offenbarung enthalten und daher zu glauben ist. Eine derart einstimmige Überzeugung der gesamten Kirche über den geoffenbarten Charakter einer Lehre ist ein unumstößliches Zeichen der Wahrheit. Wäre es nicht so, dann hätten die Pforten der Hölle über die Kirche triumphiert.
Der fragende Christ von heute sieht seinen Glauben durch einen weiteren Beweis gestützt. Seit dem 6. Jahrhundert sprechen die Kirchenväter der alten Zeit und die kirchlichen Schriftsteller durch alle Jahrhunderte die Überzeugung aus, Maria genieße bereits jetzt ihrem Leibe nach die ewige Anschauung Gottes. Das Geheimnis der Aufnahme Mariens in den Himmel liegt nicht als entfaltete Offenbarung vor uns. Es bedurfte der Entwicklung, um klar und deutlich in das Glaubensbewusstsein zu treten. Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 verlangten nahezu 200 Bischöfe die feierliche Verkündigung dieser Wahrheit als Glaubenssatz. Eine allgemeine Überzeugung, die sich durch alle Jahrhunderte der Kirchengeschichte durchgehalten hat, kann nicht falsch sein. Sonst hätte sie der Geist der Wahrheit, der in der Kirche wirkt, ausgeschieden.
Die Heilige Schrift schweigt über die Aufnahme Mariens in den Himmel. Aber sie enthält Hinweise, die diese Tatsache stützen. Da die Tatsache feststand, begriff man die Aussage des Protoevangeliums Gen 3,15 in vollerem Verständnis: Nach dem Sündenfall der ersten Menschen sprach Gott zu dem in der Schlange verborgenen Verführer: „Feindschaft will ich setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Spross und ihrem Spross. Er wird dir den Kopf zertreten, du aber wirst ihn an der Ferse verletzen.“ Unter dem Spross, dem Weibessamen, der der Schlange den Kopf zertritt, ist sicher auch Maria mit ihrem Sohn zu verstehen, die einen vollen Sieg über die Schlange davontragen. Zu diesem Sieg über die Schlange gehört der Sieg über die Sünde und die Folgen der Sünde, das ist Tod und Verwesung.
War es notwendig, dass Papst Pius XII. die Wahrheit von der Aufnahme Mariens in den Himmel zum Dogma erhob? Warum stellte er feierlich heraus, was wir längst als gesicherten Besitz geglaubt, was wir im Rosenkranz als Gebet vor Gott aussprachen, was wir am Fest Mariae Himmelfahrt in der kirchlichen Liturgie bezeugten? Zunächst ist es schon in sich ein Wert, Gottes Offenbarung zu kennen; sie erfolgte ja um unseres Heiles willen. Die Aufnahme Mariens in den Himmel konnte erst in langsamer Entfaltung und Entwicklung im vollen Umfang aufleuchten. Die feierliche Herausstellung dieses Glaubenssatzes hat darum schon an sich den Wert, dass für die Zukunft kein Raum mehr bleibt für eine Trübung oder einen Zweifel. Gottes Autorität tritt nun selbst für die Wahrheit der Lehre ein, was das Lehramt der Kirche feierlich feststellt. Sodann erscheint durch dieses Dogma eine göttliche Wahrheit für unsere Zeit in neuem Glanz: Vor Gott wird der Diener zum Herren. Die demütige Magd des Herrn ist durch die Aufnahme in den Himmel die höchste Herrin geworden. In ihr ist das Werk der Erlösung in einzigartiger Weise aufgegangen, in ihr hat es in überreicher Fülle Frucht getragen. Es fing an mit der Begnadung im ersten Augenblick ihres Daseins, es fand seinen Abschluss im vollen Triumph über Sünde und Tod, da ihr unverwester Leib an der Herrlichkeit des Himmels teilnehmen durfte. Erfüllt ist Mariens Wort: „Gewalthaber stürzt er vom Throne, Niedrige erhöht er“ (Lk 1,52). Christus wollte die Frau, der er sein irdisches Leben verdankte, die ihn gehütet und erzogen hat, die unter seinem Kreuz gestanden hat, bei sich haben, und zwar ganz. Er wollte der Christenheit zeigen, wie ein Mensch geehrt und erhoben wird, der nichts sein wollte als eine Magd des Herrn.
Das Wesen des Menschen bestimmen wesenhaft Leib und Seele. Im himmlischen Dasein hat Mariens Seele in der ewigen Gottesschau den höchsten Grad der Vollendung erreicht. Aber auch ihr Leib nimmt teil an der Verklärung und ist als durchgeistigter Leib belebt von neuen Kräften. Die endgültige Vollendung des menschlichen Leibes ist in Maria Wirklichkeit geworden. Von hier aus haben die Opfer, die sich der Leib in der Zeitlichkeit auferlegen muss, einen letzten Sinn bekommen. Schließlich haben die letzten großen Geheimnisse unseres Glaubens: der Sinn der Erlösung, der Wert des Gnadenlebens, die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung des Leibes in der Aufnahme Mariens in den Himmel einen sichtbaren und greifbaren Ausdruck gewonnen. Die Gestalt Mariens zeigt, zu welcher Herrlichkeit der begnadete Christ berufen ist. Wir dürfen uns rühmen der Hoffnung auf die Herrlichkeit der Kinder Gottes. Maria ist ganz Mensch und nur Mensch. An ihr ist die volle Erlösung aufgeleuchtet. Wenn am Anfang eines neuen Zeitalters die Gestalt eines neuen Menschen stehen muss, wegweisend in die Zukunft, dann kann die gnadenvolle und vollendete Jungfrau Maria diese Aufgabe erfüllen. Sie ist der Himmelsheere, der Engel Königin, der Heiligen Lust und Ehre, der Menschen Trösterin, die Zuflucht aller Sünder, die Hilfe ihrer Kinder, die beste Mittlerin. Ihr Haupt ist gezieret mit goldener Kron’, das Zepter sie führet am himmlischen Thron, ein' sehr starke Heldin, mit englischem Schritt der höllischen Schlange den Kopf sie zertritt. Zu ihr geht unser Sehnen, zu ihr geht unser Rufen, zu ihr geht unser unstillbares Weinen. Jungfrau, Mutter, Königin, bitte für uns bei deinem Sohn!
Amen.