Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. Dezember 2021

Das Fegfeuer

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Es ist ein definiertes Dogma: Es gibt ein Fegfeuer oder einen Zustand der sittlichen Läuterung, in dem die noch nicht gänzlich reinen Seelen durch Strafen gereinigt und für den Himmel geeignet gemacht werden. Die Schrift spricht nicht formell und deutlich die Lehre vom Fegfeuer aus. Doch sie ist darin angedeutet. Nach 2 Makk 12,43-46 glaubte das Spätjudentum, Verstorbene, die zwar „in Frömmigkeit“, aber noch „in Sünden abgeschieden“ waren, können durch „Opfer und Fürbitte“ von „ihren Sünden befreit“ und so der seligen „Auferstehung“ teilhaftig werden. Der inspirierte Autor billigt diese Meinung, indem er schreibt: „Heilig also und heilsam ist der Gedanke, für die Verstorbenen zu beten, damit sie von den Sünden befreit werden.“ Im 1 Kor 3,11-15 hebt Paulus hervor, dass es nur ein Fundament des Glaubens gibt, Jesus Christus. Ein jeder sehe zu, wie er auf diesem Grunde aufbaut, gut oder schlecht. Der Jüngste Tag, der in Feuer offenbar werden wird, wird alles ans Licht bringen und alles prüfen. Besteht einer die Probe, so wird er Lohn empfangen, „wenn aber jemandes Werk verbrennt, so wird er Schaden leiden, er selbst jedoch wird gerettet werden, jedoch so wie durch Feuer“. Die Lehre vom Fegfeuer ist nicht bibelfremd, kann aber aus der Bibel allein nicht entnommen werden. Ihre Bezeugung erfolgt ganz überwiegend durch die Überlieferung. Das ist eine völlig normale Erscheinung.

Die Kirche schöpft ihre Erkenntnis der Offenbarung Gottes aus der Überlieferung und der Schrift. Die Überlieferung geht der Schrift voran und ist umfassender als die Schrift. Die Schrift ist ein Teil der Überlieferung, ihr hervorragendster Teil. Die Lehren von der Gemeinschaft der Heiligen und von der allgemeinen Pflicht, Fürbitte für andere zu leisten, führten dazu, dass die Kirche der Verstorbenen bei der Feier des Messopfers gedachte. Tertullian bezeugt die Übung, für die verstorbenen Gläubigen Oblationen darzubringen. Die überlebende Ehefrau betet für die Seele des verstorbenen Mannes (De monog.10). Tertullian spricht auch die Überzeugung aus, dass die abgeschiedenen Seelen in der Unterwelt eine Abzahlung der Schulden „bis zum letzten Heller“ vollziehen müssen (De an. 58; De res. 42). Origenes nimmt an, dass die Seelen nach dem Tode ein Gericht zu bestehen haben, worin sie die „Feuertaufe“ (Lk 3,16) empfangen. Jedes Menschen Werk wird dort im Feuer geprüft (1 Kor 3,15). Augustinus sagt von seiner Mutter Monika, sie sei zwar „nicht ohne Schuld“ gewesen, habe aber vertrauensvoll die Bitte geäußert, „ihrer am Altare zu gedenken“. Papst Gregor der Große spricht deutlich aus: „Es ist zu glauben, dass es vor dem Gerichte für gewisse leichte Sünden ein Reinigungsfeuer gibt.“ Bei dieser Läuterung sind die Suffragien und die Almosen der Lebenden von Nutzen, besonders das Messopfer. Einen eigenen Tag Allerseelen, zur Erinnerung an die im Fegfeuer befindlichen Seelen, begeht die Kirche seit dem Jahr 1000. Er ging aus von Abt Odilo, der ihn in den Klöstern der Cluniazenser begründete. Von da verbreitete er sich auf andere Kirchen. Im 14. Jahrhundert fand er Aufnahme im Ordo Romanus.

Die Kirche kennt eine Entwicklung der Lehre, die Dogmenentwicklung. Aus Keimen erwachsen unter der Leitung des Geistes der Wahrheit Erkenntnisse, die in ihnen verborgen, aber implicit (eingewickelt) enthalten waren. Die Entwicklung von der Lehre vom Fegfeuer geht aus von dem biblischen Gedanken des Gerichts und der Vergeltung. Aufgrund der Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen dehnten die Christen ihre Fürbitte auf die Verstorbenen aus. Dies geschah hauptsächlich bei der Feier der Eucharistie, die man, wenn möglich, über den Gräbern vollzog. In der biblischen Begründung der Lehre vom Reinigungszustand griffen die Christen auf Mt 12,32 (Wer wider den heiligen Geist redet, dem wird es weder in dieser noch in der kommenden Weltzeit nachgelassen) und 1 Kor 3,15 (Wenn das Werk, das einer aufgebaut hat, verbrennt, so wird er bestraft werden, doch wird er selbst gerettet, aber wie durch Feuer hindurch), weniger auf 2 Makk 12,45f. (Er zog in Betracht, dass den fromm Entschlafenen eine gar herrliche Belohnung aufbewahrt ist. Ein heiliger und frommer Gedanke! Darum veranstaltete er für die Verstorbenen ein Sühnopfer, damit sie von ihrer Sünde erlöst würden) zurück. Die theologische Vernunft fordert die Lehre vom Fegfeuer. Einerseits steht fest, dass Unreines nicht in den Himmel eingehen kann (Sp 7,25; Is 35,8). Anderseits ist es ungerecht und unheilig, für leichtere Vergehen die ewige Höllenstrafe zu fordern. So bleibt als Folgerung nur die Annahme eines Zwischenzustandes, in dem die Läuterung und die Vorbereitung für den Himmel erfolgen kann.

Nur derjenige ist der vollendeten Teilnahme an dem dreipersönlichen Leben Gottes fähig, der bei seinem Tode von jeder Selbstsucht, von allen bösen Neigungen und Wünschen frei ist, in dem sich also die Herrschaft der Liebe und der Wahrheit vollkommen durchgesetzt hat. In der Regel wird auch jener, der in Gemeinschaft mit Christus, also ohne Todsünde, aus diesem Leben scheidet, mit vielen Mängeln, nämlich mit lässlichen Sünden, mit ungeordneter Begierlichkeit, mit zeitlichen Strafen behaftet sein. Wenn ein solcher Mensch nicht für immer von der vollen Gottesgemeinschaft ausgeschlossen sein soll, muss ihm die Möglichkeit einer Läuterung eröffnet werden. Gott bietet in der Tat eine solche Chance. Das ist eine hohe Gnade. Ohne sie müsste der Mensch in dem Zustand, in dem er sein Leben beendet, für immer erstarren. Ein weiter theologischer Grund für die Tatsache des Fegfeuers liegt darin, dass Gott für die Sünde Strafe verhängt. Diese wird nicht immer während des Verlaufs des irdischen Lebens ganz gebüßt. Gott lässt zwar mit der Todsünde immer die ewige Strafe, aber nicht jede zeitliche Strafe nach. Außerdem nimmt er mit der lässlichen Sünde nicht immer auch die durch sie verursachte Strafe hinweg. Sie muss abgebüßt werden im jenseitigen Reinigungszustand.

Die jenseitige Läuterung ist ein Zustand der Pein, der wesentlich im Aufschub der ersehnten Gottesschau besteht. Die im Läuterungsprozess lebenden Menschen sind an den Raum gebunden. Sie sind zwar nicht mehr so wie im irdischen Dasein den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen. Aber sie leben nicht ohne Beziehung zum Raum. Wo freilich die raumgebundenen Seelen der Abgeschiedenen den Läuterungsprozess durchleben, ist uns unbekannt. Es lässt sich im Weltall kein Ort feststellen, den man mit dem Fegfeuer identifizieren könnte. Das Entscheidende ist nicht der Ort, sondern der Vorgang der Läuterung.

Solange der Mensch noch nicht bis auf den Grund seines Wesens geläutert ist und gutgemacht hat, was er versäumte, ist er noch unfertig und kann der Gottesschau nicht teilhaftig werden. Im Gerichte wird er seiner Unfertigkeit inne. Da sieht er den Abstand, der ihn noch von Gott trennt. Er erkennt und spürt den Widerspruch seines Ich zu der personhaften göttlichen Heiligkeit. Er durchschaut seine Verschuldung gegen Gott, den Heiligen; die ihm noch anhaftende Sünde und Sündenneigung; die Versäumnisse, die nicht mehr nachgeholt werden können; die Verkehrtheiten; die unerfüllten Möglichkeiten seines Lebens. Der Mensch spürt sich von der Macht der göttlichen Heiligkeit zurückgestoßen. Er muss also Gott entbehren. Das ist für ihn ein unausdenkbarer Schmerz; denn er ist nicht mehr durch die geschaffene Herrlichkeit geblendet und verzaubert; darum liebt er Gott mit großer Kraft seines Herzens und verlangt mit lebendiger Sehnsucht, bei ihm zu sei. In der Erfahrung der Gottferne erlebt der Mensch seine Unfertigkeit und Zerrissenheit. Der Schmerz wird durch das Bewusstsein gesteigert, dass die Trennung von Gott durch den Menschen selbst verschuldet ist. Die ungestillte Sehnsucht nach ihm brennt in ihm wie Feuer. Der Mensch verzehrt sich in der Sehnsucht nach Gott. Was das Ausmaß der Leiden angeht, so ist dies völlig in den Bereich des Geheimnisses entrückt. Nach der hl. Katharina von Genua ist die unbefriedigte Sehnsucht, die an der Seele zehrt, ohne sie zu verzehren, ein über alle Maßen schmerzliches, mit keinem irdischen Feuer vergleichbares Liebesfeuer. Thomas von Aquin vermutet, dass das geringste Fegfeuer schmerzlicher ist als das größte Leid der Welt.

Der Mangel der glühend ersehnten Gottesschau wird als die Strafe des Verlustes (poena damni) bezeichnet. Dazu tritt die Strafe der Empfindung (poena sensus), ein besonderes Bußleiden. Die Strafen werden abgebüßt durch Ertragen. Der Verlust ist allerdings nur ein vorläufiger Aufschub der Seligkeit, keine eigentliche Verdammnis. Dieser Aufschub ist schmerzlich. Der Schmerz ist um so heftiger, je edler die ihn empfindenden Seelen sind, je näher sie dem Ziele sind, je reiner und abgeklärter ihr Verlangen nach Gott ist, je klarer ihre Einsicht in die Torheit der Verschuldung ist. Gegenstand der Läuterung sind Strafen und Sünden. Die Strafen werden abgebüßt durch Ertragen.

Wie lange die Strafen des Fegfeuers dauern, wissen wir nicht. Es ist uns unbekannt, nach welchen Maßstäben Gott die Sündenschuld bzw. die Sündenstrafe im Fegfeuer bemisst. Über die Dauer des Umwandlungsprozesses wissen wir nichts. Er kann langsam oder allmählich oder plötzlich vor sich gehen. Die Offenbarung sagt uns über die Zeit des Fegfeuers nichts. Die Mängel, von denen der Mensch im Läuterungsvorgang befreit wird, sind dreifach: lässliche Sünde, Neigung zur Sünde (ungeordnete Begierlichkeit) und zeitliche Sündenstrafen. Im Fegfeuer findet eine Läuterung von der Sünde statt. Gott wirkt verwandelnd und bessernd auf das menschliche Leben ein. Dafür wird man einen allmählich voranschreitenden Reinigungsvorgang annehmen müssen. Die Verwandlung bezieht sich auch auf die aus der Sünde geborenen bösen Neigungen. Im Fegfeuer findet also eine sittliche Besserung der Seelen statt. Die armen Seelen stoßen die psychischen bösen Neigungen frei aus ihrer Seele aus.

Der Umschaffungs- und Umwandlungsprozess, den Gott am Menschen gnadenhaft vornimmt, ist von schmerzlichster Art. Je näher der Mensch Gott kommt, um so inbrünstiger wird seine Sehnsucht nach ihm, um so brennender wird die Scham über seine Sünden. Er verurteilt sich im Lichte und in der Liebe Gottes immer stärker und wird so von allen Makeln der Sünde frei. Die Läuterung ist also ein aufs höchste gesteigertes geistiges Leben der Erkenntnis und der Liebe. Der im Zustand des Fegfeuers Lebende vollzieht intensivste Akte der Anbetung, des Lobpreises, der Reue und des Dankes.

Die Umwandlung des Menschen im Reinigungszustand hat keinen Verdienstcharakter. Verdienste kann der Mensch nur während des Pilgerlebens erwerben. Nur solange er im Dunkel des Glaubens steht, kann er in freier Entscheidung Handlungen setzen, denen Gott Lohn versprochen hat. Die Seelen im Fegfeuer sind der Mühe der Selbstbestimmung und der Selbstüberwindung im Vollzug des Guten enthoben. Der Abfall von Gott ist ihnen unmöglich. Sie können nicht von neuem sündigen, sie können keine Verdienste mehr erwerben. Sie tun der Gerechtigkeit Gottes nicht mehr genug, sie leiden ihr nur noch genug. Sie nehmen, was sie verfehlt und versäumt haben, in ihr reuiges Herz auf und machen es dadurch gut, dass sie es gut leiden. In ihrer rückhaltlosen Hingabe nehmen sie die in der Sünde betätigte Autonomie zurück. Sie arbeiten die sündige Selbstherrlichkeit allmählich auf und befreien sich von ihr zuletzt vollkommen. Die Hinnahme des Leidens des Läuterungsvorganges, also die Genugtuung des Fegfeuers, bedeutet eine fortschreitende Befreiung von der Sünde und von der Sündenneigung. Die Läuterung hat den Sinn, Gott immer lebendiger als den Herrn anzuerkennen, bis alle Selbstherrlichkeit abgebaut ist und die Herrschaft Gottes im menschlichen Ich in einer vollkommenen Weise heraufgeführt ist.

Die Seelen im Fegfeuer empfinden es als Glück und Seligkeit, dass ihnen die Möglichkeit zur schmerzhaften Verwandlung gegeben ist. So leben sie in einem Meer von Bitterkeit dennoch in Frieden. Die armen Seelen sind so zugleich die reichen Seelen. Das Fegfeuer ist keine zeitlich begrenzte Hölle, sondern ein Vorhimmel. Im Fegfeuer leuchtet allen der Hoffnungsstern baldiger Erlösung, glüht in den Seelen die vollkommene Liebe Gottes, verklärt der Friede mit Gott das Dasein des Einzelnen und der Gesamtheit. Hier herrscht Klarheit über das persönliche Geschick: Es ist ein glückliches, ewiges, durch keine Gefahr mehr bedrohtes. Diese Zuversicht schöpfen sie aus dem über sie ergangenen göttlichen Gericht nach dem Tode. Der Grund der unvorstellbaren Freude derer, die den Läuterungsvorgang erleiden, ist ihre Liebe zu Gott und ihre Heilsgewissheit. Ihr Schicksal ist entschieden, der Kampf gewonnen. Sie haben gesiegt, sie können triumphieren. Die ungeheure Spannung, in welcher der Mensch dem göttlichen Richterspruch entgegensieht, hat sich gelöst. Die Angst, welche zum menschlichen Dasein gehört, ist bewältigt. Bernhard von Siena zählte eine Reihe von Freuden des Fegfeuers auf: Befestigung in der Gnade, Gewissheit des Heils, Liebe zu Gott, Besuch der Engel, Besuch der Heiligen. Er schließt: Wenn auch die im Fegfeuer Befindlichen schwere Qualen leiden, so ist doch ihr Zustand besser und glücklicher als der in der Welt Lebenden.

Der Trost der Fegfeuerlehre ist groß. Sagt uns das Gewissen, dass ein langes Leben nicht ohne manche Verfehlung verläuft, dann lehrt uns der Glaube, dass es im Jenseits eine Möglichkeit der Wiedergutmachung gibt. Wenn die menschliche Schätzung nicht leicht einem Verstorbenen Himmel oder Hölle zuspricht, dann weiß sie die Ihrigen eher im Fegfeuer, weil sie glaubt, dass der Tote nicht nach unten, sondern nach oben ging, dass er nicht von Gott hinwegfuhr, sondern zu Gott hin; nicht dem Lande der Finsternis zu, sondern des Lichtes. Auch im Fegfeuer leuchtet Gottes Sonnenschein, und zwar heller als auf Erden.

Die auf Erden Lebenden sind mit den im Fegfeuer Befindlichen verbunden. Noch mehr: Wir können den Abgeschiedenen wirksam helfen. Diese Tatsache ist als Glaubenssatz von den Konzilien von Lyon, Florenz und Trient ausgesprochen worden. Alle mit Christus Verbundenen sind auf das innigste auch untereinander verbunden. Was immer einer tut, tut er als Glied der ganzen ihn umgreifenden Gemeinschaft. Daher wird auch die ganze Gemeinschaft von dem Tun eines jeden Einzelnen berührt. Gott hat es so gefügt, dass alle voneinander abhängig sind und füreinander Heilsträger sein sollen. Wie weit jedes einzelne Glied der Gemeinschaft konkret vom Tun und Lassen eines anderen berührt wird, bestimmt Gott in freiem Willen. Die in der Tiefe bestehenden Zusammenhänge werden sich erst beim Gericht am Jüngsten Tage enthüllen. Die Seelen im Läuterungszustand werden von der Liebe der noch auf Erden pilgernden Brüder und Schwestern erreicht. Der Tod zerstört die in Christus gründende Gemeinschaft nicht, sondern vervollkommnet sie. Er vermag nur die leibliche Nähe zu vernichten. Die Verbundenheit in Christus ist jedoch nicht von der räumlichen Nachbarschaft abhängig. Sie kann daher über den Tod hinaus weiterbestehen. Der Heilige Geist legt sich wie ein allmächtiges Liebesband um die christusgläubigen Menschen. Im Heiligen Geist sind daher die Pilger auf der Erde und die Abgeschiedenen aufs innigste verbunden. Deshalb strömt den Abgeschiedenen die Liebe und die Treue der noch auf Erden pilgernden Christusgläubigen immerfort zu. Die Liebe, mit der die auf Erden Lebenden die Verstorbenen umfangen, wirkt vor Gott wie eine Bitte für die Heimgegangenen. In ihr können sie daher den Abgeschiedenen in der Weise der Fürbitte zu Hilfe kommen. Was immer die in der Gnade Gottes verbundenen Menschen auf Erden tun und leiden, können sie wie eine Bitte für die heimgekehrten Brüder und Schwestern vor Gottes Angesicht tragen. Sie können ihre Drangsale und Heimsuchungen Gott anbieten und ihn bitten, dass er sie als stellvertretende Genugtuung gelten lasse. Durch unser Gebet erflehen wir ihnen die Kraft, ganz in den göttlichen Willen einzugehen.

Eine Hilfe besonderer Art ist die Gewinnung von Ablässen. Der Ablass ist die Nachlassung zeitlicher Sündenstrafen (also nicht Nachlass von Sünden). Er wird den Lebenden auf Erden durch die Vollmacht der Kirche aufgrund bestimmter Werke und Gebete gewährt. Wir (und noch besser unsere gläubigen Vorfahren) kennen den Portiunkulaablass. Der Ablass kann den Verstorbenen in der Läuterung zugewendet werden. Wer einen Ablass gewinnt, ist imstande und berechtigt, Gott darum zu bitten, den ihm selbst zugesicherten Straferlass den Verstorbenen zu gewähren. Der Ablass wird also den Verstorbenen nicht per modum absolutionis, sondern per modum suffragii zuteil. Wer den Verstorbenen einen Ablass zuwenden will, bittet Gott, ihnen die verwirkte Strafe zu erlassen in dem Ausmaß, wie es der Buße auf Erden entspricht. Gebet und Sühne auf Erden können den Seelen im Läuterungszustand den Umwandlungsprozess nicht ersparen. Sie müssen ihn in seiner Schmerzlichkeit bestehen. Aber wir können versuchen, ihnen die volle Bereitschaft zu erflehen, sich von der Liebe Gottes durchglühen zu lassen, und dazu beizutragen, dass der Schmerz, der sich an dem Aufschub der vollen Heimkehr zu Gott entzündet, gemildert wird.

Am wirksamsten kann Gott Bitte und Sühne für die Verstorbenen durch die Feier des Messopfers dargebracht werden. In jeder hl. Messe betet die Kirche für die abgeschiedenen Gläubigen. Das Messopfer kann darüber hinaus in der besonderen Absicht dargebracht werden, bestimmten (oder allen) verstorbenen Gläubigen zu Hilfe zu kommen. Hier fleht der sich opfernde Christus mit uns um Erbarmen. Von der Darbringung des Messopfers muss jede unberechtigte Vorstellung ferngehalten werden. Durch das Lesen einer bestimmten Anzahl von Messen die sichere Befreiung aus dem Fegfeuer zu erwarten, ist von der Kirche verworfen worden.

Die Seelen im Läuterungszustand sind nicht nur auf unsere Hilfe angewiesen. Sie können selbst durch ihre Gebete den auf Erden Lebenden zu Hilfe kommen. Sie dürfen daher sinnvollerweise auch um ihre Fürbitte angerufen werden. Sie leben ja aus der Liebe Gottes. Sie können ihre Liebe auswirken und ihren noch lebenden Brüdern und Schwestern entgegenbringen. Die armen Seelen können für uns bitten, und wir dürfen sie anrufen. Die liturgische Anrufung der armen Seelen ist nie üblich gewesen. Die armen Seelen üben im Fegfeuer einen ihrem Zustand entsprechenden Gottesdienst aus. Dies geschieht durch Akte der Anbetung, der Danksagung und des Lobpreises. In glühender, wenn auch noch nicht vollendeter Liebe beten sie das Geheimnis der göttlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit an.

Die Lehre vom Reinigungszustand nach dem Tode ist eine überaus große und hilfreiche Offenbarung Gottes. Sie wehrt dem hybriden Optimismus, mit dem oft der Tod von Menschen begleitet ist; leichtfertig und voreilig wird von ihnen ausgesagt, dass sie das Ziel der Gottesschau erreicht hätten. Die Lehre vom Reinigungszustand bewahrt aber auch vor der angstvollen Verzweiflung, die annimmt, dass ein Verstorbener in die Unseligkeit der Verwerfung eingegangen sei. Die Lehre vom Fegfeuer rechnet realistisch damit, dass ein Christ, der sich in seinem Leben bemüht hat, Gottes Willen zu tun, der aber in diesem Bemühen hinter den Erwartungen Gottes zurückgeblieben ist, die Barmherzigkeit Gottes erfahren wird. Sie besteht in die Aufnahme in den (vorübergehenden) Zustand der Läuterung durch schmerzliche Leiden. O Herr, gib ihnen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihnen.

Amen.

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