21. März 2021
Das verhüllte Kreuz
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In den Kirchen werden heute die Kreuzbilder auf allen Altären verhüllt. Über die Gestalt und das Bildnis des Erlösers, der wie ein Wurm zertreten und wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt ward, ist ein Schleier gezogen. Warum geschieht das? Soll uns die Erinnerung an ihn, an sein Leiden und seinen Kreuzestod aus der Seele fortgenommen werden? Nein. Im Gegenteil. Der heutige Sonntag heißt der Passionssonntag, der Leidenssonntag. Er eröffnet die heilige Zeit, die in ganz besonderer Weise dem Andenken an Jesu Christi große Liebe, sein heiliges Leiden, seinen blutigen Kreuzweg und sein qualvolles Sterben am Kreuze geweiht ist.
1. Die Kreuze werden verhüllt im Andenken an das Wort des Evangeliums: „Jesus aber verbarg sich und ging hinweg aus dem Tempel.“ Sie werden verhüllt in der Absicht, dass sich unsere Seele um so mehr und um so tiefer in sein heiliges Leiden versenke, je weniger sie von außen her daran erinnert wird; dass das Auge des Geistes um so anhaltender auf das kostbare Blut und die leuchtenden Wunden des Heilands schaue, je weniger das leibliche Auge sie sieht; dass unser Herz sich dem gemarterten Leib zuwende, aus dessen geöffneter Seite Blut und Wasser erflossen. Am Karfreitag wird das verhüllte Kreuz feierlich enthüllt werden: „Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen: Kommt, lasset uns anbeten.“ Und das gläubige Volk schaut auf das enthüllte Kreuz, fällt auf die Knie und klopft an die Brust, folgsam der Aufforderung im Brief an die Hebräer: „Lasset uns mit ihm hinausziehen vor die Tore der Stadt, um seine Schmach mit ihm zu teilen“ (13,13).
2. Die tiefsten und höchsten Gedanken Gottes sind uns Menschen stets verhüllt, so lange, bis unser Gott selber sie uns vom Himmel auf die Erde herabträgt, sie uns erklärt und in der Sprache, die der Mensch verstehen kann, enthüllt. Erstens. Verhüllt war der Menschheit, was es Furchtbares um die Sünde, die frevelnde Übertretung des göttlichen Gesetzes ist. Wohl kannte die Menschheit die Gebote der zwei steinernen Tafeln von Sinai. Wohl wusste sie um das göttliche Machtwort: Du sollst, du sollst nicht. Wohl spürte sie den Befehl des Gewissens. Wohl traten Propheten und Lehrer auf, sprachen feurige Worte und heilige Drohungen: dass Sünde, Unverstand, Undank, Treubruch ist; frevelhafte Auflehnung des Menschenwillens gegen den Gotteswillen. Dennoch folgten sie dem Reiz und der Versuchung, angefangen von der Ursünde. In bildhafter Sprache schildert uns das erste Buch der Heiligen Schrift den Weg von der Verlockung zur bösen Tat. Die Schlange sagte zu Eva: „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ Die Frau antwortete: „Von den Früchten der Bäume des Gartens dürfen wir essen. Nur bezüglich der Früchte des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott befohlen: Davon dürft ihr nicht essen, ja sie nicht einmal anrühren, sonst müsst ihr sterben.“ Die Schlange erwiderte der Frau: „Keineswegs werdet ihr sterben. Vielmehr weiß Gott, dass euch die Augen aufgehen werden, sobald ihr davon esst, und dass ihr wie Gott werdet, indem ihr erkennt, was gut und böse ist.“ Jetzt erst sah die Frau, wie köstlich die Früchte des Baumes munden müssten, welch lieblichen Anblick sie darboten, wie begehrenswert sie waren, um dadurch weise zu werden. So nahm sie von seinen Früchten und aß. Auch ihrem Manne gab sie davon, und auch er aß. Es dauert stets lange, bis der Mensch erkennt, was es Schlimmes um die Sünde ist, um die Schuld, die der Dichter „der Übel größtes“ nennt. Es bleibt uns lange verhüllt, weil wir die Heiligkeit und die Gerechtigkeit Gottes nicht kennen und achten wollen, so dass die Propheten klagen mussten: „Mich, die Quelle des lebendigen Wassers, haben sie verlassen und sich Zisternen gegraben, die kein Wasser halten“ (Jer 2,13).
Zweitens. Nun steht das Kreuz vor uns und enthüllt uns, was Gott von der Sünde hält. Das Kreuz beginnt zu predigen: Also schaut Gott die Sünde an. Also straft Gott die Sünde. Er hat sie gestraft an seinem eingeborenen Sohn, der unsere Schuld auf sich nahm und den Schuldbrief, der wider uns lautete, an das Kreuz trug, zerriss und mit seinen Blute auslöschte (Kol 2,14). Das Kreuz enthüllt uns Gottes Gedanken über die Frevelhaftigkeit der Sünde. Das enthüllte Kreuz predigt uns von Gottes unendlicher Heiligkeit und Gerechtigkeit gegenüber aller Schuld der Menschheit. Sage nicht: „Ich habe gesündigt; doch was ist mir Böses widerfahren?“ Sage nicht: „Ich habe gesündigt aus Schwäche und Versuchlichkeit, aber Schuld, große Schuld?“ Nein, sage das nicht. Höre vielmehr, was das Kreuz predigt: Groß ist unser Gott in seiner Allmacht, mit der er das Weltall schuf. Groß ist unser Gott in seiner Güte und Liebe, mit der er die Erde und den Menschen hervorbrachte und ihn zu seinem Kinde machte. Groß ist unser Gott in der Weisheit und Vorsehung, mit der er die Welt und ihre Geschichte leitet und in ihren ewigen Zielen entgegenführt. Aber groß ist er auch in der Heiligkeit und Gerechtigkeit, mit der er über die Innehaltung der Sittengesetze wacht: „Ich bin der Herr, dein Gott“. „Du sollst, du sollst nicht.“ Gott lässt die sittliche Weltordnung nicht ungestraft übertreten. Gott ist allmächtig im Trösten, aber auch im Züchtigen. Keine Sünde kann unbestraft bleiben. Der Sünder muss spüren, was er mit seiner Sünde anrichtet. Aber das ist die Gerechtigkeit unseres Gottes: Er straft die Sünden der Menschen nicht an diesen, die die Vernichtung verdient haben. Er straft sie in seinem Sohne. Der zerrissene Leib des besten aller Menschenkinder predigt die Ungeheuerlichkeit der Auflehnung gegen Gott. Vom Widerschein des Blutes Christi, das am Kreuze für uns vergossen ward, ist noch die ganze Welt gerötet. Sein Blut hat der eingeborene Sohn Gottes für uns vergossen. Seele, richte dich auf! So viel bist du wert. Ach, Herr, was du erduldet, ist alles meine Last. Ich habe das verschuldet, was du getragen hast. Ich, Jesus, bin`s, ich Armer, der dies verdienet hat. O tilge, du Erbarmer, all mein Missetat.
3. Verhüllt sind auch die höchsten und tiefsten Gedanken der Liebe Gottes. Erstens. Wohl verkündet uns Gott durch den Mund der Propheten: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, und erbarmend zog ich dich an mich“ (Jer 31,3). „Könnte auch eine Mutter ihres Kindes vergessen, so will ich doch deiner nicht vergessen; in meine Hände habe ich dich geschrieben“ (Is 49,15). Wohl sagt uns Gott immer wieder, dass er Gedanken der Liebe und nicht des Zornes über uns denkt. Aber wir sind taub oder schwerhörig, vernehmen oder fassen nicht, wie groß die Liebe Gottes ist und was sie für uns tut. Deswegen hat der himmlische Vater das Kreuz aufgerichtet. Der Pfahl von Golgotha predigt eindringlicher und ergreifender Gottes Liebe als die Worte der Propheten. Das Kreuz, an dem der Herr gehangen, enthüllt uns Gottes Liebe wie keine andere Großtat seiner Macht. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn für uns dahingab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,15). „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Das war der Zweck seines Kommens, das war sein Beruf: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren war, sein Leben hinzugeben für die vielen“ (Mk 10,45). Durch die Sünde wird Gott verunehrt. Die Sünde verschleiert und entstellt die Herrlichkeit Gottes. Die der Sünde verfallene Welt kann zu der Frage verführen: Wie muss Gott sein, der diese Welt schafft? Durch den Kreuzestod Christi wurde Gott in überströmender Weise die Ehre zurückgegeben. Darin offenbarte er sich als die durch nichts zu besiegende Liebe: So kann der Gläubige trotz der furchtbaren Lage der Welt erkennen, dass Gott, ihr Schöpfer, die Wahrheit und die Liebe ist. Wenn in der Schrift bezeugt ist, dass Christus unsere Leiden getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen hat, dass er ob unserer Sünden verwundet und ob unserer Frevel zerschlagen worden ist, dann wird damit die stellvertretende Genugtuung bezeugt, die er für uns geleistet hat. Er, der Eine, stirbt an Stelle und zum Heil der Menschen. Ja, er ist für uns und an unserer statt gestorben. Auch für mich. So jubelt der heilige Paulus: „Er hat mich geliebt und sich für mich dahingegeben“ (Gal 2,20). Gottes Liebe konnte nicht sterben. Aber töten konnte sie ihn, und getötet hat sie ihn. Er starb für mich. Er starb, damit ich (ewig) lebe. Er ward an das Kreuz genagelt, damit ich befreit würde. Das ist die Liebe Gottes. Das Kreuz enthüllt sie uns. Das enthüllte Kreuz predigt sie uns. Dein Wille, o Gott, war es, dass vom Kreuzesholze das Heil des Menschengeschlechtes ausgehe. Von einem Baume kam der Tod, von einem Baume sollte das Leben erstehen. Der am Kreuze siegte, sollte auch am Kreuze besiegt werden.
Das Kreuz ist uns heilig, weil es gesalbt ist mit dem Blute des Heilands, aber auch geweiht ist mit den Tränen der Heilandsmutter. Sei uns gegrüßt, du heiliges Kreuz, du unsere einzige Hoffnung, sei uns gegrüßt. Du allein warst ausersehen zu des Lammes Schlachtaltar. Nur du warst würdig zu tragen des Himmels König. Wenn ein Ungläubiger dich fragt: Du betest einen Gekreuzigten an?, dann werde nicht rot, schau nicht verlegen zu Boden. Recke dich, schau ihm stolz ins Auge und sprich mit frohem Blick: Ja, ich bete ihn an. Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und benedeien dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst.
Amen.