22. November 2020
Das besondere Gericht
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der Christ, ja jeder Mensch lebt in der Erwartung zweier göttlicher Gerichte, des besonderen Gerichtes und des allgemeinen Gerichtes. Im Tode fällt die Entscheidung über das ewige Schicksal des Einzelnen. Es wird nicht gesucht und mühevoll gefunden, sondern enthüllt. Die Beziehung des Menschen zu Gott wird von Gott in einer irrtumsfreien Weise unwiderruflich geoffenbart. Dieser Vorgang trägt den Namen Gericht. Die Tatsache des besonderen Gerichtes über den Einzelnen ist Bestandteil des christlichen Glaubens. In der Heiligen Schrift bezeugt das Gleichnis vom ungetreuen Verwalter, dass der Gute sogleich seinen Lohn, der Böse sogleich seine Strafe empfängt. Ebenso wird der reiche Prasser sogleich in die Hölle, der arme Lazarus sogleich in das Paradies gebracht. Das letzte Gebet des Martyrers Stephanus war die Bitte um die Aufnahme in die Lebensgemeinschaft mit dem Herrn: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf.“ Er erwartete diese Aufnahme unmittelbar nach seinem Verscheiden. Der Brief an die Hebräer stellt fest, dass es dem Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, und dass darauf (ohne Zwischenzeit) das Gericht folgt.
In dem Gericht offenbart Gott dem Menschen durch eine himmlische Erleuchtung seinen religiös-sittlichen Zustand und das diesem entsprechende ewige Los. Während seines irdischen Lebens vollbringt der Mensch das Kunststück, seine schuldhaften Handlungen zu vergessen. Außerdem vermag er die Motive seines Handelns vor seinen eigenen Augen zu verschleiern oder zu entstellen. In dem Gerichte Gottes ruft ihm dessen Allmacht sein ganzes früheres Leben ins Gedächtnis zurück. Er kann diesem Blick auf sich selbst nicht ausweichen. Die Sicht auf sich selbst begreift die Beurteilung seiner selbst in sich. So wird der Mensch im Tode sein eigener Richter. Gottes Gericht über ihn wird zu einem von Gott ihm aufgezwungenen Selbstgericht. Es wird dem Menschen nicht möglich sein, Gottes Urteil zu widersprechen; er muss vielmehr dessen Richtigkeit und Gültigkeit anerkennen und aus innerer Einsicht annehmen. Der Richter ist der Vater, aber auch der Sohn. Gott tut seine Werke durch Christus, Christus tut nichts anderes, als die Werke des Vaters vollbringen. „Ich vermag nichts von mir selbst zu tun. Wie ich es höre, so richte ich, und mein Gericht ist gerecht, weil ich nicht meinen Willen suche, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Jo 5,30). Das Gericht geschieht vom Vater durch den Sohn. Der Maßstab, nach dem der Mensch gerichtet wird, ist die Heiligkeit, die Wahrheit und die Liebe Gottes selbst bzw. die Wahrheit und die Liebe in eigener Person. Er ist also objektiv und personhaft zugleich. Der Mensch wird gemessen und muss sich messen an der personhaften Wahrheit und Liebe. Weil die personhafte Wahrheit und Liebe in Jesus Christus erschienen ist, darum ist dieser das Maß, nach dem der Mensch gerichtet wird. Nicht das Gute und das Böse im Allgemeinen, nicht ein unpersönlicher Wert oder Unwert, sondern Christus ist die Norm, nach welcher der göttliche Richter das Urteil fällt. Das Verhältnis zu einer lebendigen Person, zu dem geschichtlichen und erhöhten Herrn, entscheidet über das letzte Schicksal. Nicht die Zweckmäßigkeit oder der Nutzen, nicht die öffentliche Meinung oder die private Stimmung sind die Aspekte, unter denen sich das Schicksal des Menschen entscheidet. Gemessen an der personhaften Wahrheit und Liebe, wird der Mensch vieles, was ihm während seines Lebens harmlos oder gleichgültig erscheint, als schwerwiegend und verhängnisvoll erkennen; anderes, das ihm während seines Lebens wichtig und folgenschwer vorkommt, wird ihm belanglos und gleichgültig erscheinen. Nach dem Maße Gottes wird er sich nüchtern und wahrheitsgemäß, ohne Maske und ohne Illusion sehen. Er wird seiner selbst so inne, wie er wirklich ist, nämlich in seiner Gottverbundenheit oder in seiner Gottesferne.
In dem letzten Gericht offenbart sich nicht nur das religiös-sittliche Niveau des Menschen, sondern auch seine künftige Existenzweise. Es zeigt sich, in welchem Maße das Königtum Gottes, die Herrschaft der personhaften Wahrheit und Liebe im einzelnen Menschen zum Durchbruch gekommen ist. Wenn er sich der Wahrheit und der Liebe entzogen und der Lüge und der Selbstsucht überantwortet hat, wird ihm ein kümmerliches und schwaches Dasein zuteil. Die äußerste Form der Kümmerlichkeit und der Unfertigkeit nennen wir die Hölle. Wenn der Mensch von Eigenherrlichkeit und Selbstsucht völlig frei ist, wird er jener Lebensform teilhaftig, die wir Himmel nennen. Sie ist der Zustand der vollendeten Gottesherrschaft, sie stellt das vollendete Heil dar, ist die Lebensgemeinschaft des Menschen mit der unverhüllten Wahrheit und Liebe in Person. Das im besonderen Gericht vollzogene Urteil wird sogleich vollstreckt. Es gibt keinerlei Aufschub. Die Vollstreckung des Urteils fällt mit dem Urteilsspruch selbst zusammen. Der Mensch erkennt sich unmittelbar nach dem Tode im Lichte Gottes untrüglich als denjenigen, der er in den Augen Gottes ist, und ist darin selig oder verdammt. Als Jesus am Kreuze sprach: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“, da war ihm bewusst, dass seine Seele in dem Augenblick des Verscheidens von den Händen des Vaters, also von seiner allmächtigen Liebe, aufgenommen werden würde.
Zunächst kann das nach dem Tod gefällte Urteil nur an der vom Leibe getrennten Seele vollstreckt werden. Der Geist verliert im Tode infolge der Veränderungen, die sich im Körper abspielen, die Macht, die körperliche Materie als Leib zu gestalten. Er hört also auf, das Wesensgesetz des Leibes zu sein. Infolge seiner Verschiedenheit vom Leibe kann er jedoch über den Untergang des Leibes hinaus weiterleben. Er existiert als Geistperson fort. Diese Geistperson führt ein unserer Erfahrung unzugängliches Leben. Der vom Leib getrennte Geist erhält eine solche Seinsweise, dass er (auch ohne Leib) in der Welt der reinen Geister leben und sich betätigen kann; die Fähigkeit, wiederum mit dem Leibe vereinigt zu werden, bleibt ihm. Die Offenbarung von der Unsterblichkeit des Menschen ist mit der Fortexistenz und dem Fortleben des leibfreien Geistes nach dem Tode bis zur Wiederkunft Christi nicht abgeschlossen. Sie gipfelt in der Unsterblichkeit des Menschen in leibhaftiger Wirklichkeit. Der christliche Unsterblichkeitsglaube begreift die Auferstehung des Leibes in sich. Durch diese Gewissheit unterscheidet sich die christliche Unsterblichkeitslehre von allen außerchristlichen Unsterblichkeitsvorstellungen.
Zu der Offenbarungswahrheit, dass das Urteil des besonderen Gerichtes sogleich vollstreckt wird, steht die im Protestantismus weithin verbreitete Lehre im Widerspruch, dass der Tod dem ganzen Menschen ein unerbittliches Ende setze. Der Mensch lebe nicht mit einem Teil seines Wesens weiter. Am Jüngsten Tage werde der Mensch, der bis dahin im Gedächtnis Gottes weiterlebe, von Gott neu geschaffen. Gegen diese Vorstellung sprechen gewichtig Texte der Heiligen Schrift: Phil 1,20-23; Lk 23,43; Lk 16, 19-31. Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi: Ich wünsche aufgelöst zu werden und mit Christus zu sein. Er ist überzeugt, dass er nach dem Tod sogleich mit Christus vereinigt wird. In dem Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus sagt Jesus klipp und klar: Der Arme kam sogleich nach seinem Tode in den Schoß Abrahams, also in das Land der Seligen. Der Reiche gelangte ebenfalls nach seinem Tode in die Glut der Hölle. Das Zwiegespräch Jesu mit dem rechten Schächer enthält dieselbe Wahrheit. Der Schächer will nur ein Gedenken. Aber der Herr gibt ihm mehr: das Reich Gottes, und zwar heute noch, am Tage des Verscheidens. Die protestantische Ganztodhypothese ist unhaltbar und widerspricht auch der gesamten christlichen Tradition. Das dem Kaiser Michael Paläologus vorgeschriebene Glaubensbekenntnis enthält die Lehre, dass die nicht ganz Reinen nach dem Tode im Fegfeuer geläutert werden, die Reinen bald in den Himmel eingehen, die ganz Unreinen in die Hölle (D 464). Diese Vorstellung ist von dem Irrtum getragen, als ob die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele den Tod zu einem bloßen Durchgang in ein anderes Leben machen würde. In Wahrheit betont auch der Unsterblichkeitsglaube, dass der Tod eine tiefgreifende Verwandlung bewirkt; er setzt der Pilgerschaft ein unbedingtes Ende und führt einen radikalen Neubeginn herbei. So wird die Diskontinuität zwischen dem gegenwärtigen und dem kommenden Leben stark unterstrichen; aber es wird nicht wie bei den protestantischen Theologen die Kontinuität zerstört. Wir müssen also festhalten: Jeder Mensch wird gleich nach dem Tode in einem besonderen Gericht von Gott in unabänderlichem Richterspruch beurteilt. Die Lehre vom besonderen Gericht Gottes über den einzelnen Menschen unmittelbar nach seinem Tode steht nicht im Gegensatz zu dem allgemeinen Gericht über die gesamte Menschheit. Die Gerichte über die einzelnen Menschen gehen dem Weltgericht voraus. Durch sie werden die Schicksale der Einzelmenschen endgültig festgelegt. Die vorausgehenden Einzelgerichte werden im Schlussgericht nicht mehr überprüft und allenfalls korrigiert. Sie werden vielmehr bestätigt und in der Öffentlichkeit der ganzen Welt bekanntgegeben. In diesem Sinne wird das Weltgericht das Letzte Gericht genannt. Das ist die ständige Lehre der Kirche. Der katholische Katechismus für die deutschen Diözesen aus dem Jahre 1955 lehrte präzise: „Sofort nach dem Tode kommt unsere Seele vor Gottes Gericht. Sie muss Gott Rechenschaft geben über alle Gedanken, Worte und Werke und über die Unterlassung des Guten. Dieses Gericht ist das Besondere Gericht. Nach dem Besonderen Gericht kommt die Seele entweder in den Himmel oder in das Fegfeuer oder in die Hölle“ (S. 252). Der Katechismus der katholischen Kirche von 1993 lehrt: „Jeder Mensch empfängt im Moment des Todes in seiner unsterblichen Seele die ewige Vergeltung. Dies geschieht in einem besonderen Gericht, das sein Leben auf Christus bezieht – entweder durch die Läuterung hindurch oder indem er unmittelbar in die himmlische Seligkeit oder indem er sich selbst sogleich für immer verdammt.“ Beharren Sie im Glauben unserer Kirche. Lassen Sie sich nicht irre machen, meine lieben Freunde. Die Wahrheit ändert sich nicht. Was Gott geoffenbart hat, bleibt gültig. Bereiten wir uns vor für sein Gericht. Und flehen wir mit der Kirche: König schrecklicher Gewalten, frei ist deiner Gnade Schalten, Gnadenquell, lass Gnade walten!
Amen.