Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. Oktober 2020

Handlungen mit doppelter Wirkung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als ich bei der Abschlussprüfung des Studiums der Theologie eine Studentin fragte, was sie über das Kompensationsprinzip in der Moraltheologie wisse, antwortete sie, darüber habe sie nie etwas gehört. Das ist tief bedauerlich. Denn es handelt sich beim Kompensationsprinzip um einen grundlegenden Gegenstand der verbindlichen katholischen Sittenlehre.

Unter die sittliche Verantwortung fällt das freie Handeln des Menschen in seiner ganzen Tiefe und Breite: Willensentschluss, Ausführung und (vorausgesehene) Folgen. Es ist möglich, dass aus derselben Handlung eine gute und eine schlechte Folge gleich – unmittelbar hervorgehen, also die gute Folge zwar nicht die schlechte Folge verursacht, aber die schlechte Folge vorausgesehen wird. Dann spricht man im eigentlichen Sinne von Doppelwirkung einer Handlung. Ein Beispiel: Die Fußballmannschaften zweier Städte treffen zusammen zu einem Spiel. Das ist eine gute Folge der Anreise. Aber man befürchtet und sieht voraus, dass es zu Schlägereien zwischen den Anhängern der jeweiligen Mannschaft kommen wird. Das ist die schlechte Folge. Soll, muss, darf man ihretwegen das Spiel ausfallen lassen?

Es fragt sich, wie etwas nur indirekt, aber nicht positiv Gewolltes zu beurteilen ist. Ist eine Handlung erlaubt, wenn sie auch „schlechte“ Folgen hat? Die Frage ist nach folgenden Grundsätzen zu beurteilen. 1. Würde die schlechte Folge beabsichtigt, so wäre die ganze Handlung schlecht. Für die Duldung der schlechten Handlung ist Voraussetzung, dass die Handlung selbst gut ist und nur die gute Folge gewollt ist. Man gibt einem Armen ein Almosen. Aber er benutzt es, um sich zu betrinken. 2. Das Böse ist allgemein möglichst zu vermeiden. Es kann nur aus wichtigem Grund zugelassen werden. Das trifft zu, wenn ein wichtiges Gut mit der guten Handlung erstrebt wird und es nicht anders erreicht werden kann als mit gleichzeitiger Zulassung der schlechten Folge. Könnte das erstrebte Gut erreicht werden ohne die schlechte Folge, so wäre dieser Weg zu gehen.

Schlechte Folgen einer guten Handlung sind zuzurechnen, wenn man sie direkt will oder wenn man sie billigt. Ebenso sind sie zuzurechnen, wenn man wegen der voraussichtlichen (obgleich ungewollten) Folgen nicht berechtigt ist, eine Handlung zu vollziehen. Das zu erreichende Gut oder der abzuwehrende Schaden muss um so bedeutender sein, je schlimmer die Folge ist, je enger sie mit der Handlung zusammenhängt, je wahrscheinlicher sie eintritt und je bestimmter das vorausgesehene Übel sonst nicht einträte.

Das Kompensationsprinzip besagt nun: Ist die unmittelbare Wirkung der Handlung gut, diese selbst gut und berechtigt, und ist ferner der Zweck des Handelnden ein sittlicher, dann darf die Handlung trotz schlimmer Folge per accidens vollzogen werden, falls ein hinreichender Grund vorliegt. Oder noch genauer: Ist die unmittelbar gewollte Wirkung der Handlung von der nicht gewollten üblen Folge verschieden und die Handlung nicht in sich schlecht, als- dann darf das Kompensationsprinzip angewandt werden. Beispiel. Es wird ein Stausee gebaut, der große wirtschaftliche Vorteile bringen wird, aber dem Bau wird ein Dorf zum Opfer fallen. Oder: Ein Mann ergreift einen Beruf, der für ihn und seine Familie finanziell sehr vorteilhaft ist und durch den er auch anderen viel Gutes erweisen kann, der jedoch für ihn zugleich besondere Versuchungen und Gefahren der Sünde mit sich bringt.

Die Geschichte und die Praxis des täglichen Lebens liefert uns viel Anschauungsmaterial zu Handlungen mit doppelter Wirkung. Die Männer, welche die Tötung Hitlers planten, waren überzeugt, dass diese Absicht sittlich einwandfrei sei. Denn Hitler war ein an der Macht befindlicher Verbrecher, der über sein eigenes Volk und viele andere Völker unsagbares Unheil gebracht hatte und noch immer fortfuhr, es zu bringen. Er hatte nach dem gewissenhaften Urteil rechtlich denkender Menschen den Tod verdient. Ihn vor ein Gericht zu bringen, das ihn der gerechten Strafe zuführen würde, war ausgeschlossen. In seinem Machtkreis existierte keine Instanz, die ihn hätte ausschalten können. So blieb für den, der entschlossen war, den weiteren Untaten, Morden und Zerstörungen Einhalt zu gebieten, nur die Möglichkeit, Hitler zu töten. Die Beseitigung Hitlers konnte nur durch jemanden erfolgen, der Zutritt zu ihm hatte und gleichzeitig bereit war, das Odium des Attentäters auf sich zu nehmen. Dieser Mann wurde in Oberst Stauffenberg gefunden. Die Tötung Hitlers hätte an sich auf verschiedene Art erfolgen können. Aber die Bedienung einer Waffe, sei es einer Pistole oder eines Revolvers, kam für den schwer kriegsverletzten und behinderten Stauffenberg nicht in Frage. Es blieb nur das Zünden eines Sprengkörpers.

Hitler allein und keinen anderen auf diesem Wege zu töten war aber deswegen nicht möglich, weil der, welcher zu ihm Zutritt hatte, ihn stets von anderen umgeben antraf. Wer die Bombe zündete, die Hitler beseitigen sollte, musste damit rechnen, dass die Explosion nicht nur ihn, sondern auch andere verletzen oder töten könnte. Die Absicht Stauffenbergs war zweifellos nur darauf gerichtet, Hitler aus dem Wege zu schaffen. Aber er konnte nicht ausschließen, dass er durch die Zündung des Sprengkörpers auch Männer seiner Umgebung in den Tod reißen würde. Diese Aussicht hat ihn, was wir von ihm wissen, höchstwahrscheinlich Bedenken verursacht. Er hat sie überwunden, weil er sah, dass diese nicht gewollte Folge in Kauf genommen werden müsse, wenn die entscheidende Absicht gelingen sollte. So schritt er zu der Tat, die leider misslang. Sie verletzte oder tötete Männer der Umgebung des Diktators, fügte ihm selbst nur einen geringen Schaden zu. Dennoch wird man seine Tat aufgrund des Kompensationsprinzips billigen müssen oder wenigstens können.

Ein anderes Beispiel aus dem Leben. Es gibt heute überzeugte, gläubige katholische Christen, die den bürgerlichen Austritt aus der katholischen Kirche erklären. Zur Begründung geben sie an, dass die nachkonziliare Kirche nicht mehr der Kirche entspricht, in die sie hineingetauft wurden und in der sie verbleiben wollen. Sie verweisen einmal auf die veränderten Gottesdienste, vor allem auf die nachkonziliare Neumesse. Sie erscheint ihnen ein Bruch mit der Vergangenheit und eine Minderung des Katholischen zu sein. Zum anderen beanstanden sie viele Äußerungen von Papst und Bischöfen sowie die offenkundigen Irrlehren von Theologen, Priestern und Laien im kirchlichen Dienst. Sie vermissen eindeutige Aussagen der Hirten und Lehrer der Kirche und stellen Defizite bei der Verkündigung des Glaubens fest. Schließlich missbilligen sie den überbordenden Ökumenismus. Die von oben betriebene Ökumene der (katholischen) Vorleistungen beeinträchtigt Glaubensbekenntnis und Glaubenspraxis der katholischen Priester und Laien. Die Kirche ist in eine Woge der Protestantisierung geraten. Dazu wollen sie keinen Beitrag leisten.

Nun kann man darauf hinweisen, dass manche Beanstandungen unberechtigt oder übertrieben sind. Etliche schütten, wie man sagt, das Kind mit dem Bade aus. Aber es bleiben viele Bemängelungen und Proteste, die berechtigt sind oder jedenfalls von den Austrittsentschlossenen als berechtigt angesehen werden. Die genannten Christen erklären sich außerstande, die Kirchenorganisation weiterhin mit ihren finanziellen Beiträgen zu unterstützen, in der Gottesdienst und Verkündigung nicht mehr genuin katholisch seien. So erklären sie den bürgerlichen Kirchenaustritt, der sie von der Kirchensteuer befreit.

Der Vorwurf, die Gelder, die der Kirche aus der Kirchensteuer zufließen, würden unsachgemäß verwendet oder gar zu Aktionen und Unternehmungen ausgegeben, welche der Kirche und dem Glauben schaden, ist nicht in Gänze unberechtigt. Wer einen Überblick über die von der Kirche finanzierten Predigten und Vorträge, Zeitungen und Schriften hat, wird feststellen, dass in vielen derselben der Glaube nicht aufgebaut, sondern abgebaut wird. Ebenso fatal ist die Lage im Personal der Kirche. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man feststellt: Nicht ganz wenige kirchliche Bedienstete betreiben, von der Kirche unterhalten, nach Kräften die Zerstörung der Kirche. – Auch manche Aktionen und Unternehmungen, die mit Finanzmitteln der Kirche unterstützt werden, haben mit dem Heilsauftrag der Kirche wenig oder nichts zu tun. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken trägt fortwährend glaubens- oder ordnungswidrige Aufstellungen in das katholische Volk und in die Öffentlichkeit, verwirrt die Gläubigen und bringt sie gegen die Lehre der Kirche auf. Aber es wird von der Kirche finanziert.

Der Kirchenaustritt beendet die Entrichtung der Kirchensteuer, wird aber als Trennung von der Kirche wahrgenommen. Er ist eine Handlung mit doppelter Wirkung. Darf sie geschehen? Reichen die Gründe, die dafür angeführt werden, aus, sie zu rechtfertigen? Gilt hier das Kompensationsprinzip? Dazu ist folgendes zu bemerken. Die Körperschaft des öffentlichen Rechts, als welche die katholische Kirche in Deutschland firmiert und als welche sie Kirchensteuer einzieht, ist zweifellos zu unterscheiden von der Stiftung Christi, dem Leib Christi, dem Volke Gottes als einer geistlichen Gemeinschaft. Die Trennung von der ersten ist nicht notwendig eine Abwendung von der zweiten. Die Personen mit der geschilderten Gesinnung betonen nachdrücklich und ehrlich ihr Verbleiben in der Kirche Christi. Dennoch bestehen Bedenken gegen den bürgerlichen Kirchenaustritt. Er erweckt den Anschein der Trennung von der Kirche Christi, wenn er vor der Behörde erklärt und bekannt gemacht wird. Dadurch gibt er Ärgernis, d.h. Anreiz zur Sünde für andere.

Außerdem bleibt bestehen, dass mit den Geldmitteln der Kirche auch heute noch das gesamte gottesdienstliche Leben und der Dienst der Verkündigung aufrechterhalten werden. Auch die Leistungen und Bemühungen jener Diener der Kirche, die korrekt ihren Aufgaben nachgehen, werden mit den Einkünften aus der Kirchensteuer finanziert. Allein schon ihretwegen verbietet es sich, der Kirche den Geldhahn zuzudrehen. Wer aus der Kirche austritt, unterbindet nicht nur schlimme, sondern auch gute Tätigkeiten der Kirche und ihrer Bediensteten. Man denke sodann an die Unterhaltung der Tausenden von Gotteshäusern. Jeder katholische Christ hat zu ihnen freien Zugang, kann in ihnen beten und sich erheben. Schließlich ist die Kirche in der Betreuung von Kindern, Kranken und Alten in starkem Maße beteiligt. Man weiß, welche enormen Beträge dafür erforderlich sind. Aus diesen Gründen vermag ich dem bürgerlichen Kirchenaustritt nicht zuzustimmen und kann ihn nicht unter die Handlungen einreihen, die aufgrund des Kompensationsprinzips erlaubt sind.

Ein weiteres Beispiel für das Kompensationsprinzip aus der Politik. Eine Regierung muss her. Ohne Regierung kann ein Volk, ein Staat nicht existieren. Die Regierung wird vom Parlament bestimmt. Das Parlament setzt sich aus Parteien zusammen. Die Parlamentarier werden von den Staatsbürgern gewählt. Wir beteiligen uns an den Wahlen und müssen uns daran beteiligen aus staatsbürgerlicher Pflicht. Aber wir alle wissen: Keine einzige der dort vertretenen Parteien fühlt sich an das christliche Sittengesetz gebunden. Wen immer wir auch wählen, die Abgeordneten beschließen Gesetze, die Gottes Willen klar widersprechen. Durch unsere Wahl wirken wir mittelbar zu diesen Gesetzen mit. Die unmittelbare Folge der Wahl von Bundestagsabgeordneten ist die Bildung des Parlaments, das dann die Regierung bestimmt. Die mittelbare Folge ist, dass Männer und Frauen zu Gesetzgebern gemacht werden, die neben einwandfreien oder nützlichen Gesetzen auch bedenkliche oder verwerfliche Gesetze beschließen werden. Um des Volkswohls und um des Staatswohls willen darf man sich an den Wahlen zum Bundestag beteiligen.

Die Kenntnis des Kompensationsprinzips ist für den gläubigen katholischen Christen unentbehrlich. Er muss wissen, was es mit den Handlungen mit doppelter Wirkung auf sich hat und wann er sie setzen darf. Denn in der vielgestaltigen Welt mit den Menschen unterschiedlichster Ansichten und Antriebe kann er leicht, ja unvermeidlich, in eine Situation geraten, in der er Gutes tun könnte und möchte, aber gleichzeitig von der Frage gedrängt wird, ob er es tun darf, weil er voraussieht, dass damit auch eine sittlich schlechte Wirkung verbunden ist. Da hilft das Kompensationsprinzip. Es besagt: Er darf die Handlung trotz schlimmer Folge vollziehen, falls ein hinreichender Grund vorliegt. Hier ist das recht gebildete christliche Gewissen gefragt.

Amen.

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