9. August 2020
Maria, die unbefleckt Empfangene
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Marienverehrung ist Antwort auf die Heiligkeit Mariens, auf ihren tätigen Anteil an der Erlösung und an seiner Erfüllung in der Kirche. Die Marienverehrung ist grundgelegt in der Heiligen Schrift (Lk 1,26; 1,48). Eine Anzahl von Stellen bezeugt die Aufmerksamkeit der biblischen Schriftsteller auf Maria (Gal 4,4; Mt 1-2; Lk 1-2, Joh 2,1-11; 19,25ff.). Das 2. Jahrhundert sieht an Maria eine heilsgeschichtliche Bedeutung. Aus dem 3. Jahrhundert stammt die erste griechische Marienanrufung. Seit Athanasius und Ambrosius wird Maria als Vorbild gewertet. Das Lob Mariens wird tägliche Gewohnheit. Maria ist vor den Aposteln und Martyrern anzurufen. Seit dem 4. Jahrhundert werden ihr Kirchen geweiht. Im Osten kommen spätestens Anfang des 5. Jahrhunderts Marienfeste auf. Die römische Liturgie fügt zu Beginn des 6. Jahrhunderts Maria in den Kanon der heiligen Messe ein. Maria wird in den kommenden Jahrhunderten immer mehr als himmlische Herrin und Königin, als geistliche Mutter aller Christen, als hervorragendste Fürbitterin gesehen, der sich das Volk Gottes in vertrauter Hingabe zuwendet. Länder, Städte und Gemeinschaften wählen Maria zur Patronin. Besonders Andachten in den Monaten Mai und Oktober pflegen ihre Verehrung. Das Gebet zum Engel des Herrn-Läuten und das Beten des Rosenkranzes verbreiten sich überall. Große Scharen von Gläubigen wallfahren zu ihren Heiligtümern. Bereits in den römischen Katakomben finden sich Marienmalereien. Die Definition der Gottesmutterschaft Mariens durch das Konzil von Ephesus (431) förderte die Entwicklung des Marienbildes entscheidend. Als Fresko oder Mosaik schmückt es von nun an Apsis, Triumphbogen, Wände des Hochschiffs und andere bevorzugte Stellen des Kirchengebäudes. Der Dichter Novalis (= Friedrich von Hardenberg) konnte zutreffend schreiben: „Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt. – Ich weiß nur, dass der Welt Getümmel seitdem mir wie ein Traum verweht und ein unnennbar süßer Himmel mir ewig im Gemüte steht.“
Das Lob Mariens ist in der katholischen Kirche niemals verstummt. Die Kirche konnte nicht von der Verehrung Mariens lassen, weil Gott selbst ein Marienverehrer ist. Sein Engel spricht sie an: Du hast Gnade gefunden bei Gott. Es kann Christus, der seine Mutter über alles erhoben hat, nicht gleichgültig sein, wie wir uns zu ihr stellen. Ist Maria unsere Mutter, dann dürfen wir sie ehren als Kinder. Wir können und dürfen Maria nicht anbeten, sondern nur verehren, d.h. sie preisen und anrufen wegen ihrer Gnaden, Privilegien und Würde. Alles dies wurzelt in ihrer Gottesmutterschaft und weist so zurück auf Christus und Gott. Darum ist alle Marienverehrung zugleich Bekenntnis des Christusglaubens und Gottesdienst.
Der ewige Gott hat Maria, die er zur Mutter seines Sohnes der menschlichen Natur nach bestimmt hat, für diese Würde entsprechend vorbereitet. Maria ist um ihrer einzigartigen Stellung als Muttergottes willen in einer einzigartigen Weise erlöst worden. Sie ist nicht in die Gottesferne hinein empfangen worden, in der alle anderen Menschen zu existieren beginnen. Es gab in ihrem Dasein keinen Augenblick der Gnadenberaubtheit. Der Zustand der Begnadung begann nicht erst bei ihrer Geburt, sondern fällt mit dem Aufglimmen ihres Lebens zusammen. Sie wurde von ihren Eltern sogleich in die hütende Liebe Gottes empfangen. Maria ist von der Erbsünde nicht berührt worden. Darum gilt von ihr: „Ganz schön bist du, Maria, der Erbschuld Makel ist nicht an dir.“ Das gläubige Volk singt von ihr: „Maria, du Schöne, das Lied dir ertöne, die, rein von der Schuld, Gott Vater dort oben zur Tochter erhoben, voll Gnade und Huld.“ „Die Schönste von allen, von fürstlichem Stand, kann Schönres nicht malen ein' englische Hand: Maria mit Namen; an ihrer Gestalt all' Schönheit beisammen Gott selbst wohlgefallt.“ Der Ausdruck „unbefleckt Empfangene“ oder „unbefleckte Empfängnis“ wird missverstanden, wenn man meint, der Zeugungsvorgang, aus dem Maria entstand, solle aus allen anderen herausgehoben und auf alle übrigen Zeugungen solle ein Makel geworfen werden. Mit solchen Fehldeutungen hat der Glaubenssatz nichts gemein. Vom Verhalten der Eltern Marias ist darin überhaupt nicht die Rede. Von ihr allein ist gesagt, dass sie vom ersten Augenblick ihres Lebens von jeder Verletzung des Bösen bewahrt blieb. Von der Erbsünde befreit werden ist nicht dasselbe wie von der Erbsünde bewahrt werden. Die Bewahrung von der Erbsünde wirkte sich in der Freiheit von ungeordneten Regungen und von der bösen Begierlichkeit aus. Maria blieb von den „Wunden“ der Erbsünde frei. Sie war ganz unverwundet und heil. Aus den Tiefen ihres Ich erhob sich nie die Versuchung, ihr eigenes Selbst gegen Gottes Willen zur Geltung zu bringen. So blieb sie ihr ganzes Leben hindurch frei von jeglicher Sünde. Maria spürte nie in ihrem Leben die Sünde oder die Versuchung zu ihr aus ihrer eigenen Wesenstiefe heraufsteigen. Sie musste sich nicht aus den Verstrickungen der Sünde in die Freiheit der Kinder Gottes durchringen. Sie hatte keine Gelegenheit, das Böse in sich niederzukämpfen.
Indes auch ihr Leben war durchwirkt von Kämpfen und Siegen. Sie liegen nicht im Felde, auf dem Sünde und Tugend aufeinanderstoßen, sondern innerhalb der Grenze des Gehorsams und der Liebe. Ihr Leben war immer Bereitschaft und Hingabe an Gott. Am Schicksal ihres Sohnes wuchs ihre hinopfernde Liebe zu immer größerer Kraft und Innigkeit heran. Gott führte sie immer schwerere und steilere Pfade, bis sie imstande war, auch die größte Prüfung, das Kreuz ihres Sohnes, mit willigem Herzen zu bestehen. Ihr Leben war eine Pilgerschaft zu Gott wie bei jedem anderen Menschen. Auch ihr Leben harrte noch der Vollendung. Auch sie streckte sich in der Hoffnung dem Zukünftigen entgegen. Auch ihr Leben war beherrscht von dem Gesetz des Noch-nicht. Trotz der innigen Nähe Gottes war sie noch nicht im Himmel, war sie noch nicht aus der Hinfälligkeit und Preisgegebenheit des menschlichen Daseins herausgehoben.
Wenn Maria von der Sünde gerettet wurde, so war das Gottes Gnadentat. Auch sie konnte sich nicht selbst von ihr retten. Auch sie war an sich der Sünde unterworfen, weil sie eben aus dem Geschlechte Adams war. Sie war ein Glied des erlösungsbedürftigen Menschengeschlechtes. Was sie geworden ist, das ist sie geworden durch Gottes Geschenk. Den Traum der Selbsterlösung hat sie nie geträumt. Der Glaubenssatz von der Freiheit Marias von der Erbsünde hebt die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen nicht auf, sondern hebt sie gerade hervor. Er zeigt uns Maria als die Ersterlöste ihres göttlichen Sohnes und damit als Urbild der Erlösten. Maria unterscheidet sich nur in der Weise, nicht in der Wirklichkeit der Erlösung von allen Menschen. Maria wurde auf die vollkommenste Weise erlöst. Gott hat sie (im Hinblick auf die Verdienste Christi) im ersten Augenblick ihrer Empfängnis von jeder Makel der Erbsünde bewahrt. Die Unbefleckte Empfängnis ist die radikalste Form der Erlösung. Maria ist der vollkommene, urbildliche, reine Fall der Erlösung überhaupt. Die in der Gnade Bewahrte ist ebenso radikal, wenn nicht mehr, die Gerettete und Erlöste. Die erlösende Bewahrung vor der Erbsünde ist die tiefgreifendste und seligste Weise der Erlösung.
Die Tatsache der Sündenfreiheit Marias gehört zu den in der Offenbarung zwar gegebenen, aber zugleich in andere Wahrheiten eingehüllten Wirklichkeiten. Erst im Laufe einer langen, unter dem Walten des Heiligen Geistes erfolgenden Entfaltung trat das Eingehüllte zu eigener Gestalt hervor. Es lassen sich Spuren dieses Vorgangs nachweisen. Schrift und Väter waren dunkel, die großen Scholastiker zurückhaltend. Somit bedurfte es reichlicher Zeit, die zwei Fragepunkte zu erklären: nach dem Erlösungsmodus und dem Heiligungsmodus. Dann erst konnte die Kirche zur Definition schreiten. Maria unterlag dem aus der Sünde stammenden Gesetz, wonach sich die Sünde auf alle vererben sollte. Davon waren die Theologen aller Jahrhunderte überzeugt. Gleichzeitig aber sträubten sie sich gegen die Annahme, die Mutter des Erlösers sei jemals der Sünde, sei es der Erbsünde, sei es der persönlichen Sünde, erlegen. Augustinus erklärte, wegen der Ehre des Herrn will er von keiner Sünde Marias etwas wissen. Der Wiener protestantische Orientalist Gustav Bickell studierte die syrischen Gedichte des heiligen Ephrem (6. Jh.). Dabei kam ihm der Gedanke: Wenn er bei diesem Kirchenvater ein Zeugnis für die Unbefleckte Empfängnis Mariens finde, wolle er dies als Beweis für die Wahrheit der katholischen Lehre nehmen. Er empfahl dieses Anliegen der Mutter Gottes. Tatsächlich stieß er bald darauf auf die Stelle: „Du, o Herr, und deine Mutter, ihr seid die einzigen, in jeder Beziehung vollkommen Reinen. Denn an dir, o Herr, ist kein Flecken und an deiner Mutter ist kein Makel.“ Wenige Jahre später war Bickell katholischer Priester. Wie ließen sich die beiden Wirklichkeiten: Erlösungsbedürftigkeit und Sündenfreiheit Marias vereinbaren? Wie beides vereint werden konnte, erkannte erst der geniale schottische Theologe Johannes Duns Scotus (1266-1308), wohl der scharfsinnigste Denker des ganzen Mittelalters. Johannes Scotus gab bereitwillig Marias Erlösungsbedürftigkeit zu, führte aber für sie den Begriff der „Vorerlösung“ in die Theologie ein: Marias Erlösung war eine Bewahrung vor der Erbsünde, nicht eine Befreiung von ihr. Die Erlösungsgnade floss ihr vorher zu, ehe sie ins Dasein trat, so dass sie nicht von der Sünde gereinigt, sondern vor ihr bewahrt wurde. Jetzt war der Weg frei für die Proklamation des Dogmas. Der Glaubenssatz von der unbefleckten Empfängnis Marias wurde von Papst Pius IX. am 8. Dezember 1854 feierlich verkündigt. „Die Lehre, welche festhält, dass die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch die einzigartige Gnade Gottes im Hinblick auf die Verdienste Jesu Christi, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde, ist von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und beständig zu glauben.“ Die feierliche Verkündigung dieses Dogma brachte die letzte Sicherheit, dass es sich hier um eine beglückende Tatsache und nicht um einen Wunsch oder eine fromme Meinung handelt.
Wer sich in Gottes Heilsplan hineindenkt, dem kann eine Ahnung kommen, was sich Gott bei der Erwählung Mariens gedacht hat. Die Menschheit braucht einen Menschen, eine Frau wie Maria, rein und sündenlos. Einem deutschen Priester in Rom öffnete eines Tages ein unbekannter, weitgereister Herr sein Herz. Er erklärte: „Wenn ich glauben könnte, würde ich katholisch werden. Und wissen Sie, warum? Um des Dogmas der unbefleckt Empfangenen willen. Wenn die Kirche überhaupt mit ihren Dogmen Wahrheit verkündet, dann erfahren wir durch dieses Dogma, dass es in der Menschheit wenigstens einmal eine Seele gegeben hat, die als reiner Mensch von der Sünde niemals berührt worden ist. Ich kann Ihnen sagen: Ich habe ein großes Stück Welt gesehen. Ich habe die Schmutzflut der Sünde in der Welt kennengelernt. Was wir brauchen, ist diese Seele, diese eine Seele wenigstens, die auch nicht vom leisesten Tropfen dieser Flut je bespritzt und befleckt wurde, die Seele der Unbefleckten, der ganz Makellosen, zu der wir aufschauen können als zu dem Ideal der Menschenseele in ihrer unberührten Reinheit und Heiligkeit. Dass wir an die Menschheit wieder glauben lernen, dazu brauchen wir die unbefleckt Empfangene, an die Sie glauben können, Sie, die Katholiken.“ Seitdem es eine unversehrte und unbefleckte Frau gibt, Maria, die Mutter des Herrn, wissen wir, was Reinheit, was Unbeflecktheit, was wahre sittliche Schönheit ist. Und wir fühlen uns angezogen von der makellosen Frau. Ein Strom der Sehnsucht geht hinüber in das ferne Land, aus dem das Bild der Gnadenmutter uns herüberscheint. Und da strecken wir die Hände aus nach diesem Gnadenbild und rufen: Jungfräuliche Mutter, du reinste von allen, schau auf uns, die wir hier ringen um Reinheit des Herzens und Freiheit von Sünde. Wir wagen nicht zu bitten, dass wir werden, wie du bist. Aber wir möchten dir nicht ganz unähnlich sein. Bewahre uns vor den trügerischen Verlockungen dieser Welt. Gib uns Anteil, einen kleinen, winzigen Anteil an deiner erhabenen Schönheit! Mach unsere Herzen unirdisch, himmlisch gesinnt. Reinste Mutter, zieh uns hinan!
Amen.