19. Juli 2020
Pius XII., Teil II
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben am vergangenen Sonntag die erhabene Gestalt des Papstes Pius XII. betrachtet. Im Jahre 1963 ließ der vor kurzem verstorbene Schriftsteller Rolf Hochhuth das Bühnenstück „Der Stellvertreter“ erscheinen. Darin werden schwere Vorwürfe gegen Papst Pius XII. (und die katholische Kirche) erhoben. Hochhuth stellt die Behauptung auf, Pius XII. hätte Hitlers versuchte Judenausrottung mit der moralischen Macht des Protestes verhindern können. Dazu tritt die weitere Behauptung: Er habe aus eigennützigen Gründen diesen öffentlichen Protest unterlassen. Aus lauter Sorge um die Finanzen des Vatikans habe er der Vernichtung der Juden in Europa gleichgültig gegenübergestanden. Der Papst habe als moralische Instanz versagt. Daraus zieht Hochhuth die Folgerung: Pius XII. ist ein Verbrecher. Wir wollen prüfen, ob die Vorwürfe Hochhuths gegen den Papst berechtigt sind.
Unbestreitbar ist, dass, wer anderen ihre Greueltaten vorhalten will, über diese zuverlässige Informationen haben muss. Man kann nicht glaubwürdig verurteilen, was nicht hieb- und stichfest bewiesen ist. Man kann nicht gegen etwas protestieren, wovon man nur gerüchtweise oder durch Berichte Einzelner erfährt. Protest setzt genaue Kenntnis, die Angabe zuverlässiger Zeugen und den Beleg durch Zahlen voraus. Dazu ist im Fall der Judenvernichtung folgendes zu sagen. Die deutsche Bevölkerung war wohl von der Judenverfolgung, nicht aber von der Judenvernichtung unterrichtet. Sie erlebte bzw. erfuhr die zwangsmäßige Entfernung der Juden aus dem deutschen Reichsgebiet, als „Evakuierung“ bezeichnet. Aber niemand wusste um ihre fabrikmäßige Tötung. Niemand kannte die Ausmaße des rassistischen Vernichtungsfeldzuges. Es gab keine sichere Kenntnis von dem Völkermord. Der Ort Auschwitz wie der Begriff Gaskammer war der Bevölkerung unbekannt. Selbst den Juden war nicht bewusst, was sie in den Gaskammern erwartete. Man sagte ihnen, sie würden desinfiziert. Der industriell ausgeführte Genozid am Judentum überstieg jede Vorstellung. Die Verbrechen wurden unter strenger Geheimhaltung von einem kleinen Kreis von Menschen begangen, die selbst zur Verschwiegenheit verpflichtet wurden. Die Tatsache der fabrikmäßigen Ermordung von Millionen Menschen wurde erst lange nach Beendigung des Krieges bekannt und erforscht. Erst die systematisch betriebene Holocaustforschung hat die Fakten erhoben und die Opferzahlen ermittelt. Kein einziger Mensch außerhalb der wenigen an der Judenausrottung beteiligten führenden Persönlichkeiten des Dritten Reiches kannte das genaue Ausmaß der Morde. Dem Heiligen Stuhl ging eine Fülle von wahren und falschen, zutreffenden und nicht zutreffenden, sicheren und unsicheren, in keinem Falle beglaubigten und öffentlich verwertbaren Informationen über Greueltaten des NS-Regimes zu. Pius XII. besaß keinerlei beweisbare Zusammenfassung und schon gar keinen zahlenmäßigen Überblick über die systematischen Ausrottungsmaßnahmen der NS. Mit dem bruchstückhaften und ungesicherten Wissen, das der Papst von den Verbrechen der NS hatte, war es unmöglich, eine öffentliche Verurteilung ergehen zu lassen. Wäre er mit dem Material, das ihm vorlag, vor die Öffentlichkeit getreten, wäre es dem Regime ein Leichtes gewesen, seine Verlautbarung als verlogene Feindpropaganda abzutun. Die ahnungslose deutsche Bevölkerung wäre, falls diese zu ihrer Kenntnis gelangt wäre, verdutzt und verblüfft, bestürzt und verstört gewesen, wie sich der Papst zu einer derartigen Kundgebung habe hergeben können.
Dennoch hat der Papst als universaler Lehrer der Kirche unerschütterlich seines Amtes gewaltet. Er führte den Kampf gegen das NS-Regime auf der grundsätzlichen Ebene der Schöpfungsordnung und der Menschenrechte. Die ungerechte Verfolgung politischer Gegner und unerwünschter Teile der Bevölkerung wie Juden und Zigeuner wurde vom Heiligen Stuhl mit den Mitteln bekämpft, die ihm allein zur Verfügung standen, nämlich durch Entgegensetzung der christlichen Lehre über den Wert des Menschen. Papst Pius XII. hat das getan, was seines Amtes ist, nämlich die Grundsätze der kirchlichen Lehre über den Menschen, die Menschenrechte und die Menschenpflichten verkündigen. In diesem Rahmen bezog er Stellung gegen Rassen- und Völkerhass. Die Ideologie der Rasse, die ein wesentlicher Programmpunkt des Nationalsozialismus war, wurde vom Heiligen Stuhl frühzeitig aufgedeckt und verworfen. Die Stellung der Kirche bzw. des kirchlichen Lehramtes zu der Verfolgung der Juden im Besonderen war eindeutig. Am 28. März 1928 verurteilte ein Dekret des Heiligen Offiziums den Hass gegen das auserwählte Volk und den Antisemitismus. Pacelli sagte am 1. April 1933, für die Juden einzutreten, gehöre zu den guten Traditionen des Heiligen Stuhls. Bei dem internationalen Kongress in Lourdes wandte er sich am 28. April 1935 gegen den Aberglauben von Rasse und Blut. In der Enzyklika „Mit brennendender Sorge“ vom 14. März 1937 wurde die Vergötzung von Rasse, Volk und Staat schärfstens zurückgewiesen. Das Reskript der Studienkongregation vom 13. April 1938 erklärte die Rassenlehren und Konzeption des totalitären Staates als Irrtümer, die abzuweisen seien. Papst Pius XI. verurteilte am 6. September 1938 vor belgischen Pilgern scharf den Antisemitismus und sagte, „geistlich sind wir alle Semiten“. Man wirft dem Heiligen Stuhl vor, nicht die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 getadelt zu haben. Die von Pacelli beaufsichtigte Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ hat diesen Terror wiederholt scharf verurteilt. Die von Pius XI. vorbereitete Enzyklika „Wider den Rassismus“ war bei dessen Tod am 10. Februar 1939 nicht fertig. Pius XII., der den Rassismus genau ablehnte wie sein Vorgänger, meinte kurz vor Ausbruch des Krieges den Bemühungen um den Frieden in Europa den Vorrang geben zu müssen. Eine flammende Verurteilung von Hitlers Rassenpolitik hätte jede wenn auch geringe Chance auf Gehör in Berlin verspielt. Wäre die Enzyklika erschienen, kann man sich unschwer die Vorwürfe der heutigen Kritiker des Pacellipapstes vorstellen, nämlich der Papst habe die letzte Chance auf Frieden rücksichtslos weggeworfen. Im Januar 1940 veranlasste der Papst Radio Vatican, die furchtbaren Grausamkeiten der Nazis an jüdischen und katholischen Polen publik zu machen. Der „Jewish Advocate“ in Boston USA nannte die Sendung eine „unverblümte Denunzierung deutscher Greueltaten“. Die „New York Times“ schrieb: „Nun hat der Vatikan gesprochen, mit einer Autorität, die nicht in Frage gestellt werden kann.“ Der „Manchester Guardian“ in England pries Radio Vatikan als den „mächtigsten Fürsprecher der gemarterten Polen“. Seit 1941 protestierte der Papst in Frankreich, der Slowakei, Rumänien und Ungarn gegen die Verschleppung der Juden. Pius XII. hat zur Judenvernichtung nicht geschwiegen, wenn er auch seine Mahnungen allgemein hielt (Weihnachtsbotschaft vom 24. Dezember 1942, Ansprache an das Kardinalskollegium vom 2. Juni 1943). Nach der Weihnachtsansprache von 1942 beschuldigte man den Papst in Berlin, sich zum Sprachrohr der jüdischen Kriegsverbrecher zu machen. Ribbentrop ließ den deutschen Botschafter eine Verletzung der Neutralität rügen und Vergeltung androhen. Ein SS-Führer im Reichssicherheitshauptamt bemerkte zu der Weihnachtsansprache (1942), der Papst habe „praktisch dem deutschen Volke ein Unrecht an Polen und Juden vorgeworfen“ und sich damit „zum Fürsprecher und Vorkämpfer für diese wahrsten Kriegsverbrecher“ gemacht (FAZ Nr. 255 vom 31.10.2008 S. 12). Die „New York Times“ vom 25. Dezember 1942 beurteilte die Weihnachtansprache des Papstes als „klare und wirksame Worte zugunsten der Juden“. Pius XII. hat mit Sicherheit nicht geschwiegen. Der ehemalige Außenminister Ribbentrop erklärte im Nürnberger Prozess, es habe „eine ganze Schublade päpstlicher Proteste“ gegeben. Eine andere Waffe hatte der Papst nicht. Was der päpstlichen Diplomatie gegenüber dem Regime Hitlers verblieb, war allein die Kraft der Argumente. Doch die Berufung auf naturrechtliche Prinzipien, Erfordernisse der Menschlichkeit und Normen christlicher Ethik machten auf dieses keinen Eindruck. In Zeiten diktatorischer Regime muss die Sprache so geformt werden, dass der Sprecher nicht belangt werden kann, und doch alle, die verstehen wollen und sollen, den Schlüssel zum Verständnis haben. Wenn man dem Papst vorhält, er habe nur in allgemeiner Weise gesprochen und nicht konkret, so ist darauf zu antworten, dass diese Weise zu sprechen dem Lehramt angemessen ist. Das kirchliche Lehramt hat die sittlichen Grundsätze vorzulegen. Den Adressaten ist aufgegeben, sie zu befolgen. Die Frage: „Warum schwieg Pius XII. zum Holocaust?“ ist falsch gestellt; denn er hat nicht geschwiegen. Die Frage müsste vielmehr lauten: Warum sprach er so, wie er sprach, und handelte so, wie er handelte? Er sprach so, wie er sprach, und handelte so, wie er handelte, weil er überzeugt war, auf diese Weise seinem Amt und seiner Verantwortung am meisten zu entsprechen. Papst Pius XII. hielt mehr vom Retten als vom Reden. Sein Verhalten hat zahllosen Juden das Leben erhalten. Der jüdische Historiker Pinchas Lapide berechnete, dass der Papst etwa 860 000 Glaubensgenossen das Leben gerettet hat. Welcher Staat oder welche Institution kann eine vergleichbare Bilanz vorlegen? Der Nachfolger Pius XII. Papst Johannes XXIII. erklärte richtig: „Ein doktrinärer Papst hätte vielleicht ostentativ gehandelt, ein humaner musste die stille Rettung der Verfolgten dem Posaunenruf einer Enzyklika vorziehen.
Die Haltung des Papstes Pius XII. angesichts der Judenverfolgung der Nationalsozialisten ist von jüdischer Seite wiederholt als einwandfrei und richtig anerkannt worden. Gerade die Beteiligten und Verfolgten waren es, die dem Papst rieten, nicht anders zu handeln, als er handelte. Der Berliner Jude Victor Wolfson, ein Augenzeuge, sagte mit Recht: „Der Papst konnte nicht mehr tun. Und alle haben ihm damals vertraut.“ Während des Krieges und nach dem Krieg haben viele namhafte Juden – Albert Einstein, Moshe Sharett, Rabbi Isaac Herzog und unzählige andere – öffentlich ihre Dankbarkeit gegenüber Pius XII. bekundet. Die Außenministerin des Staates Israel, Golda Meir, dankte dem Papst für seine Bemühungen um die Juden. Sir Martin Gilbert, ein britischer Historiker und Jude, stellte fest: „Pius XII. hat äußerst verantwortungsbewusst gehandelt und die richtige Entscheidung gefällt.“ Am 2. April 1944 wandte sich der Oberrabbiner von Rom Israel Zoller mit Frau und Tochter dem Glauben an Christus zu. Am 13. Februar 1945 wurde er katholisch getauft auf den Namen Eugenio, den Vornamen des Papstes Pius XII. Er ist nicht deswegen zum katholischen Glauben übergetreten, weil Pius XII. angesichts der Judenverfolgung versagt, sondern weil er sich bewährt hatte.
Hochhuth vermisste einen öffentlichen Protest des Papstes gegen die Verfolgung und Ermordung der Juden. Ich vermisse bei Hochhuth Ausführungen über das Verhalten der Staaten und der anderen Religionen angesichts dieses Geschehens. Die neutralen Länder haben zu den Judenmorden geschwiegen. Warum hat die Schweiz, wo sich Nachrichten aus aller Welt zu sammeln pflegen, keinen öffentlichen Protest gegen die Judenverfolgung erhoben? Der Schweizer Sender Radio Beromünster, der in Deutschland gut empfangen werden konnte, hat nicht über die Verbrechen im Osten unterrichtet. Warum unterblieb der öffentliche Protest Schwedens, das sich seiner humanistischen Politik rühmt und dem das Deutsche Reich durch seine Erzlieferungen verpflichtet war? Das IKRK fasste am 14. Oktober 1942 (nicht zuletzt auf Carl J. Burckhardts Betreiben) den Beschluss, von einem öffentlichen Appell zum Mord an den europäischen Juden abzusehen (Stauffer, Sechs furchtbare Jahre, 1998). Warum? In den USA waren die Geschehnisse in den Vernichtungslagern seit 1942 bekannt, wenn auch nicht in vollem Umfang. Aber eine öffentliche Stellungnahme der Regierung blieb aus. Die Alliierten hätten die Verbrechen in Deutschland und Europa durch Rundfunk und Flugblätter bekanntmachen können. Es unterblieb. Sie alle klagt Hochhuth nicht an, nur den Papst. Die Alliierten haben es auch unterlassen, die Verbrechen in den Vernichtungslagern auch nur zu behindern. Von jüdischer Seite ist der Vorwurf gegen sie erhoben worden, sie hätten die Eisenbahnlinien, auf denen die Transporte von Juden in die Vernichtungslager liefen, unschwer mit Bomben belegen können, doch sie haben es versäumt. Man kann schließlich fragen, warum die evangelische Kirche Deutschlands, die viel näher am Schauplatz der Verbrechen war, nicht einen öffentlichen Protest erhoben hat. Sie besaß, verglichen mit der katholischen Kirche, die relative Gunst des Regimes. Sie hatte einen Reichsbischof, der gewissermaßen die Zusammenfassung der deutschen Protestanten darstellte. Dieser Herr beteiligte sich zwar an der Verdächtigung der Katholiken, rührte aber keinen Finger gegen die Verfolgung der Juden. Vielmehr nannte er das Judentum einen „Fremdkörper im Staat, den der Staat ausmerzen muss“. Nach dem Namen des Reichsbischofs Müller sucht man in dem Schauspiel Hochhuths vergebens. Nicht wenige evangelische Kirchenführer teilten die Einschränkung der deutschen Juden. Der württembergische Landesbischof Wurm bezeichnete die Nürnberger Gesetze als „ein Gericht im Auftrage des Herrn an den Juden“. Er bemühte also sogar die Theologie zur Rechtfertigung der beginnenden Verfolgung. Es ist richtig und anerkennenswert, dass Wurm durch Eingaben bei Hitler gegen die Vernichtung der Juden vorstellig wurde. Aber diese Schriftstücke blieben geheim; sie waren kein öffentlicher Protest. Außerdem sorgte die Reichskanzlei dafür, dass dem Landesbischof aus seinen Papieren kein Schaden erwuchs. Wahrscheinlich wurden sie Hitler gar nicht vorgelegt.
Was hätte ein Protest des Papstes bewirkt, der vor der Weltöffentlichkeit den Massenmord an Juden gebrandmarkt hätte? Der Zweck öffentlicher Kundgebungen ist darin gelegen, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Öffentliche Proteste, die voraussehbar keine spürbare Reaktion der Massen nach sich ziehen, sind zwecklos. Der Heilige Stuhl hat lange Erfahrung mit wirkungslos verpufften Protesten. Mord und Gewalt, Konflikte und Kriege werden nicht durch einen Protest des Papstes beendet; die Politiker lassen sich dadurch nicht daran hindern. Dem Papst zuliebe unterlässt niemand Extremismus, Gewalt, Terror, militärische Intervention oder einen Krieg. Es steht fest: Päpstliche Proteste bewirken in der Regel nichts. Missbilligende Worte bleiben bei einem totalitären Regime ohne Wirkung.
Einmal angenommen, der Papst hätte den ihm von Hochhuth angesonnenen lautstarken Protest gegen die Verfolgung der Juden (und anderer Bevölkerungsgruppen) vorgebracht. Es wäre dies mitten in einem Weltkrieg geschehen, in dem der Papst nicht Partei, sondern verpflichtet war, Neutralität zu bewahren. Die Neutralität hätte verlangt, dass er beide Kriegsparteien gleich behandelte. Das heißt: Er hätte Verbrechen auf jeder Seite verurteilen müssen. Es war unmöglich, nur deutsche Grausamkeiten zu beanstanden, ohne jene der Alliierten zu erwähnen. Und deren gab es nicht wenige. Der Papst hätte also auch die millionenfachen Morde in der Sowjetunion geißeln müssen. Mehrfache Judenverfolgungen mit Ausgrenzungen, Schauprozessen und Deportationen gab es auch in der Sowjetunion. Der Papst hätte nicht zu der Ermordung von mehr als 20 000 polnischen Offizieren durch die bolschewistischen Herrscher schweigen können, die 1943 zweifelsfrei aufgedeckt und von neutraler Seite bestätigt wurde. Die Bombardierungen deutscher Städte durch die Engländer und Amerikaner stellten alle vorhergehenden Ereignisse des Luftkrieges in den Schatten. Die uralte Kulturstadt Köln beispielsweise erfuhr 262 Bombenangriffe. Die anglo-amerikanischen Flächenbombardierungen deutscher Städte nahmen den Charakter von Terrorangriffen an. Hunderttausende (600 000) von Männern, Frauen und Kindern der deutschen Zivilbevölkerung fielen ihnen zum Opfer. Dieser Luftkrieg war klar völkerrechtswidrig. Ein Protest des Papstes dagegen wäre erforderlich gewesen, wenn man ihm zumutet, öffentlich die Judenverfolgung zu verurteilen. Am 10. März 1945 starteten die Amerikaner die Operation Meetinghouse gegen die japanische Hauptstadt Tokio. Über eine Million Menschen wurden obdachlos, 84 000 verloren ihr Leben. Die Operation war der opferreichste einzelne Luftangriff aller Zeiten. Dabei handelte es sich unbestreitbar um ein Kriegsverbrechen, und der kommandierende General Curtis LeMay wäre zweifellos gehängt worden, wenn er nicht auf der Seite der Sieger gestanden hätte. Alle ihm angesonnenen Proteste hätte der Papst nur zu dem Zweck tun müssen, um sein und des Papsttums Image zu pflegen. Ein Kirchenoberhaupt, das in einer solchen Situation der Propaganda jeder Seite Argumente liefern würde, die Feindschaft zu vertiefen und den Krieg zu verstärken, würde schwere Schuld auf sich laden. Seine Aufgabe ist es vielmehr, den Mitgliedern seiner Kirche in den sich bekämpfenden Staaten (und überhaupt allen Menschen, die auf ihn vertrauen) Trost zu spenden, eine Stütze zu sein und wenn möglich zu helfen, keinesfalls aber den Eindruck zu erwecken, dass er in dem Kampf Partei ergriffen und einen Teil seines Kirchenvolkes von sich gestoßen hat. Der Heilige Stuhl musste im Kriege darauf bedacht sein, strikte Unparteilichkeit zu üben, damit von keiner Seite dem Papst vorgeworfen werden konnte, er begünstige den jeweiligen Kriegsgegner. Ein unbedachter Schritt konnte leicht von einer der kriegführenden Parteien propagandistisch ausgeschlachtet werden. Die Verbrechen der Staaten hörten mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht auf. Die Vertreibung von Millionen Menschen aus ihrer Heimat brachte maßloses Elend über das deutsche Volk. Sie war durch nichts gerechtfertigt, auch nicht durch den Hinweis auf die Verbrechen, die von deutscher Seite im Kriege begangen worden waren. Verbrechen werden nicht durch Verbrechen gesühnt. Unrecht, das einer Seite angetan wurde, wird nicht durch neues Unrecht dieser Seite gutgemacht. Der Papst hätte diesen Verstoß gegen elementare Menschenrechte nicht übergehen können. Aber alle diese dem Papst angesonnenen Proteste wären nicht mit seiner Stellung als Verkünder der kirchlichen Sittenlehre zu vereinbaren gewesen, hätten ihn lediglich den Attacken von allen Seiten ausgesetzt. Der Papst konnte sich nicht dem Automatismus von Verbrechen und Anklage aussetzen. Er ist die Stimme der ewigen Wahrheit; ihre Prinzipien tagtäglich anzuwenden, ist den Hörern der Botschaft aufgegeben.
Wenn wir jetzt fragen, wie ein öffentlicher Protest des Papstes gegen die Judenverfolgung bei den einzelnen Persönlichkeiten und Bevölkerungsgruppen angekommen wäre, beginnen wir mit dem deutschen Diktator. Es ist ein absurder Gedanke, Hitler hätte sich durch einen öffentlichen Protest des Papstes von einem Hauptziel seines politischen Wirkens, nämlich der Vernichtung der Juden, abbringen lassen. Der Protest hätte lediglich seine Wut und seine Entschlossenheit gesteigert, dieses Ziel noch zu seinen Lebzeiten zu erreichen. Man erinnere sich, wie Hitler gegen die Männer wütete, die in irgendeiner Weise in die Geschehnisse des 20. Juli 1944 verwickelt waren. Auch wer überhaupt nicht gehandelt, sondern nur nachgedacht hatte, wie es nach der voraussehbaren Niederlage Deutschlands weitergehen sollte, wurde rücksichtslos ausgemerzt. Er war mit nichts verbunden und brauchte darum auf nichts mehr Rücksicht zu nehmen. Ein öffentlicher Protest des Papstes gegen die Verfolgung der Juden wäre dem Regime vermutlich willkommen gewesen. Er hätte die Maßnahmen auslösen können, auf die man mit Rücksicht auf die erforderliche Geschlossenheit des Volkes im Krieg vorläufig verzichtet hatte. Die Nationalsozialisten wären womöglich dafür dankbar gewesen, dass Pius XII. ihnen einen Vorwand für noch weitergehende Verfolgungen geliefert hätte. Jede Intervention des Heiligen Stuhls zugunsten der Juden, die das Regime dämonisiert und zu Todfeinden des deutschen Volkes erklärt hatte, wäre als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes und als Parteinahme für die Kriegsgegner ausgeschlachtet worden. Der Papst ist in der Welt physischer Gewalt ohnmächtig. Darüber wurde die Menschheit drastisch belehrt. Der amerikanische Präsident Fr. D. Roosevelt machte auf der Konferenz in Jalta (4.-11. Februar 1945) den Vorschlag, den Papst zu den Überlegungen über die Gestaltung der Friedensordnung hinzuzuziehen. Stalin entgegnete mit der Frage: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“ Der Papst hat keine Divisionen. Wer mit Divisionen rechnet, braucht auf den Papst keine Rücksicht zu nehmen. Und Hitler rechnete ebenso mit Divisionen. Der Zerstörungswille Hitlers kannte keine Grenzen. Er machte nicht vor Städten und Ländern, aber auch nicht vor Rassen und Völkern Halt. Am 19. März 1945 erließ er den Befehl, alle Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie-, Versorgungsanlagen und Sachwerte im Gebiet des Deutschen Reiches zu vernichten, bevor sie dem Gegner in die Hände fallen konnten. „Es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil sei es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hätte sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft.“ Aus diesem Befehl erhellt, dass Hitler gewillt war, das gesamte deutsche Volk seiner Existenzgrundlagen zu berauben. Ein Mann, der zu einem solchen Entschluss fähig war, soll bereit gewesen sein, sich von einem öffentlichen Protest des Papstes zur Einstellung der Judenverfolgung bewegen zu lassen? Wie kann man solchen Unsinn behaupten! C.J. Burckhardt, der Präsident des Internationalen Roten Kreuzes erklärte: „Jeder Protest hatte augenblicklich zur Folge, dass Hitler in der brutalsten Weise durchgriff“ (Löw 222).
Es ist weiter zu fragen, wie ein öffentlicher Protest des Papstes gegen die Judenvernichtung im deutschen Volk aufgenommen worden wäre. Das deutsche Volk war durch die nationalsozialistische Propananda jahrelang in die Irre geführt und von neutralen Quellen der Information abgeschnitten worden. Es wäre durch einen öffentlichen Protest des Papstes gegen die Judenvernichtung vor den Kopf gestoßen worden. Dem Volk war die Ausgrenzung und Deportation der Juden bekannt, aber nicht ihre fabrikmäßige Vernichtung. Hätte der Papst davon gesprochen, hätte er keinen Glauben gefunden. Die Masse der Deutschen hätte mit Gleichgültigkeit, Widerspruch oder Empörung reagiert.
Mahnungen und Proteste des Heiligen Stuhls stehen stets unter dem Vorbehalt, dass die Gläubigen sie einsehen und sich davon überzeugen lassen. Da bestehen erhebliche Zweifel. Pius XII. musste befürchten, dass man in Deutschland, aus Drangsal oder Delirium durch den Nationalsozialismus, nach einem lauten Protest aus Rom mit eindeutiger Stellungnahme gegen Hitler eher Papst und Kirche verlassen würde als den Diktator. Zahlreiche Katholiken wären befremdet oder entrüstet gewesen, vom Papst Vorwürfe gegen unerhörte Verbrechen zu vernehmen, die ihnen selbst unbekannt waren. Eine schlimme Vertrauenskrise zwischen Kirchenvolk und Kirchenhaupt wäre die Folge gewesen.
Die Folgen eines öffentlichen Protestes des Papstes gegen die Judenverfolgung wären fatal gewesen, vor allem für die Juden. Der Papst war mit Recht davon überzeugt, dass eine solche Verurteilung ihnen mehr schaden als nützen werde. In keinem besetzten Lande wurden mehr Juden umgebracht als in Holland, wo der Klerus am lautesten gegen die Judenverfolgung protestierte (79%). Der Papst wusste davon. Nach Schwester Pasqualina (Ich durfte ihm dienen) sagte Pius XII: „Wenn der Brief der holländischen Bischöfe 40 000 Menschenleben kostete, so würde mein Protest vielleicht 200 000 kosten. Das darf und kann ich nicht verantworten.“ Die vorsichtige Haltung des Papstes bei der Verurteilung der Judenverfolgung geschah also im Interesse der Leidenden selbst, in der Absicht, ihre Situation nicht noch schwerer zu machen.
Der Protest wurde unterlassen, um Schlimmeres zu verhüten. Dagegen wird eingewandt, was es hätte noch Schlimmeres geben können als die massenhafte Ermordung von Juden. Darauf ist zu antworten: die Ermordungen von weiteren Hunderttausenden. Genau darauf arbeitete der Vatikan hin: jene zu retten, die noch zu retten waren. Ernst von Weizsäcker, deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl, erklärte damals (1943), dass eine Äußerung des Papstes nur bewirken würde, dass die Abtransporte erst recht durchgeführt werden. „Ich kenne doch die Reaktionen dieser Leute bei uns“ (Albrecht, Notenwechsel II ,1969). Ein lautstarker Protest hätte die Lage der Opfer verschlimmert. 1. Der Papst wollte die bisher verschonten Juden, wie jene in Theresienstadt, die zum strengen Ghetto bestimmt waren, und die in den Arbeitslagern nicht auch noch gefährden. 2. Bisher blieben Ehen zwischen Juden und Nichtjuden bestehen. Nach dem öffentlichen Protest hätte ihre Zwangsscheidung angeordnet werden können. 3. Die Juden, die in Mischehen mit Christen lebten, blieben bisher von Deportation und Ermordung verschont. Sie wären nach einem öffentlichen Protest des Papstes nicht mehr privilegiert gewesen und hätten den Marsch in die Vernichtungslager antreten müssen. 4. Schließlich hätten die gegen die Juden erlassenen Vorschriften auch auf die Mischlinge ausgedehnt werden können. Halbjuden wurden weder deportiert noch in ein Ghetto gesperrt. Ein solcher Mischling, ein Freund von mir, arbeitete bei der Organisation Todt.
Was hätte noch schlimmer werden können? Dass zu der Verfolgung der Juden die Verfolgung der katholischen Christen getreten wäre. Sie kamen in der Verfolgungsliste des Regimes gleich nach den Juden. Die Folgen einer offensiven päpstlichen Stellungnahme zur Verfolgung der Juden für die katholische Kirche in Deutschland waren absehbar. Hier ging es um das Schicksal zahlloser Priester und Gläubigen. Falls der Papst 1942 die Deportation und die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten konkret beschrieben und gegeißelt hätte, dann ist zu fragen, wie viele Priester und Laien ins KZ gesperrt und umgebracht worden wären, wenn sie versucht hätten, diese päpstliche Stellungnahme zu verbreiten. Dem Papst konnte das Schicksal der Juden nicht wichtiger sein als die Verantwortung für seine Kirche. Diese Sicht wird von einsichtigen Juden bestätigt. Der dänische Oberrabbiner Dr. Marcus Melchior meinte, ein Einspruch des Papstes konnte nur bewirken, zu den sechs Millionen toter Juden noch sechs Millionen toter Katholiken hinzuzufügen. Der Hauptankläger in Nürnberg Robert Kempner stellte fest: Jedes propagandistische Auftreten der Kirche gegenüber der Reichsregierung wäre provozierter Selbstmord gewesen. Es liegt das Zeugnis eines Mannes vor, der die Lage und das Verhalten des Papstes aus nächster Nähe erlebt und beobachtet hat. Es ist dies Giovanni Montini, der damals als Substitut im päpstlichen Staatssekretariat an der Seite Pius XII. stand. Er schreibt: „Hätte Pius XII. das getan, was ihm Hochhuth vorwirft, nicht getan zu haben, wäre es zu solchen Repressalien und Ruinen gekommen, dass derselbe Hochhuth nach Kriegsende mit besserer historischer, politischer und moralischer Bewertung ein anderes Drama hätte schreiben können, ein viel realistischeres und interessanteres als jenes von ihm so brav und unglücklich in Szene gesetzte – nämlich das Drama des Stellvertreters, der aus politischem Exhibitionismus oder aus psychologischem Versehen die Schuld hätte, über die schon so sehr gequälte Welt größeres Unheil heraufbeschworen zu haben, nicht so sehr zu seinem eigenen als zum Schaden unzähliger unschuldiger Opfer.“
Häufig wird von denen eine wundergleiche Wirkung päpstlicher Appelle und moralischer Belehrungen in der Zeit des Nationalsozialismus unterstellt, die sich heute solche Verlautbarungen verbitten oder sie ignorieren. Religiöse Moral ist aber nicht beliebig instrumentalisierbar. Es sind die gleichen Prinzipien, aufgrund derer der Nationalsozialismus und der Rassenwahn verurteilt wurden, die heute dazu zwingen, Abtreibung zu verwerfen und auf der Unauflöslichkeit der Ehe zu bestehen. Doch wer kümmert sich um diese Verlautbarungen des Heiligen Stuhls? Die politischen Parteien? Der Deutsche Bundestag? Sie beschließen das gerade Gegenteil der Lehre, welche die Kirche in großer Einsamkeit einer tauben Welt verkündet. Und die eigenen Leute? Die Angehörigen der Papstkirche? Hören sie auf ihr sichtbares Oberhaupt? Millionen katholischer Christen lassen sich vom Papst nicht bewegen, die Abtreibungen einzustellen. In Frankreich über 200 000 jedes Jahr.
Hochhuth geht es in seinem Machwerk nicht darum, eine geschichtliche Gestalt nachzuzeichnen, sondern das Papsttum als moralische Instanz zu erledigen. Das Pamphlet Hochhuths ist eine vom Hass eingegebene Verleumdung einer großen historischen Persönlichkeit. Es ist zur Gänze ungeschichtlich, ein Propagandastück, eine Schmähschrift. Die Figuren in Hochhuths Drama enthüllen nichts weiter, als dass sie wie Hochhuth sprechen. Aber Hochhuth hatte Erfolg. Sein Schmähstück hat das Bild und das Andenken Papst Pius XII. nachhaltig getrübt und verfälscht. Es ist der Kirche nicht gelungen, die Wahrheit über Person und Leistung Pacellis durchzusetzen. Rechtliche Mittel zur Abwehr standen ihr nicht zur Verfügung. Es gibt keinen Schutz einer historischen Person gegen Verunglimpfung und Verleumdung. Niemals hat sich Hochhuth vor einem Gericht verantworten müssen. Die „Kunst“ ist frei, auch für Diffamierung und Schändung. Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ wurde ein enormer Erfolg. Es machte seinen Weg von einem Land in das andere und hielt sich jahrelang auf der Bühne. Er konnte an die weitverbreiteten Ressentiments gegen Katholizismus und Kirche anknüpfen. Er vermochte an die Feindseligkeit anderer Konfessionen gegen die Papstkirche und den Papst zu appellieren. Der angesehene protestantische Theologe Albert Schweitzer, der von vielen wie ein Heiliger verehrt wird, unterstützte die Verbreitung der Schmähschrift Hochhuths. Hochhuth hat viele Nachsprecher und Zustimmer gefunden. Das ist nicht verwunderlich. Immer wenn es gegen die katholische Kirche geht, sammeln sich ihre zahllosen Feinde und fallen über sie her. Die Schmähungen von nichtkatholischer Seite waren begleitet von hämischen und herabziehenden Kommentaren katholischer Autoren. Der Papst, der mit beispielhafter Konsequenz die Glaubens- und Sittenlehre der Kirche vertrat und die Ordnung und Disziplin mit Aufbietung aller Kraft aufrechterhielt, war ihnen schon immer zuwider. Der österreichische Linkskatholik Friedrich Heer bezeichnete ihn nach seinem Tode als den letzten Vertreter eines Systems, das jetzt liquidiert wird. Heute ist es vor allem der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf, der mit erheblichem personellen und finanziellen Aufwand daran arbeitet, das Andenken des großen Papstes zu trüben. Wir Zeitgenossen, die Papst Pius XII. erlebt haben, bewahren aus eigener Kenntnis das Bild eines Stellvertreters Christi, der bis zur Selbstentäußerung Gott und den Menschen gedient hat. Vielleicht kommt einmal eine Zeit, in der Pius XII. Gerechtigkeit widerfahren wird.
Amen.