14. Juni 2020
Der Himmel
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Himmel im naturwissenschaftlichen Sinne ist das scheinbare Gewölbe, das sich über dem Horizont eines Beobachters aufspannt. Dort ziehen die Wolken ihre Bahn, von dort erwarten wir Regen und Sonnenschein. Himmel im religiösen Sinne ist die Wohnstätte Gottes und der Seligen. Dieser Himmel ist für uns Menschen von elementarer Bedeutung. Denn er ist das Ziel, dem wir zustreben. Wenn wir sagen, dass wir in den Himmel kommen möchten, so meinen wir, dass wir zu Gott gelangen wollen. Der Himmel ist die Lebensform der Teilnahme am Leben Gottes. Wenn der Mensch von Selbstsucht und Eigenherrlichkeit völlig frei ist, wird er dieser Lebensform teilhaftig. Der Himmel Gottes ist der Zustand der vollendeten Gottesherrschaft, sie stellt das endgültige Heil dar. Die Frage nach dem Ort des Himmels ist wie folgt zu beantworten. Die Seligen sind von der Raumhaftigkeit und von der Zeithaftigkeit befreit. Doch sind sie infolge ihrer Geschöpflichkeit weiterhin raumgebunden. Sie können nicht überall sein, sondern müssen sich an irgendeiner Stelle befinden. Sie ist uns unbekannt. Es lässt sich im Weltall kein Ort ausmachen, der den Vollendeten vorbehalten ist. Der Himmel Gottes ist nicht lokalisierbar. Er ist eine überempirische Wirklichkeit, ist der Erfahrung nicht zugänglich, ist weder mit Teleskopen auszumachen noch mit Raumschiffen erreichbar. Der Glaube an den Himmel ist daher unabhängig von dem Weltbild und dem Wandel der Weltbilder. Er ist mit jedem Weltbild vereinbar. Denn Gott und Welt sind qualitätsverschieden. Gott kann überall gegenwärtig sein, ohne dass seine Wirklichkeit der Wirklichkeit der Welt im Wege stünde und umgekehrt. Ebenso ist jeder Bereich innerhalb der Schöpfung geeignet, der Begegnung des Menschen mit Gott zugeordnet zu sein. Kein Raum hat einen Vorzug vor einem anderen, keine bestimmte Gestalt der Welt ist hierfür erforderlich. Die Frage, wo ist der Himmel, beantwortet der Satz: Der Himmel ist dort, wo Gott ist und sich den Vollendeten offenbart.
Die Lebensform der vollendeten Gottesgemeinschaft wird grundgelegt in den Tagen der Pilgerschaft. Der Himmel ist die Enthüllung und Ausreifung dessen, was auf der Erde gesät wird, aber bis zum Tode verborgen ist. Die Hoffnung, die wir im irdischen Leben in uns tragen, wird sich erfüllen, wenn wir in den Himmel kommen. Dann ist der Wanderweg zu Ende. Dann ist der Mensch angekommen im Hause des Vaters. Dann ist er in der Heimat. Das Haus des Vaters ist kein flüchtig aufgeführter Bau, der nur vorübergehender Rat dient, sondern bleibende Wohnung für die heimgekehrte Familie der Gotteskinder. In dem festgebauten, für die Ewigkeit gefügten Haus werden sie mit dem himmlischen Vater ein Leben der gemeinschaftlichen Freude führen. Für dieses Leben sind sie von Gott vorherbestimmt. Es ist das Letzte und Höchste, dem sie entgegenpilgern. Darüber hinaus führt kein Weg, weil es darüber hinaus nichts mehr gibt.
Die Getauften und mit Christus Verbundenen tragen das göttliche Leben, die heiligmachende Gnade, in sich. Im Zustand des Himmels erfährt dieses göttliche Leben seine Vollendung. Zwischen dem göttlichen Leben während der irdischen Pilgerschaft und in der unaussprechlichen Gemeinschaft mit Gott besteht ein inniger Zusammenhang und zugleich ein tiefer Unterschied. Der Zusammenhang und die Verschiedenheit lassen sich mit den Worten Aussaat und Ernte, Fremde und Heimat, Zelt und Haus, Verborgenheit und Enthüllung ausdrücken. Gott wirkt die Verwandlung, durch welche die irdische Lebensform zur himmlischen umgestaltet wird. Zusammenhang und Verschiedenheit lassen sich vergleichen mit der Raupe und dem Schmetterling. Der Schmetterling wächst aus der Raupe, die Raupe wird zum Schmetterling. An der Raupe ist nichts zu sehen, was an die Leichtigkeit und die Farbenpracht des Schmetterlings erinnert. Die Verschiedenheit ist größer als die Ähnlichkeit. Darum ist der Himmel für uns ein Geheimnis. Er ist uns in Bildern und Gleichnissen geoffenbart; wir können nur in Bildern und Gleichnissen von ihm reden. Unsere Aussagen vom Himmel gelten nur in einer unähnlichen-ähnlichen Weise wie von irdischen Verhältnissen.
Das Entscheidende an der Verbundenheit zwischen Gott und dem Menschen im Zustand des Himmels ist die unmittelbare Gottesschau. Es ist Glaubenssatz: Die Seligen im Himmel sehen Gott unmittelbar und unverhüllt von Angesicht zu Angesicht. Sie schauen den dreieinigen Gott so, wie er ist, ohne Bild und ohne Vermittlung. Während der Pilgerzeit können wir Gott nur mittelbar erkennen, in den Geschöpfen, nämlich in den Menschen, in den Dingen, in den Ereignissen. Aber sie offenbaren Gott nur in Verhüllungen und Verschleierungen. Die Schleier können sich infolge der Sünde so dicht über die Gottesherrlichkeit legen, dass sich die Frage erheben kann: Wo ist Gott? In Christus ist die Herrlichkeit Gottes so aufgeleuchtet, dass sie gesehen werden konnte. Aber auch von dieser Erscheinung Gottes in der Geschichte gilt, dass sie unter dem Gesetz der Verborgenheit steht. Es bedurfte einer besonderen Sehkraft, um in Christus Gott zu sehen. Johannes konnte schreiben: „Wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ Die Sehkraft, die während der Pilgerschaft für die Schau der Herrlichkeit Gottes in Christus nötig war, ist der von Gott den Menschen eingesenkte Glaube. Von einer derartigen Gottesschau unterscheidet sich die himmlische Gottesschau wesenhaft und grundlegend. Denn sie ist nicht mehr vom Gesetz der Verborgenheit beherrscht. Christus hat die Botschaft gebracht, dass der Vater im Himmel alle Menschen zur Schau seines Antlitzes berufen hat. Gott gewährt dem Menschen die Gnade, ihn zu sehen. Diese Gottesschau ist von Christus nicht als ein Ereignis innerhalb des Pilgerlebens, sondern als die Vollendung nach dem Tode verheißen. Der Mensch muss zuerst die Verwandlung durch den Tod über sich ergehen lassen, bevor er imstande ist, Gott anzuschauen. Die Schau Gottes ist der wesentliche Inhalt des Lebens, das mit dem Tode anhebt. Sie ist die höchste Verheißung des Herrn. Er verkündet: „Selig die Herzensreinen, denn sie werden Gott anschauen.“ Die Lauteren werden Gott nicht mehr in einem Sinnbild, in einem Zeichen, in einer Erscheinung oder in einer Machttat, sondern in seinem eigenen Selbst sehen. Zwischen den anschauenden Menschen und den angeschauten Gott schiebt sich kein Bild mehr. Im Zustand des Himmels wird dem Menschen gewährt, was die Engel immer vollziehen: Sie schauen das Antlitz des Vaters. Wenn dieser Zustand eintritt, hat der Glaube, das Ja zu dem Verborgenen, ein Ende.
Die Schau Gottes geschieht nicht mit den leiblichen Augen, sondern mit dem Geist. Sie ist liebender Blick in das entschleierte Antlitz Gottes. Sie kommt nur dadurch zustande, dass Gott sein Antlitz enthüllt. Sie ist daher Begegnung des Menschen mit Gott. Gott und Mensch versenken sich ineinander zur innersten Verbundenheit der Liebe. Die Gottesschau bedeutet eine Vereinigung zwischen Gott und Mensch. Die Gottesschau ist ein vom Erkennen durchleuchteter Akt der Liebe und ein von der Liebe durchglühter Akt des Erkennens. Zu der unmittelbaren Schau Gottes wird der Mensch nur fähig, wenn Gott selbst ihm eine neue Sehfähigkeit und Liebeskraft schenkt. Diese Sehfähigkeit und Liebeskraft heißt das Licht der Herrlichkeit (lumen gloriae). Gott gestaltet die menschliche Sehkraft und Liebesfähigkeit um; er gewährt dem Menschen Anteil an seiner eigenen Sehkraft und Liebesfähigkeit. Der „Gegenstand“ der Gottesschau ist erstlich Gott, der Eine und Dreieinige, sein Wesen, seine Wesensvollkommenheiten, die göttlichen Personen. Gott gestattet dem Menschen einen Einblick in das Geheimnis seines Selbst. Sekundärer Gegenstand der Gottesschau ist die Schöpfung.
So innig die Gemeinschaft zwischen Gott und dem vollendeten Menschen auch ist, so fallen auch im Himmel Gott und Mensch nicht zu einer unterschiedslosen Seinseinheit zusammen. Gott bleibt der Herr, der Mensch bleibt Geschöpf. Daher ist Gott auch für den Menschen im Zustand des Himmels ein unbegreifliches Geheimnis. Der Mensch sieht Gott unmittelbar, aber er durchdringt ihn nicht, er durchschaut ihn nicht. Sein Blick auf Gott ist ein Blick in das Geheimnis. Die Unbegreiflichkeit Gottes kann für das Geschöpf nie, auch nicht im Zustand des Himmels, aufgehoben werden. Sie bildet keine ewige Tragik. Gerade das empfindet der Vollendete als Glück, dass es Gott, den Unbegreiflichen, gibt. Das ewige Mysterium Gottes ist ewige Seligkeit. Auch der Selige des Himmels erlebt Gott als den Weltüberlegenen, als den Heiligen und als den Herrn. Er begegnet Gott auch im Zustand des Himmels in der Haltung der Anbetung. Die Liebe, mit der er Gott umfängt, ist von der Anbetung durchglüht. Der Himmel ist die beglückt vollzogene ewige Anbetung Gottes.
Der Himmel ist Gemeinschaft mit Christus. Die Existenz des christusgläubigen Menschen ist dadurch gekennzeichnet, dass er „in Christus“ lebt und Christus „in ihm“. Das „Insein“ Christi im Menschen und dessen „Insein“ in Christus bedeutet nicht eine räumliche, sondern eine dynamische Gegenwart Christi. Der Gerechtfertigte wird von Christus durchherrscht. Er lebt unter der Wirkmacht des verklärten Herrn. Der Gemeinschaft mit Christus wird der christusverbundene Mensch im Glauben inne, nicht im Schauen. Christus ist ihm nahe. Aber er sieht ihn nicht. Im Gegensatz hierzu besteht das Leben des Himmels darin, dass der mit Christus Verbundene den Herrn unmittelbar sieht und sich seiner Vereinigung mit ihm unmittelbar bewusst ist. Der Vollendete des Himmels schaut Christus ins Antlitz, demjenigen, der das Gesetz seines Lebens war. Mit dem er den Kelch des Leidens getrunken, dem er sich in Gehorsam und Vertrauen überantwortet hatte, ohne ihn je von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Das Zusammensein mit Christus ist der Inbegriff von Vollendung und Seligkeit. Wo er ist, da ist das Paradies. Im Himmel sein heißt bei Christus sein. Allzeit beim Herrn zu sein ist für Paulus das höchste Ziel der Sehnsucht. Das irdische Leben des Christgläubigen ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch von Christus durchherrscht wird. Im Himmel ist die vollkommene Herrschaft Christi verwirklicht. Sie bedeutet Überlegenheit über Sünde und Tod, Leid und Vergänglichkeit, Sättigung mit Wahrheit und Freude, Liebe und Herrlichkeit. Das himmlische Leben bringt Teilnahme an der Herrschaft Christi. Der vollendete Mensch im Himmel erkennt Christus unmittelbar als das Brot und das Leben, als das Licht und die Wahrheit.
Der Himmel bedeutet die höchste Vollendung des Menschen. Der Himmel ist die letztmögliche Erfüllung der menschlichen Seinsneigung zu Gott hin. Der Himmel ist die Ernte seines Lebens. Der Himmel ist die höchste Verwirklichung des menschlichen Wesens. Gott erfüllt den Seligen, indem er ihn über alle seine natürlichen Möglichkeiten hinaus an sich zieht. Aus der Vollendung des menschlichen Wesens und der Erfüllung aller Lebenssehnsucht strömt eine ungeahnte Seligkeit. Religiös-sittliche Vollendung und höchstes Glück sind im Zustand des Himmels endgültig auf das innigste miteinander verbunden. Es ist Glaubenssatz: Den von jeder Schuld und Strafe gereinigten Menschen wird eine vollkommene übernatürliche Seligkeit zuteil. In den Seligpreisungen verkündet Christus, dass es im jenseitigen Leben keinen Hunger und keine Träne mehr geben wird. Die hier hungern, werden dort gesättigt werden, die hier weinen, werden dort lachen. Sie leben in der Freude über ihr endgültiges Heil. Der Vollendete nimmt am ewigen Leben Gottes teil. Er steht im Lichte und in der Liebe. Das himmlische Leben ist Teilnahme am Herlichkeitsleben Gottes, an der Fülle des Gottesgeistes, an dem Auferstehungsleben Christi. Es ist ein Leben des Reichtums und der Unvergänglichkeit, der Kraft und der Heiligkeit. Das ewige Leben ist höchste, von Gott gewirkte Aktivität des Menschen. Die Teilnahme am dreipersönlichen Lebensaustausch des Vaters, des Sohnes und des Geistes bedeutet lebendigstes Erkennen und innigste Liebe. Das ewige Leben übertrifft das irdische Leben an Lebendigkeit. Wenn wir den Himmel die ewige Ruhe nennen, so ist damit keine tötende Ruhe der Untätigkeit gemeint. Der Himmel ist höchstes Tun, aber es vollzieht sich mühelos, ohne Anstrengung, ohne Erschlaffung. In diesem Sinne ist er Ruhe. Den Vollendeten fehlt nichts mehr. Sie sind nicht auf der Suche oder im Ausgreifen nach dem ersehnten Glück. Sie besitzen alles, was sie begehren können und wollen. Die unmittelbare Gottesschau und die in ihr gründende Seligkeit wird nie ein Ende nehmen. Im Seligen kann keine Furcht aufkommen, dass er jemals verliert, was er besitzt. Er ist der Freundschaft Gottes über jeden Zweifel und für immer sicher.
Der Himmel ist keine Illusion. Er ist eine Wirklichkeit. Der Garant für seine Existenz ist der Offenbarer Jesus Christus. Er ist aus der Welt Gottes gekommen und in sie zurückgekehrt. Es ist apodiktisch gewiss, dass niemals ein Mensch auftreten wird, der die Nichtexistenz Gottes und des künftigen Lebens mit dem mindesten Scheine, geschweige dogmatisch, behaupten könne. Wir dürfen ohne Sorge sein. Unser Herr und Heiland täuscht und betrügt uns nicht. Er erfüllt, was er verheißt. Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben.
Amen.