31. Mai 2020
Der Heilige Geist I
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist die dritte göttliche Person, daher Gott selbst. Die drei göttlichen Personen haben die Wesenheit, die Eigenschaften und die Werke gemeinsam. Daher sind sie nicht drei Götter, sondern nur ein Gott. Der Vater ist also wohl ein Anderer als der Sohn und der Heilige Geist, weil er als Person verschieden ist. Aber er ist nicht etwas Anderes, weil er keine andere Wesenheit hat. Daher ist die eine Person ebenso ewig, allwissend, allmächtig und vollkommen wie die andere. Daher ist die Schöpfung der Welt und die Erlösung und die Heiligung der Menschheit von allen drei Personen gemeinschaftlich vollbracht worden. Nur durch Appropriation (Zueignung) können Tätigkeiten nach außen einer bestimmten Person zugeteilt werden. Attribute und Tätigkeiten werden einer einzelnen bestimmten Person zugeeignet wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem, was dieser Person rücksichtlich ihres Ursprungs eigentümlich ist. So wird die Allmacht und die Schöpfung dem Vater zugeeignet. Wir wollen uns heute, am Fest der Geistausgießung, fragen, welches die dem Heiligen Geist eigentümliche Tätigkeit ist. Die Antwort lautet: Der Heilige Geist teilt die Gnaden aus, die Christus durch sein Kreuzesopfer verdient hat. Er bringt also nichts Neues hervor, sondern bewirkt nur, dass das, was der Sohn angefangen hat, gedeihe und vollende. Gnade ist eine Wohltat, die man jemandem erweist, ohne sie ihm irgendwie schuldig zu sein. Gott erweist uns viele Wohltaten ohne unsere Verdienste, also aus reiner Barmherzigkeit. Die Wohltaten Gottes dienen entweder zu unserem irdischen Wohl, wie z.B. Gesundheit, Vermögen, gutes Gedächtnis, oder sie dienen zu unserem ewigen Wohl, wie z.B. Sündenvergebung. Von den letzteren Gnaden ist hier die Rede. Sie hat uns Christus am Kreuze verdient.
Der Heilige Geist wirkt oft in unserem Leben auf uns ein, indem er unseren Verstand erleuchtet und unseren Willen stärkt. Solche vorübergehenden Einwirkungen des Heiligen Geistes heißen einwirkende Gnaden oder göttliche Einsprechungen und Impulse. Am Pfingsttage wirkte der Heilige Geist auf die Apostel ein. Er erleuchtete ihren Verstand und stärkte ihren Willen. Vorher waren sie unwissend und von langsamer Fassungskraft, seit dem Pfingsttage aber wussten sie Bescheid über die göttlichen Gegenstände. Vorher waren sie furchtsam und versammelten sich hinter verschlossenen Türen, seit dem Pfingstfest waren sie unerschrocken und mutig. Ähnliche Gnaden spendet Gott uns unentwegt. Der Mensch kann mit der einwirkenden Gnade mitwirken oder ihr widerstehen. Dem Rufe Gottes beistimmen oder nicht, ist Sache des eigenen Willens. Gott achtet die Freiheit des Menschen. Er zerstört sie auch dann nicht, wenn sie der Mensch zu seinem Verderben gebraucht. Die Leute, die am Pfingstfest die Apostel verspotteten und sie als betrunken ausgaben, widerstanden der Gnade. Wer sich der einwirkenden Gnade beständig widersetzt, begeht eine schwere Sünde gegen den Heiligen Geist. Wer mit der einwirkenden Gnade mitwirkt, erlangt größere Gnaden. Wer ihr widersteht, verliert alle übrigen Gnaden. Je größer die einwirkenden Gnaden waren, die ein Mensch empfing, umso größer wird die einstige Verantwortung sein. Christus sagt: „Von dem, dem viel gegeben worden ist, wird viel gefordert werden“ (Lk 12,48). Der Heilige Geist teilt den Einzelnen aus, wie er will, aber auch je nach der Empfänglichkeit, der Vorbereitung und der Mitwirkung des Einzelnen. Sehr wirksam ist das Gebet zum Heiligen Geist. Denn der Vater im Himmel gibt den guten Geist denen, die ihn darum bitten (Lk 11,43).
Wenn der Sünder mit der einwirkenden Gnade mitwirkt, kehrt der Heilige Geist in seine Seele ein. Er verleiht ihr Glanz und Schönheit, wodurch sie die Freundschaft Gottes erlangt. Diese bleibende Schönheit der Seele infolge des ihr innewohnenden Heiligen Geistes heißt heiligmachende Gnade. Die heiligmachende Gnade ist eine neue bleibende Beschaffenheit. Wer in den Zustand der Gnade tritt, verändert sich in geistiger Weise. Die heiligmachende Gnade ist nicht eine bloße Gunst Gottes, wie Luther meinte, sondern Gott gibt uns von seinem Geiste. Der Heilige Geist ist nicht etwa nur so in uns wie die Sonne im Zimmer, sondern er durchdringt uns wie ein Feuer. Wir sind im Zustand der heiligmachenden Gnade nicht bloß Gottes Diener, sondern seine Freunde. Das Wort Freund schließt eine gewisse Gleichheit in sich. Die Erhebung aus dem Zustand der Sünde in den der Freundschaft Gottes wird auch genannt Rechtfertigung, Wiedergeburt, Ausziehen des alten und Anziehen des neuen Menschen.
Wenn der Heilige Geist in uns einkehrt, teilt er uns das wahre Leben der Seele mit. Unsere Seele hat zwar ein Leben; sie belebt den Körper, und vermöge ihrer Vernunft und ihres freien Willens vermag sie das Wahre, Schöne und Gute zu erkennen und zu lieben. Aber das natürliche Leben der Seele ist – mit dem Leben Gottes verglichen – mehr Tod als Leben. Dieses Leben Gottes erlangt die Seele, wenn der Heilige Geist mit seiner Gnade in sie einkehrt: Sie wird befähigt, Gott selbst in seiner Herrlichkeit zu erkennen, zu lieben und zu genießen. Dieses göttliche Leben der Seele heißt: das übernatürliche. Dadurch wird in unserer Seele der Keim des ewigen Lebens gelegt. Die Gnade wird in uns zu einer Quelle, die ins ewige Leben hinübersprudelt, d.h. die für die ganze Ewigkeit belebende Kraft hat. Mit Recht heißt der Heilige Geist Lebendigmacher. Einst machte der Prophet Eliseus den toten Sohn der gastfreundlichen Frau zu Sunam wieder lebendig, indem er sich über den Leichnam hin ausstreckte, seinen Mund an den Mund des Kindes, seine Augen an die Augen des Kindes, seine Hände an die Hände des Kindes legte. Geradeso erweckt der Heilige Geist durch seine Gnade unsere Seele zum eigentlichen, göttlichen Leben: Er neigt sich über sein Ebenbild, die Seele hin, legt seinen Mund auf unsern und haucht uns seinen Geist ein. Er vereint seine Augen mit den unsern, d.h. er gibt uns seine Erkenntnis; er verbindet seine Hand mit der unsern, d.h. er teilt uns seine göttliche Kraft mit. Auf diese Weise wird unsere Seele zu einem neuen Leben wiedergeboren. Die Seele lebt nun in Gott und Gott lebt in ihr.
Die Hilfe des Heiligen Geistes ist uns zur Seligkeit unbedingt notwendig. Durch seine natürlichen Kräfte kann der Mensch die ewige Seligkeit nicht erlangen. Der Heilige Geist muss ihm seine Gnade verleihen. Durch diese wird er übermenschlich stark und fähig, sein höchstes Ziel zu erreichen. Wie das Auge weit entfernte Gegenstände nicht schauen kann, sondern des Fernrohres bedarf; und wie der Arm schwere Lasten nicht heben kann, sondern des Hebels bedarf, so bedürfen die natürlichen Kräfte des Geistes, Verstand und Wille, der übernatürlichen Hilfe, um die Seligkeit zu erlangen. Diese Hilfe ist die Gnade des Heiligen Geistes. Sie ist für den Geist dasselbe, was das Fernrohr für das Auge, der Hebel für den Arm. Wegen dieses Zusammenhangs sagt Christus: „Wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Heiligen Geiste, kann er in das Reich Gottes nicht eingehen“ (Joh 3,5). Ohne Schiff kann man nicht über das Meer segeln, ohne den Heiligen Geist kann man nicht in den himmlischen Hafen gelangen, sagt der heilige Marcarius. Wir können sogar ohne die Hilfe des Heiligen Geistes nicht das geringste verdienstliche Werk verrichten. Wir vermögen nichts ohne Gottes Beistand. „Unsere Tüchtigkeit ist aus Gott“ (2 Kor 3,5). Jedes gute Werk wird vom Heiligen Geiste und von unserem freien Willen gemeinschaftlich vollbracht (1 Kor 15,10). Daher können wir das Verdienst unserer guten Werke nie uns selbst zuschreiben. Mit der Hilfe des Heiligen Geistes können wir das schwerste Werk vollbringen. Daher sagt der Apostel Paulus: „Ich vermag alles in dem, der mich stärkt“ (Phil 4,13). Besaßen etwa die Apostel von sich aus die erforderlichen Eigenschaften, die Welt zu bekehren? Gewiss nicht; aber der Heilige Geist befähigte sie. Vertrauen wir auf den Heiligen Geist. Rufen wir zum Heiligen Geist. Leben wir aus dem Heiligen Geist. „Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, sind Kinder Gottes.“ Können wir mehr sein wollen?
Amen.