16. Februar 2020
Die Reue
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Eine der wichtigsten Einrichtungen und Übungen unserer Religion ist die Reue. Reue ist der Schmerz der Seele über die begangene Sünde und Abscheu vor der Sünde, samt dem Vorsatz, nicht mehr zu sündigen. Der Schmerz der Seele ist die Betrübnis über die begangene Sünde, der Unwille über die eigene böse Handlung. Der Abscheu ist das geistige Missfallen der Sünde, der Widerwillen, der Ekel. Der Abscheu richtet sich nicht nur auf die begangene Sünde, sondern auf jede Sünde: auf vergangene und zukünftige Sünden. Der Schmerz über das frühere Leben treibt von selbst zum Entschluss der künftigen Besserungen. Der Abscheu vor der Sünde enthält bereits den Vorsatz, künftige Sünden zu meiden. Die Reue schließt die Abwendung von der Sünde und die Hinwendung zu Christus in sich. Sie ist eine Selbstverurteilung, ein Bekenntnis zu dem in Christus sich offenbarenden heiligen Gott. Das Entscheidende ist die sittliche, willentliche Abkehr von der Sünde und die Hinkehr zu Christus. Die Gemütsbewegung kann fehlen. Der Mensch kann zwar durch die Reue die begangene Handlung nicht ungeschehen machen, aber er kann von ihrer Schuldhaftigkeit befreit werden. Gott hat verheißen, die Schuld zu tilgen, wenn er die Reue des Menschen für genügend befindet. Da gilt es einem Missverständnis zu wehren. Es ist nicht so, dass die Reue unmittelbar die Sünde vernichtet; das wäre ja Selbsterlösung. Nein, so ist es nicht. Eine Selbsterlösung ist ausgeschlossen. Es gibt immer nur eine Fremderlösung durch unseren Erlöser Jesus Christus. Also nicht die Reue tilgt die Sünde, sondern Gott vergibt aufgrund der Reue die Sünde. Die Reue ist für den persönlichen Sünder zur Vergebung unbedingt notwendig mit der Notwendigkeit des Gebotes und mit der Notwendigkeit des Mittels. Gott vergibt die Sünde nicht ohne die Reue.
Die gültige Reue hat bestimmte Eigenschaften. Erstens: Sie muss innerlich sein, also aus dem Herzen kommen. Sie muss das Herz ergreifen. Sie will Sinnesänderung, Tat des guten Willens sein. Zweitens: Die Reue muss über alles groß sein. Sie muss der Bewertung nach – der Bewertung nach! – die Sünde als das größte Übel verurteilen und bedauern. Wenn man bedenkt, dass sie ein Angriff gegen die Würde und Hoheit Gottes ist, dann versteht man auch, dass man nur mit einer über alles großen Reue vor Gott erscheinen darf. Drittens: Die Reue muss allgemein sein, d.h. sie muss sich auf alle begangenen Todsünden erstrecken. Diese weisen ja im Wesentlichen den gleichen Gegensatz zu Gott auf. Die Bereuung der einzelnen Sünden ist nicht gefordert. Die im Allgemeinen erweckte Reue, die aus allgemeinen Beweggründen hervorgehende Reue richtet sich faktisch gegen alle, auch die etwa vergessenen Todsünden. Die Reue muss, viertens, übernatürlich sein, d.h. sie muss aus der Gnade Gottes hervorgehen und ihrem Beweggrund nach geeignet sein, dem übernatürlichen Zweck der Buße, nämlich der Aussöhnung mit Gott, zu dienen. Übernatürlich ist diejenige Reue, die nicht aus Rücksicht auf irdischen Nutzen oder Schaden, sondern aus den höheren Beweggründen der Religion und der Sittlichkeit hervorgeht.
Wir unterscheiden vollkommene und unvollkommene Reue. Vollkommene und unvollkommene Reue haben etwas gemeinsam, nämlich die Abwendung von der Sünde. In dieser Hinsicht, in der Distanzierung von der Sünde, besteht kein Unterschied zwischen den beiden Arten der Reue. Sowohl vollkommene wie unvollkommene Reue sind, wenn sie überhaupt Reue sind, entgegengesetzt in gleichem Maße der Sünde. Der Unterschied zwischen vollkommener und unvollkommener Reue besteht im Motiv, im Beweggrund. Vollkommen heißt jene Reue, deren Motiv Gott selber ist, insofern er mit der theologischen Tugend der Liebe geliebt wird. „Dich liebt, o Gott, mein ganzes Herz, und dies ist mir der größte Schmerz, dass ich erzürnt dich, höchstes Gut. Ach, wasch mich rein mit deinem Blut!“ Unvollkommen ist jene Reue, in der der Mensch die Sünde bedauert, weil sie ihn von Gott trennt, weil sie ihm den Verlust der göttlichen Liebe und Lebensfülle einträgt. Die vollkommene Reue tilgt schon vor dem Empfang des Bußsakramentes die Sünden. Ja, ich spreche noch einmal diesen gewichtigen und leicht missverständlichen Satz aus: Die vollkommene Reue tilgt schon vor dem Empfang des Bußsakramentes die Sünden. Wo Gott in der Seele eines Sünders die vollkommene Reue sieht, vergibt er augenblicklich die Sünden. Das bedeutet: Jede vollkommene Liebe rechtfertigt schon vor dem Empfang des Bußsakramentes. Das ist eine wunderbare Wahrheit, eine oft vergessene Wahrheit, eine vielleicht auch manchmal unterschlagene Wahrheit. Ja, so ist es: Die vollkommene Liebe rechtfertigt schon vor dem Empfang des Sakramentes. Sie hat diese Wirkung aber nicht ohne das in ihr eingeschlossene Verlangen nach dem Sakrament. Dieses begreift sie wesenhaft und notwendig in sich. Selbstverständlich muss es so sein. Das Ja zu Gott umschließt ja die Bereitschaft, seinen Willen zu erfüllen, und dieser Wille verlangt eben den Empfang des Bußsakramentes. Die Bereitschaft, in die von Christus eingesetzte Form der Buße einzugehen, ist in der vollkommenen Reue eingeschlossen. Gott hat das Bußsakrament als den normalen Weg bestimmt, auf dem der Getaufte von der Sünde frei werden soll. Die vollkommene Reue ist daher wesenhaft auf das Bußsakrament hingerichtet, auch wenn der Vorsatz, das Sakrament zu empfangen, nicht ausdrücklich erweckt wird wird; es darf nur kein gegenteiliger Willensentschluss gefasst werden. Also, das müssen wir uns merken, meine lieben Freunde: Die vollkommene Reue lebt in der sakramentalen Ordnung. Sie ist in ihrem Wesen durch ihre Beziehung zum Bußsakrament geprägt. Die vollkommene Reue ist gewissermaßen eine Begierdebeicht. Wenn die Sünde vor dem Empfang des Bußsakramentes aufgrund der dem Sakramentenempfang vorausgehenden Reue nachgelassen wird, wirkt die kirchliche Absolution voraus.
Wir haben gelernt, dass wir zur heiligen Kommunion nur gehen dürfen, wenn wir von schwerer Sünde frei sind. Das ist ein eherner Grundsatz; er ist unaufgebbar. Nun aber kann es in Ausnahmefällen genügen, ohne Empfang des Bußsakramentes, nur aufgrund der vollkommenen Reue, zum Altare des Herrn hinzutreten. Ich benenne zwei Beispiele: Nehmen wir einmal an, es besteht die Notwendigkeit, die heilige Kommunion zu empfangen, aber es besteht keine Möglichkeit zum Empfang des Bußsakramentes. Ja, was tut man dann? Eine solche Notwendigkeit kann bestehen für einen Priester, der die heilige Messe feiern muss und eine Todsünde begangen hat. Eine solche Notwendigkeit kann bestehen für einen Laien, der die Hostien vor sakrilegischer Misshandlung schützen will. Dem Priester schreibt die Kirche in diesem Falle vor, sobald wie möglich das Bußsakrament zu empfangen. Also auch in diesem Falle bleibt die Verpflichtung bestehen, die schweren Sünden baldmöglichst dem Bußgericht zu unterbreiten.
Die unvollkommene Reue rechtfertigt nicht ohne den wirklichen Empfang des Bußsakramentes. Die unvollkommene Reue genügt zum Empfang des Bußsakramentes, aber sie rechtfertigt nicht ohne den Empfang des Sakramentes. Der innere Grund für die Heilskraft der unvollkommenen Reue beim Bußsakrament liegt darin, dass das Bußsakrament aufgrund des gesetzten Zeichens die Sündenvergebung wirkt, sobald der Mensch das Hindernis für das Einströmen des göttlichen Lebens, die Anhänglichkeit an die Sünde, beseitigt hat. Das ist eben der Fall bei der unvollkommenen Reue. Die unvollkommene Reue beseitigt die Anhänglichkeit an die Sünde. Sie distanziert sich von der Sünde genauso wie die vollkommene Reue. Durch die unvollkommene Reue wendet sich der Mensch von der Sünde ab. Merken wir also noch einmal: Die unvollkommene Reue ist hinreichende Disposition zum fruchtbaren Empfang des Bußsakramentes. Reue, Bekenntnis und Genugtuung gehören innerlich zu den konstituierenden Elementen des wirksamen sakramentalen Zeichens.
In jeder wahren Reue, meine Freunde, ist der Vorsatz, die Sünde zu meiden, eingeschlossen – das nennt man den virtuellen Vorsatz, den Vorsatz, der der Kraft nach schon in der Abwendung von der Sünde enthalten ist. Der Vorsatz ruht in der Kraft der Reue. Empfehlenswert oder sogar notwendig ist ein ausdrücklicher Vorsatz: Ich will diese, diese besondere Sünde, diese besonders peinliche Sünde, die will ich ganz besonders und vor allen anderen meiden. Der Vorsatz muss bestimmte Eigenschaften haben. Erstens: Er muss allgemein sein. D.h. er muss sich auf alle Todsünden, und zwar nicht nur auf früher begangene, sondern auch künftig zu begehende erstrecken. Vielfach ist auch ein spezieller Vorsatz gegen bestimmte Sünden notwendig. Zweitens: Der Vorsatz muss fest sein. D.h. der gegenwärtige Wille muss entschlossen sein, die Sünde unbedingt zu meiden. Da erhebt sich aber eine Schwierigkeit. Denn wenn wir beichten gehen und uns die Lossprechung geben lassen, ahnen wir, fürchten wir, dass wir wiederkommen müssen, weil wir wieder gesündigt haben. Ja, ist der Rückfall nicht ein Beweis, dass der Wille, die Sünde zu meiden, gefehlt hat? Nein. Es ist der Rückfall oft nur ein Zeichen, dass der menschliche Wille schwach ist und sich ändern kann. Die Ernsthaftigkeit des jetzigen Wollens ist mit der Mutmaßung oder mit der Befürchtung der künftigen Untreue vereinbar. Drittens: Der Wille muss praktisch wirksam sein. D.h. er muss nicht nur auf das Ziel, die Sünde zu meiden, sondern auch auf die Mittel, die notwendig sind, es zu erreichen, gerichtet sein. Wer es ablehnt, sich vorzunehmen, die Mittel zu gebrauchen, ohne die die Sünde nicht vermieden werden kann, hat keinen geeigneten Vorsatz. Ebenso fehlt es am hinreichenden Vorsatz, wenn jemand sich weigert, die Gelegenheit zur Sünde zu meiden. Wer die Gelegenheit zur Sünde nicht meidet, zeigt damit an, dass er die Sünde nicht meiden will.
Meine lieben Freunde, die Reue, ihre Möglichkeit, ihre Wirklichkeit ist ein hervorragendes Geschenk Gottes an die sündigende Menschheit. Wer das Unglück hat, in eine schwere Sünde zu fallen, ist nicht verloren. Er ist gefallen, aber er vermag sich wieder zu erheben. Gott gibt ihm die aktuelle Gnade, die helfende Gnade, seine Sünde zu erkennen, ihren Unwert zu durchschauen, sich mit Schmerz und Abscheu von ihr abzuwenden, sich Gott in Scham und Vertrauen zuzuwenden, ihn um Vergebung und Nachlass zu bitten. Der gläubige Christ kann gewiss sein, aufgrund dieser inneren Haltung vergibt ihm Gott die Sünden. Wer also das Unglück hat, in eine schwere Sünde zu fallen, braucht nicht zu warten, bis er Gelegenheit hat, das Bußsakrament zu empfangen. Nein, hier und jetzt, wenn er die erwähnte Gesinnung und Haltung einnimmt, kann er von der Sünde frei werden und in den Stand der Gottesfreundschaft zurückkehren durch das große Geschenk der vollkommenen Reue. Die Männer, die 1944 versuchten, das Schicksal Deutschlands zu wenden, die also am Attentat gegen Hitler beteiligt waren, durften keinen Seelsorger vor ihrer Hinrichtung empfangen. Es war ihnen verboten, einen Priester kommen zu lassen; sie konnten also das Bußsakrament nicht empfangen. Waren sie verlassen? O nein. Durch das große Geschenk der vollkommenen Reue konnten sie gerettet werden, konnten sie sich selbst durch Gottes Gnade retten lassen. Einer der Verurteilten, Max Ulrich Graf von Drechsel, der am 4. September 1944 hingerichtet wurde, schrieb in seinem letzten Briefe: „Gott hat mir die Gnade der vollkommenen Reue gegeben. Voll Vertrauen zu ihm, dem allgütigen Richter, trete ich jetzt meinen letzten Weg an.“
Amen.