9. Dezember 2018
Die Erbsünde
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Sünde des ersten Menschen hat allgeschichtliche Tragweite. In der einmaligen Tat vollzieht sich das Geheimnis der Menschheitssünde. Die Sünde war zwar das persönliche Tun der beiden ersten Menschen, aber sie vollzogen die Abwendung von Gott in der menschlichen Natur. Das menschliche Geschlecht existierte zur Zeit der Sünde bloß in Adam und Eva. Indem sie sich gegen Gott entschieden, entschied sich das ganze Menschengeschlecht gegen Gott. So wurde die ganze menschliche Natur in den Abfall hineingezogen. Sie existierte fernerhin im Zustand des Abgefallenseins. Dieser Zustand begleitet die Menschheit für alle Zeiten. Wir nennen diesen Zustand Erbsünde. Die angelsächsischen und romanischen Völker sprechen von Ursprungssünde – peccatum originale, und das ist genauer. Von der Erbsünde wusste sogar ein so kirchenfremder Mann wie unser Dichter Goethe: „Reichte die schädliche Frucht einst Mutter Eva dem Gatten. Ach! vom törichten Biss kränkelt das ganze Geschlecht.“ – vom törichten Biss kränkelt das ganze Geschlecht. Es gibt eine Erbsünde, d.h. eine Sünde, welche von Adam auf alle seine Nachkommen – Maria ausgenommen – übergegangen ist. Die Erbsünde ist eine wahre Sünde, wenn auch keine sündige Tat, so doch ein sündhafter Zustand. Erbsünde ist der gottwidrige schuldhafte Zustand, in dem alle Menschen nach heilsgeschichtlicher Ordnung wegen der Ursünde ihres Stammvaters und Hauptes Adam geboren werden. Erbsünde ist der Zustand, in dem der Mensch nicht in Heiligkeit und Gerechtigkeit existiert und nicht am Leben und an der Herrlichkeit des dreipersönlichen Gott teilnimmt. Es fehlt ihm die übernatürliche Verbundenheit mit Gott. Es fehlt ihm die heiligmachende Gnade. Weil es die Bestimmung Gottes ist, dass der Mensch in übernatürlicher Weise mit ihm verbunden sein soll, deswegen ist der Mangel der göttlichen Gnade sündhaft, widerspricht Gottes Willen. Die Erbsünde ist der Zustand gottfreien, gottlosen Daseins, ohne das übernatürliche göttliche Leben.
Die Erbsünde besteht formaliter in dem schuldhaften Mangel der heiligmachenden Gnade. Sie besteht materialiter in der ungeordneten Begierde, der Konkupiszenz. Die ungeordnete Begierde ist das ungeordnete Streben nach sinnlichen Genüssen, ist also böse Begierlichkeit. Ungeordnet ist die Begierlichkeit, weil sie sich auch gegen die sittliche Ordnung behauptet. Die Begierlichkeit hat ihren Sitz im sinnlichen Teil des Menschen, im Besonderen in der Geschlechtssphäre. Mir sagte einmal eine gute, fromme Dame: „Das ist eine furchtbare Sache, das ist ein furchtbarer Trieb“ – ja, das ist es in der Tat, es ist ein furchtbarer Trieb. Ein ganz erheblicher Teil von Blut und Tränen auf dieser Welt geht zurück auf den Missbrauch dieses Triebes. Man unterscheidet die zuvorkommende und die nachfolgende Begierlichkeit, je nachdem sie dem freien Vernunft- und Willensgebrauch zuvorkommt oder vom freien Willen hervorgerufen und gefördert wird. Ich habe allen, die mir Anwürfe gegen den Zölibat vorgebracht haben, gesagt: Der Trieb wird so stark, wie man ihn werden lässt! Er ist kein Verhängnis, dem man wehrlos ausgeliefert ist. Grundlage für die theologische Lehre von der Begierlichkeit bilden Paulus und Augustinus. Bei Paulus bedeutet die Begierlichkeit bald die sinnliche, schlechte Begierde, bald die schlechte Begierde überhaupt, wobei allerdings die sinnlichen Begierden vorwalten. Konkupiszenz ist bei ihm die Verderbtheit unserer intellektuellen und sensitiven Natur, der Hang zum Bösen; nitimur in vetitum – wir neigen zum Verbotenen. Nach Augustinus ist die Begierlichkeit böse, aber nicht Sünde im eigentlichen Sinn. Sie ist Sündenfolge und Sündenwurzel. Sie bleibt auch im Gerechtfertigten als das objektiv Verkehrte, materiell der sittlichen Ordnung Widerstrebende. Nach Thomas von Aquin – und seine Lehre ist eigentlich für die Kirche maßgebend geblieben, weil sie richtig ist – ist die böse Begierlichkeit nicht Sünde, sondern Stoff für die Ausbildung von Tugenden. Sie ist uns zum Kampf überlassen, damit wir mit ihr ringen und sie niederringen. So hat es auch das Konzil von Trient definiert: „In den Getauften bleibt die Begierlichkeit oder der Zündstoff zurück.“ Die Begierlichkeit ist für den Kampf zurückgelassen. Sie ist nicht Sünde, aber sie stammt aus der Sünde und sie macht geneigt zur Sünde. Denen, die nicht zustimmen, kann sie nichts anhaben. Die so verstandene Erbsünde muss abgegrenzt werden von falschen Vorstellungen. Der Erbsünde widerspricht jede Vorstellung, welche in ihr mehr als einen Mangel oder weniger als einen Mangel sieht. Durch die erste Überspitzung fehlen diejenigen, welche in der Erbsünde einen bösen, dem Menschen eingesenkten Sündenkeim, eine Art Giftstoff sehen. Danach läge die Sünde nicht in einem Mangel der in ihrem Wesenskern guten menschlichen Natur, sondern die Natur wäre als solche verderbt. Genau das ist die Ansicht von Luther. Luther sieht in der Erbsünde die völlige Verderbnis des natürlichen Menschen. Sie ist nach ihm wahre und eigentliche Sünde und gehört zur Natur des Menschen, ist also sein Wesensbestand. Sie bleibt auch im Getauften als wahre und eigentliche Sünde, sie wird nur nicht angerechnet. Diese Lehre ist grundfalsch. Fehlt diese Vorstellung durch ein Übermaß, so fehlen andere durch eine Unterschätzung der Erbsünde. Das sind vor allem die Anhänger des Pelagius, eines sehr strengen Mönches, der aber in diesem Bezug in die Irre ging. Nach ihnen ist die Erbsünde nichts dem Menschen Eigentümliches, sondern bloß die böse Wirkung des bösen Beispiels des ersten Menschen. Adam hat ein schlechtes Beispiel gegeben, und deswegen ist der Mensch geneigt, ihm zu folgen. Erbsünde ist nur die Nachahmung des schlechten Beispiels Adams. Er wird nicht etwa in den Zustand der Gottesferne hineingeboren, er befindet sich vielmehr nach der Sünde Adams im gleichen Zustand wir vorher. Das ist ein Irrtum. Dagegen muss gesagt werden: Die Erbsünde existiert in jedem Menschen, wenn er dazusein beginnt.
Wie konnte Adams Sünde zur Sünde seiner Nachkommenschaft werden? Wie konnte seine personale Schuld zur Schuld der Menschheit werden? Wie konnte diese Menschheitsschuld Grund der Strafe für die Menschheit und alle ihre Glieder werden? Die Antwort darauf, die einzig mögliche und einzig richtige Antwort lautet: Das geschah kraft der Solidarität Adams, des Hauptes, mit der gesamten Menschheit – kraft der Solidarität der gesamten Menschheit mit Adam, ihrem Haupte. Die Elendssituation des Menschen, der Menschheit, hat ihre Ursache in der ersten Sünde, in der Ursünde, der Sünde der Stammeltern. Die Sünde Adams ist dem Ursprung nach eine und ist durch Fortpflanzung, nicht durch Nachahmung, auf alle Menschen übergegangen; sie wohnt in einem jeden als seine ihm eigene. Adam lebt in jedem von uns, denn in ihm fiel die menschliche Natur, sodass von einem Menschen die Sünde auf alle überging. Nichts anderes ist die Menschheit als der geschichtlich sich entfaltende Urmensch, nicht also ein zufälliges Nebeneinander oder Nacheinander von Individuen, sondern eine organische Einheit und Ganzheit, ein einziges Wir. Wie wird die Sünde weitergegeben? Verursacher der Erbsünde sind nicht die Eltern; nicht der Zeugungsvorgang verursacht die Sünde. Er zielt auf etwas Gutes: auf das Werden eines Menschen. Die Vererbung hat ihren Grund auch nicht in der Libido, also in den Begehrlichkeiten des Zeugungsaktes; das war die falsche Ansicht des Augustinus. Die Vererbung hat ihren Grund auch nicht in einer moralischen Anrechnung der aktuellen Adamssünde auf die Nachkommen; so hat es Albert Pigge behauptet. Nein. Auch Gott, der die Seele des neu entstehenden Menschen schafft, ist nicht die Ursache der Erbsünde. Denn er bringt eine ihrem innersten Wesen nach gute Wirklichkeit hervor, eben die Menschenseele. Die einzige Ursache der Erbsünde, also des Mangels der übernatürlichen Gottverbundenheit, ist die Einheit des Menschengeschlechtes, ist der Eintritt in jene Geschlechterreihe, deren Haupt Adam das göttliche Leben verloren hat. Die Vererbung hat ihren Grund in dem naturhaften Stammeszusammenhang mit Adam. Wir dürfen also auf die Erbsünde nicht die Mendelschen Gesetze der Vererbung anwenden. Diese Gesetze sind richtig; sie stammen von dem Augustinerpater Mendel, der in Brünn, im Klostergarten, seine Versuche über die Vererbung machte. Diese Gesetze gelten heute noch. Aber nicht diese Gesetze bestimmen die Vererbung, sondern die Verfügung Gottes. Nicht in den Genen ist die Erbsünde veranlagt, sondern in der Bestimmung Gottes. Die Menschen bilden nach Gottes Willen eine Gemeinschaft im Guten und Bösen. Wie im natürlichen Bereich jeder für jeden verantwortlich ist, so auch im übernatürlichen. Gott hat verfügt, dass sich mit den natürlichen Werten und Unwerten auch die übernatürlichen vererben. Jedes Wesen, das durch die Zeugung in die menschliche Geschlechterfolge eingegliedert wird, beginnt infolge seiner Zugehörigkeit zur Menschheit ohne das von Gott gewollte übernatürliche Leben zu existieren. Er ist ein Geschöpf Gottes, aber er ist noch kein Kind Gottes. Die Erbsünde wird fortgepflanzt durch natürliche Abstammung. Adam verlor das göttliche Leben als Haupt der Menschheit. Er zog die menschliche Natur in die Sünde hinein. So wird jeder Mensch dadurch Sünder, dass er ein Nachkomme Adams ist. Die Grundlage für die Vererbung der Sünde ist die Einheit des leiblichen Lebens, das alle Menschen miteinander verbindet, der Eintritt in die Geschlechterfolge. Dieser Mangel des göttlichen Lebens trifft jeden neu entstehenden Menschen in gleicher Weise.
Die Erbsünde ist ihrem Wesen nach in jedem Menschen gleich. Aber sie wirkt sich doch in verschiedener Weise aus. Wir sehen die Menschen geschieden in lichte Kinder der Freude, der Harmonie, der einfachen, gleichsam selbstverständlichen Güte, der herrlichen und ruhigen Zuversicht, und in Menschen der Qual, die sich und anderen zum Leid geschaffen scheinen, auf denen ein dunkles Verhängnis liegt von ihren Kindestagen an, Menschen der faustisch wilden Begierden, Menschen des Zweifels, der Zersetzung und der Verneinung. Und wo immer wir den tieferen Quellen dieser Veranlagung nachspüren, treffen wir auf eherne Schicksale, die solche Menschen gepackt und gestaltet haben, oft noch ehe sie aus dem Mutterschoß traten. Wir finden Verwicklungen von Zufällen, oft lächerlicher Art, meist von beweinenswerter Sinnlosigkeit, die sich eingemengt haben in das Lebensgewirke dieser Menschen. Wo die Schuld das Rätsel eines verdorbenen Lebens zu erklären scheint, da zeigt sich oft, dass es eine Schuld von großer Geringfügigkeit ist oder überhaupt eine Scheinschuld, eher und viel mehr eine einsame Not und unverstandene Sehnsucht als Sünde. Eher sind viele mehr durch eine Enge des Geistes geprägt als durch Verkrümmung und Verkehrung des Willens. Wie lässt sich die verschiedenartige Auswirkung der Erbsünde erklären? Dass es Menschen gibt, die anscheinend kaum von der Erbsünde gestreift sind, dass andere in die Erbsünde wie in einen dunklen, unheimlichen Abgrund hineingezogen sind, in deren Leben alles schwer und düster ist, von denen Kälte und Grauen ausgeht? Wie ist das zu erklären? Vielleicht kann man folgendes sagen: Die verderblichen Auswirkungen der Erbsünde werden durch die persönlichen Sünden vergrößert. Die Zerstörungen in einem Menschen sind daher sowohl auf die Erbsünde als auch auf die persönlichen Sünden der Vorfahren zurückzuführen. Was in einem menschlichen Leben Böses und Gutes geschieht, das geht nicht vorüber wie ein gleichgültiger Wanderer, sondern bleibt als ein dauernder Gast. Es gräbt sich unauslöschlich in den Menschen ein. Der mit solchem Gepräge gezeichnete Leib wird von den Eltern weitergegeben. Er kann eine Last oder eine Erleichterung für das Leben sein. Wenn sich das Böse in ihm eingegraben hat, so werden die im Leib sich vollziehenden sinnlichen Neigungen, Gemütsbewegungen, Gefühle und Strebungen zur Sünde neigen und die gottentstammte Seele in ihr düsteres Reich hinabzuziehen versuchen.
Die Lehre von der Erbsünde, meine lieben Freunde, stellt unseren Gottesglauben auf eine harte Probe. Nicht alle Theologen sind ihr gewachsen. Die einen deuten die Lehre um, sodass sie dem natürlichen Denken annehmbar scheint. Die anderen geben sie völlig auf, vor allem sehr viele Protestanten. Wir gläubigen Christen sind verpflichtet, sie festzuhalten als ein Dogma, als einen Glaubenssatz unseres katholischen Glaubens. Wir müssen uns vor dem Geheimnis der Fügung Gottes beugen. Wenn wir einst in sein Licht eintreten, werden uns Sinn und Berechtigung seiner Verfügung einleuchten. „Wären die Werke Gottes nur so groß, dass sie von der Vernunft des Menschen leicht begriffen werden können, so wären sie eben deswegen nicht wunderbar, nicht unaussprechlich, nicht göttlich zu nennen.“ Die Lehre von der Erbsünde ist aber nicht nur dunkel, sie verbreitet auch Licht. Sie löst die Frage, warum die aus Gottes Liebe kommende Welt in einer so schmerzlichen Weise dem Leid und dem Bösen überantwortet ist. Die Lehre von der Erbsünde gibt uns den Schlüssel zum Verständnis der Rätsel, die allen vor Augen liegen. In einem alten Katechismus – der deswegen nicht schlecht sein muss, weil er alt ist – habe ich folgende Erklärung der Erbsünde gefunden: Ein Fürst erhält von einem Kaiser ein Landgut unter der Bedingung, dass er ihm treu bleibe. Doch der Fürst wird dem Kaiser untreu. Da nimmt ihm der Kaiser das Land und den Fürstentitel und schickt ihn in die Verbannung. Die Kinder des Fürsten werden dadurch unglücklich. Sie können vom Vater weder der Titel noch den Besitz erben. Was sie vom Vater erben ist Schande und Armut. Diese Erzählung ist ein Versuch, mit einem menschlichen Beispiel die Erbsünde zu erklären. Wenige Denker haben so viel Verständnis für die Erbsünde gezeigt wie der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal. Er schreibt: „Das dunkelste Geheimnis, das es für unseren Verstand geben kann, das Mysterium der Erbsünde, ist der einzige Schlüssel zum Verständnis unseres eigenen Wesens. Zweifellos stößt uns nichts heftiger als diese Lehre. Und doch sind wir ohne dieses dunkelste aller Geheimnisse uns selbst das größte Rätsel.“ „Ich für meine Person“, schreibt Pascal „muss gestehen: sobald die christliche Religion mir die Lehre vom Sündenfall erklärte, gingen mir die Augen auf, und ich sah überall die Merkmale dieser Wahrheit. Denn die ganze Welt predigt von einem verlorenen Gott und von einer gefallenen Natur innerhalb und außerhalb des Menschen.“ So Blaise Pascal. Es gibt einen Trost auch unter der Erbsünde. Das Fehlen der Gnade, der Gemeinschaft mit Gott ist kein unabänderliches Schicksal. Es gibt eine Befreiung, eine Erlösung, eine Wiederherstellung. Wir dürfen uns freuen über das Geschenk der heiligen Taufe, die uns von der Erbsünde befreit und aus Geschöpfen Gottes Kinder Gottes macht. Gottes Gerechtigkeit stellt den Anfang unseres Lebens unter den Fluch der Erbschuld. Gottes Erbarmen möge den Fortgang und den Ausgang unseres Lebens unter den Segen der Erlösung stellen.
Amen.