3. Juni 2018
Compelle intrare
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In allen drei Auflagen des katholischen Lexikons für Theologie und Kirche findet sich ein Artikel mit der Überschrift: „Compelle intrare“. Das bedeutet übersetzt: Nötige sie, einzukehren. Es handelt sich um einen Text, der aus dem Evangelium, das Sie eben gehört haben, entnommen ist. Es geht dort um ein Gastmahl, dem die Geladenen aber nicht folgen. Zum Ersatz wird allerlei Volk aus der Straße herbeigerufen. Das Gleichnis ist eine Kritik an den religiösen Führern des jüdischen Volkes. Ihnen wird der Ausschluss vom Gottesreich angedroht; die Armen, die Sünder und die Heiden gehen darin ein. Das Wort: Nötige sie, einzutreten, compelle intrare, sollte in der Geschichte der Kirche eine ungeahnte Bedeutung erlangen, und zwar durch das Verständnis, das der heilige Augustinus diesem Worte gab. Er wandte es auf die von der katholischen Kirche Abgewichenen, die Häretiker, die Ketzer an. In seiner Zeit zerriss das Schisma der Donatisten die afrikanische Kirche – und Augustinus lebte ja in Afrika. Augustinus lehnte zunächst jede Gewaltanwendung gegen die Häretiker ab und erkannte nur das Wort Gottes und die Vernunftgründe als berechtigte Mittel an, um sie wieder in die Kirche zurückzuführen. Aber als er die Aggressivität der Sektierer erkannte, als er ihre Bemühungen, die anderen (die Katholiken) auf ihre Seite zu ziehen, beobachtete, da änderte er seine Ansicht. Er verteidigte jetzt die Gewaltanwendung gegen vom katholischen Glauben Abgewichene. Er vertrat die Ansicht, dass die Gesetze der Fürsten mit Recht gegen die Feinde des Glaubens angerufen werden, wenn es nur in der Absicht geschieht, sie zu bessern und nicht zu strafen. Er machte geltend, dass der Staat ja Vergehen wie Ehebruch, Mord und andere Verbrechen bestraft und dass er daher die Sakrilegien, die Vergehen gegen Gott, nicht ungestraft lassen darf. In Berufung auf ihn wurde die Anwendung mit Gewalt gegen die Häretiker in das mittelalterliche Kirchenrechtsbuch, das Decretum Gratiani, aufgenommen: haeretici ad salutem inviti sunt trahendi– Häretiker sind auch gegen ihren Willen zum Heil zu ziehen.
Der Münchener Theologe Josef Schmitt behauptet nun, Augustinus sei der geistige Vater der Inquisition geworden. Was ist Inquisition? Inquisition ist eine Einrichtung zur Aufspürung, Belehrung bzw. Bestrafung von Christen, die vom Glauben der Kirche abgewichen sind. Die Einrichtung der Inquisition hatte mehrere Voraussetzungen, die heute nicht mehr gegeben sind. Das gesamte Volk, Regierende und Regierte, waren eine religiöse Einheit. Alle hingen dem katholischen Glauben an, und diese Einheit wurde als ein großes Gut, das man nicht aufs Spiel setzen könne, angesehen. Es war die Zeit der Kreuzzüge. Da wollte man nicht eine Spaltung innerhalb der Kirche zulassen. Die mittelalterliche Ordnung beruhte auf der ungetrennten Einheit von Staat und Kirche. Die Glaubenssätze waren gleichzeitig weltliche Gebote. Der katholische Glaube, die verbindliche Lehre galt den Menschen als höchstes Gut, seine Verletzung oder Preisgabe als das schwerste Verbrechen. Der hartnäckige oder rückfällige Ketzer galt als der schlimmste Fälscher, der den Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Allen Menschen der damaligen Zeit stand fraglos fest, dass jeder Mensch eine geistige Seele hat, dass sie für die Unsterblichkeit bestimmt ist und dass ihr ewiges Los von ihrem Verhalten im Diesseits abhängt. Höher als das Leben und die Unversehrheit des Leibes stand dem mittelalterlichen Menschen die Bewahrung der Seele für das ewige Leben. Der Verlust des irdischen Lebens wog gegenüber dem Verlust des ewigen Lebens leicht. Die Todesstrafe hatte für den mittelalterlichen Menschen nicht den gleichen Schrecken wie für die Neuheiden unserer Zeit. Im Laufe der Kirchengeschichte entstanden nun Abfallbewegungen von der Kirche. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nahmen sie den Charakter von Volksbewegungen an und verbreiteten sich mit unheimlicher Schnelligkeit über einen großen Teil Europas. Die bedeutendste Sekte dieser Zeit waren die Katharer, die Reinen, wie sie sich nannten. Sie standen nicht mehr auf dem Boden des Christentums. Die Katharer vertraten zwei Götter: einen bösen Gott (im Alten Testament) und einen guten Gott (im Neuen Testament). Der böse Gott hat die materielle Welt erschaffen. Die Bosheit der Materie verkörpere sich am schlimmsten in der Sexualität und in der katholischen Kirche; wer darin stecke, der sei verdammt. Die Kirche wurde von ihnen verunglimpft als „Hure Babylon“ und „Synagoge Satans“. Die Katharer verwarfen mit großer Gehässigkeit alles äußere Kirchenwesen: Priestertum, Hierarchie, Altäre, Sakramente. Sie leugneten den freien Willen und die Auferstehung des Fleisches. Sie griffen Ehe, Familie und Eigentum an. Sie verwarfen den Eid und den Militärdienst, die Todesstrafe und die weltliche Obrigkeit. Teilweise stellten sich die Häresien als Massenpsychosen dar. Bei den Katharern gab es massenhafte Fälle von Selbsttötung durch Selbstverhungerung. Die Häretiker verhielten sich keineswegs still. Sie suchten ihre Ansichten möglichst weit zu verbreiten, Anhänger zu gewinnen. Sie bauten eine eigene religiöse Organisation auf; sie hatten Truppen.
Es waren deswegen zunächst die weltlichen Fürsten, die gegen die vom Glauben Abgefallenen mit ihren Mitteln einschritten. Sie sahen ihre Stellung, ihre Interessen, ihre Macht durch die Häretiker bedroht. Es war ein deutscher Kaiser, Kaiser Heinrich III., der im Jahre 1051 in Goslar mehrere Häretiker hängen ließ – consensu cunctorum– mit Zustimmung aller. Bald aber war es der berühmte und hochgeschätzte Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen, der im Jahre 1232 für das ganze Reich befahl, die Ketzer und ihre Anhänger durch staatliche Beamte aufsuchen zu lassen, die Verdächtigen vor ein kirchliches Gericht zu bringen und sie, wenn sie schuldig erfunden wurden und im Irrtum verharrten, dem Feuertode auszuliefern. Die Untersuchung, ob eine Häresie, also Irrlehre, vorlag, diese Untersuchung wurde selbstverständlich von der Kirche geführt. Zuständig waren die Bischöfe, aber sie waren lau wie meistens. Die bischöfliche Untersuchung und die Bekämpfung der Häresien erwiesen sich als wenig schlagkräftig. Und so sah sich Papst Gregor IX. veranlasst, diese Aufgabe dem Dominikanerorden zu übertragen. Dieser war nicht der lokalen Autorität der Bischöfe unterstellt, sondern dem Papst. Er war also europaweit einsetzbar wie die Häretiker auch, die von einem Land ins andere wanderten. Die Dominikaner waren der am besten ausgebildete katholische Orden: hochgebildet, sittenrein, fromm, gläubig; auch sie hatten ein Gewissen, und sie wurden überwacht von ihren Oberen. Der Geist akademischer Nüchternheit wehte im Dominikanerorden. Das ist das Gegenteil von Fanatismus. Sie vermochten die Irrlehren zu erkennen und ihnen argumentativ zu begegnen. Sie waren imstande, die Verirrten mit Argumenten zu überzeugen, dass der katholische Glaube der richtige ist.
Der Kreis der Vergehen, die durch die Inquisition zur Untersuchung, Abschwörung und Bestrafung kam, war weit gespannt, natürlich an erster Stelle Glaubensvergehen: Ketzerei, lesen und behalten häretischer Bücher, Blasphemie (also Gotteslästerung), Apostasie (Abfall vom Glauben überhaupt), Schisma (Trennung), Leugnung der Dreifaltigkeit, Schmähungen der Jungfräulichkeit Mariens, dauernde Unterlassung der kirchlichen Pflichten – das machte verdächtig –, Missbrauch der Sakramente, Missbrauch des priesterlichen Dienstes – es sind nicht wenige Priester und Bischöfe vor die Inquisition gezogen worden –, Verführung im Beichtstuhl, Abfall von der Weihe und vom Ordensstand, Zauberei, Magie, Wahrsagerei, Eheverfehlungen wie Doppelehe, Mehrfachehe, Sodomie (also Homosexualität). Alle diese Vergehen wurden von der Inquisition gerichtet. Die Inquisition wurde gegründet, um der Lynchjustiz des Volkes ein Ende zu machen. Denn bisher hatten Leute aus dem Volk sich der Häretiker bemächtigt und sie getötet, ohne Verfahren. Die Inquisition wollte diese Lynchjustiz ersetzen durch geordnete Gerechtigkeit. Gleiches Recht für alle, ohne Ansehen der Person, das war das erste Prinzip der Inquisition. Ein gerechtes, geregeltes und maßvolles Verfahren, das war das andere Prinzip. Der Inquisitionsprozess verzichtete auf ein Mittel der Erkenntnis, das im weltlichen Recht Gang und Gäbe war: das Gottesurteil. Was ist das Gottesurteil? Nun, wenn jemand verdächtig war, ein Verbrechen begangen zu haben, ließ man ihn z.B. über eine glühend gemachte metallene Fläche laufen. Wenn seine Füße verbrannten, war er schuldig, wenn sie nicht verbrannten, galt er als unschuldig. Das war ein Gottesurteil. Man nahm an, dass Gott durch diese Vorgänge zeigen wolle, wer gerecht und wer nicht gerecht sei. Diese völlig verkehrte Weise, ein Urteil zu gewinnen, wurde von den Inquisitoren a limine abgelehnt. Ihr Prozessgang war ein normaler wie gegen Hochverrat. Der Inquisitionsprozess brauchte keine Ankläger. Im Mittelalter konnte ein Prozess nur in Gang gesetzt werden, wenn jemand sich als Kläger fand, und er ging ein hohes Risiko ein. Wenn er nämlich nicht beweisen konnte, was er als Anklage vorbrachte, dann wurde er zu derselben Strafe verurteilt wie der, gegen den er angetreten war. Dieses barbarische Verfahren lehnte die Inquisition ab. Sie brauchte keinen Ankläger. Hier wurde von Amtes wegen auch ohne Ankläger der objektive Sachverhalt erforscht, wie es ja noch heute in unseren Strafprozessen üblich ist. Wie beim Hochverrat war jedermann verpflichtet, die ihm bekannten Häretiker zur Anzeige zu bringen. Anzeigen wegen eines Verbrechens waren nicht selten, aber nur in einem von zehn Fällen wurde von der Inquisitionsbehörde ein Verfahren eingeleitet. Von denen, die dann noch verhaftet wurden, ließ man nach dem Verhör jeden Dritten ohne Prozess laufen. Die Beweislage war oft schwierig, denn die Menschen hatten häufig keine Lust, ihnen bekannte Häretiker anzugeben. Sie hatten auch Furcht, weil sie von den Häretikern möglicherweise umgebracht wurden, wenn sie Anzeige gegen sie erstatteten. Und deswegen hat die Inquisition die Fähigkeit zum Zeugnis ausgedehnt. Sie hat auch infame, meineidige, exkommunizierte Mitschuldige und Teilnehmer sowie Familienangehörige als Zeugen zugelassen. Anders glaubte man nicht zur Aufdeckung der Verbrechen kommen zu können.
Die Inquisition, meine lieben Freunde, wollte nicht töten. Sie wollte die Schuldigen richten und die Unschuldigen schrecken. So wenig Tote als möglich bei größtmöglicher Wirkung auf die Seelen aller, das war das Prinzip der Inquisition. Die strengste Inquisition war in Spanien. In Spanien deswegen, weil dort viele Juden lebten, die sich als Christen ausgaben, aber in Wirklichkeit ihr Judentum weiterbetrieben. Die spanische Inquisition war deswegen besonders wirksam, freilich auch besonders gefürchtet. Zahlreiche Prozesse der spanischen Inquisition wurden durchgeführt, aber nur in ein bis zwei Prozent kam es zum Todesurteil. Etwa ein Drittel aller Prozesse endete mit Freispruch. Die Inquisition in Spanien hat Ketzer hingerichtet – das ist keine Frage –, aber sie hat Zehntausende vor dem Tod durch die Lynchjustiz des Volkes gerettet. Und denken Sie daran, was den Menschen, was der Kirche, was den Tätern erspart blieb. Die Religionskriege in Frankreich und Deutschland, die ihren Ursprung ja im Abfall von der katholischen Religion hatten, diese Religionskriege haben tausendmal mehr Opfer gefordert als die Hinrichtungen von Ketzern. Die Bevölkerungsverluste im Dreißigjährigen Krieg beliefen sich im Reich auf 40% auf dem Lande und 33% in den Städten. In den am härtesten betroffenen Gegenden überlebte nur ein Drittel der Bevölkerung. Das war die Wirkung des Religionskrieges des Dreißigjährigen Krieges. Der Blutdurst der Inquisitoren ist eine Erfindung der Kirchenfeinde. Der englische Historiker Henry Kamen schreibt: „Die von den Feinden der Inquisition beschworenen blutrünstigen Szenen sind Legenden.“ Der Inquisitor Bernard Gui – den wir zufällig kennen, weil die Akten erhalten geblieben sind – fällte 930 Urteile, von denen 42 Todesurteile waren, 139 auf Freispruch lauteten. In Carcassonne (in Südfrankreich) wurden in einem Jahrzehnt 278 Urteile gefällt; fast alle gingen auf Dienst im Heiligen Land.
Es dürfte kaum eine geschichtliche Institution geben, über die so viel Schmähung gehäuft und Unwahrheit verbreitet worden ist, wie die Inquisition. Ihre Beurteilung hängt davon ab, welche Bedeutung man dem katholischen Glauben zuweist. Wer in ihm die absolute, gott- geoffenbarte Wahrheit sieht, wird das Abweichen davon als ein schweres Delikt einstufen. Die Kirche konnte dagegen nicht gleichgültig bleiben, weil sie sich sonst selbst aufgegeben hätte. Dass sie eingriff und sich bei der Abwehr des weltlichen Armes bediente, ergab sich aus den damaligen Verhältnissen: Einheit zwischen Staat und Kirche. Dass die Inquisitoren zuerst und nachweislich lange an der Gewinnung der Abgewichenen für den wahren Glauben arbeiteten, ergibt sich ebenso aus den ihnen gegebenen Anweisungen wie aus erhalten gebliebenen Akten. Ich habe sie gelesen, soweit sie mir zugänglich waren. Die Inquisitoren verrichteten ihren schweren Dienst nach den ihnen gegebenen Anweisungen nach bestem Wissen und Gewissen. Über einige von ihnen hat die Kirche ihr letztes Urteil gesprochen, indem sie sie in die Zahl ihrer Heiligen aufgenommen hat. Die bekanntesten sind Petrus von Verona und Michele Ghislieri, der als der große Reformpapst Pius V. in die Geschichte eingegangen ist.
Amen.