Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
3. September 2017

Gottes Vorsehung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im Offertorium der heutigen heiligen Messe beten wir: „Mein Gott bist du, in deinen Händen ruhet mein Geschick!“ Dieses Gebet ist ein Bekenntnis zur Vorsehung Gottes. Was verstehen wir unter Vorsehung? Vorsehung Gottes heißt im weitesten Sinne: jede Fürsorge Gottes für das Geschöpf. Im engeren Sinne bezeichnet das Wort die göttliche Weltregierung, also die Hinlenkung der Welt zu ihrem von Gott bestimmten Ziele. Und im engsten Sinne verstehen wir unter Vorsehung den der Weltregierung Gottes zugrundeliegenden Weltplan Gottes. Also: Fürsorge, Weltregierung, Weltplan; das ist der Inhalt der Vorsehung. Solange die Menschen an Gott glauben, glauben sie auch an die Vorsehung. Umgekehrt: Wo der Gottesglaube ins Wanken gerät, da stürzt auch der Vorsehungsglaube. Im langsamen Schwinden des Vorsehungsglaubens offenbart sich das Absterben des Gottesglaubens. Der Vorsehungsglaube ist nur auf dem Standpunkt des Theismus möglich. Theismus ist die Überzeugung von der Existenz eines persönlichen, überweltlichen Gottes, der als eine die Welt erhaltende und lenkende, also eine mit seiner Schöpfung dem Menschen und seiner Geschichte in Verbindung stehenden Macht gedacht wird. Im antiken Heidentum war der eine, wie immer geartete Gottesglaube überall auch mit einem Vorsehungsglauben verbunden; am deutlichsten in der philosophischen Weltanschauung der Stoa, um die Wende des Christentums. Sie hat schöne Gedanken über die Vorsehung und über die Allgemeinheit ihres Wirkens. Man denkt manchmal: Das sind ja christliche Gedanken, die von manchen Stoikern von sich gegeben werden, aber diese Anklänge an den Christenglauben leiden an einer unheilbaren Schwäche, nämlich die Stoa hatte keinen richtigen Gottesbegriff. Für die Stoa ist Gott der allgemeine Weltgeist, also gewissermaßen die innere Seite der materiellen Dinge, mit der Materie verflochten und verwachsen. Ein solcher Gott vermag keinen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten der Menschen auszuüben; er ist ja selber nicht frei. Immerhin soll anerkannt werden, dass die platonische und stoische Gotteslehre das Bedürfnis einer göttlichen Weltordnung und Weltleitung hatte. Sie steht turmhoch über dem Materialisten Epikur, dessen Devise lautet: Gott kümmert sich nicht um die Welt. Das alte und das neue Heidentum dachte und denkt sich die Lebensgeschicke des Menschen an die unabänderliche Macht des Schicksals gebunden. Das zukünftige Geschick liegt fest und niemand vermag sich ihm zu entziehen. Die menschliche Willensfreiheit kann gegenüber dem alle Kräfte knebelnden Fatum nicht bestehen. Der unabänderliche blinde Schicksalswille zwingt jeden Menschen zu seinen Gedanken, zu seinen Entschlüssen, zu seinem Tun. Die Urvölker haben anders gedacht. Die, die man Primitive nennt, kannten den Glauben sowohl an den einen Gott als auch an seine fürsorgende Güte. Sie waren keineswegs Wilde, sie waren vielmehr Besitzer eines Gottesgedankens, der teilweise sehr erhaben war. Sie wissen sich abhängig von der Gottheit; sie bezeichnen sie als Urheber, d.h. als Schöpfer und Vater. Sie wenden sich mit ihren täglichen Anliegen an diesen Gott. Ein Gebet dieser „Primitiven“, wie man sagt, heißt: „Vater, ich komme zu dir, ich flehe dich an. Gib mir Nahrung und alle Dinge, damit ich leben kann“ – das Gebet eines sog. Wilden. Sie schöpfen Vertrauen aus der Vergangenheit, weil sich Gott ihren Vorvätern gnädig erwiesen hat. „Du hast unseren Vorfahren Speise gegeben. Von Anfang an haben wir durch deine Gunst gelebt“, so beten die sog. Wilden. Selbst die auf niederer Kulturstufe stehenden Buschmänner, in Südafrika, berufen sich in ihren Gebeten an den Urvater auf ihr Kindschaftsverhältnis zu ihm und schöpfen Vertrauen aus dem göttlichen Schutz.

Die Christen wissen mehr von der Vorsehung. Unser Herr und Heiland hat es uns geoffenbart. Nach ihm kennt Gott die Vögel des Himmels, er füttert die jungen Raben, er kleidet die Lilien des Feldes, er zählt die Haare des Hauptes, er lässt keinen Sperling vom Dache fallen. Die Kirche hat diese Lehre immer festgehalten und verkündigt und verteidigt. Nach dem Vorgang vieler früherer Kirchenversammlungen hat das Erste Vatikanische Konzil erklärt: Alles, was Gott geschaffen hat, erhält und regiert er durch seine Vorsehung. Die göttliche Vorsehung begleitet alle geschaffenen Dinge beständig und erhält sie mit derselben Kraft, mit der sie ins Dasein gerufen worden sind. Die Offenbarung von Gottes Vorsehung ist nicht zu verwechseln mit der Zusicherung eines ungestörten, sorglosen Lebens. Der Gott der Vorsehung ist nicht der liebe Gott, der nach Art eines gutmütigen irdischen Vaters die Wünsche und Launen seiner Kinder nach mehr oder weniger heftigem Drängen erfüllt. Er ist der Vater, aber er ist auch der Herr; er ist beides in einem. Er ist der Vater, der seine Kinder zur Herrlichkeit führen und sie daher von dem Bösen, das sich seiner Absicht widersetzt, in Schmerz und Plagen befreien will. Er ist der Herr, der die Menschen die steilen und rauen Wege gehen lässt, die zur Größe führen. Seine Absicht zielt nicht darauf, ihnen ein behagliches Dasein auf Erden zu verschaffen, sondern sie zur Vollendung zu führen. Seine Vorsehung zielt dahin, die Herrschaft Gottes unter den Menschen voranzubringen. Sie ist ein endzeitliches Tun, d.h. ihr steht immer das Ende vor Augen. Alles, was Gott an Vorsehungstaten zuwendet, hat sein Maß und seine Richtung im Ende. Die Vorsehung bedeutet deswegen für den Menschen keine Sicherung in den irdischen Dingen. Sie lässt den Menschen in Unsicherheit, aber gerade in dieser Unsicherheit ist er geborgen in Gottes fürsorgender Macht. Umgekehrt gewähren die innerweltlichen Sicherungen, die der Mensch schafft, keine letzte Sicherheit, denn sie können von dem verborgenen Willen Gottes zerbrochen werden. Vielleicht muss er sie zerbrechen, auf dass sie kein Hindernis für unser Heil seien. Die Wege der Vorsehung verlaufen also im Dunkeln. Wir können sie nicht nachprüfen und nachrechnen. Wir können die Vorsehung nur im Glauben, nicht im Schauen bejahen. Hin und wieder freilich wird uns ein flüchtiger Blick in ihr Geheimnis gewährt, sodass wir es ahnen und spüren können. So kann aus der Verflechtung menschlicher Begegnungen ein ungeahnter Sinnzusammenhang entstehen. Ein unvorhergesehenes Hindernis, Hemmnis unserer Pläne dient am Ende doch wider Erwarten einem höheren Plan. Manchmal legen sich Hände über unsere Hände, füllen unsichtbare Hände die unseren mit Gaben, die vorher aus keiner menschlichen Überlegung erwartet werden konnten. Oder Hände entreißen uns geliebte Güter, Möglichkeiten, Gelegenheiten, die unser ganzer Lebensinhalt waren. Später müssen wir erkennen, dass, wenn wir diese Möglichkeiten behalten hätten, sie zu unserem Nachteil ausgeschlagen wären.

In der Beurteilung der konkreten Vorsehung Gottes ist daher Vorsicht und Zurückhaltung geboten. Es ist uns unmöglich, die Absichten und Gründe Gottes bei der Tätigkeit seiner Vorsehung auszurechnen und nachzurechnen, oder an einem einzelnen Fall z. B. bei Krankheit, Unglücksfall, Naturkatastrophe festzustellen: Das ist Gottes Hand, das ist Gottes Stimme gewesen. Jesus hat solche Versuche, ein Unglück voreilig auszudeuten, zurückgewiesen; so bei dem Blindgeborenen. Er traf einmal mit seinen Begleitern einen Menschen, der von Geburt an blind war. Da fragten die Jünger: „Wer hat denn gesündigt: er oder seine Eltern?“ Jesus antwortete: „Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.“ Ein Turm in Jerusalem war eingestürzt und hatte 18 Menschen erschlagen. Der Herr sagte zu seine Jüngern: „Meint ihr, diese Achtzehn seien schuldiger gewesen als die anderen Bewohner von Jerusalem? Wenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr alle umkommen!“ Pilatus hatte beim Opferdienst eine Reihe von Galiläern töten lassen. „Meint ihr“, sagt Jesus, „diese Galiläer seien größere Sünder gewesen als alle anderen, weil sie solches erleiden mussten? Nein, sage ich, aber wenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr alle zugrunde gehen.“ Gott ist im Ablauf der Geschichte immerfort am Werk. Die ganze Geschichte ist eine fortlaufende Enthüllung Gottes. Aber diese Enthüllung geschieht in Verschleierung. Indem Gott sich offenbart, verbirgt er sich zugleich, und je gewaltiger er sich offenbart, umso tiefer verbirgt er sich. Am lebendigsten offenbart sich Gott bekanntlich im Kreuzestode Christi. Und doch gibt es keine stärkere Verhüllung als den Kreuzestod des Messias, sodass die Ungläubigen über diesen Tod lachen können. Indem Gott sich enthüllt, entäußert er sich in die menschliche Schwäche hinein. Es gibt keine eindeutigen Erfahrungen Gottes im Zeitgeschehen. Gott kann in der Weltgeschichte nicht mit Sicherheit festgestellt werden, sodass man sagen kann: Hier ist er, dort ist er nicht. Die Geschichte ist immer ein Gewebe von göttlichem und menschlichem Tun. Es ist unmöglich, die Fäden dieses Gewebes zu entwirren und genau zu unterscheiden. Gottes Handeln in der Geschichte steht in einem unaufhellbaren Zwielicht.

Eine ganz besondere Vorsehung, meine lieben Freunde, ist bemüht um die Organe der übernatürlichen Tätigkeit Gottes in Offenbarung und Kirche. Es ist eine ganz besondere Vorsehung. Aber es wäre verfehlt, schließen zu wollen, dass alles, was unter diese Art der Vorsehung gerechnet wird, ohne weiteres sicher versorgt wäre. Judas war ein Apostel und fiel damit unter die ganz besondere Vorsehung, aber er endete mit einem Strick. Die Kirche fällt nach theologischem Urteil unter die ganz besondere Vorsehung Gottes. Damit ist aber nicht garantiert, dass alles, was die Vorsteher der Kirche anordnen und tun, direkt und positiv aus den ewigen Dekreten der göttlichen Vorsehung fließt; gar vieles mag diesen zuwider sein. Aber Gott lässt es geschehen. Er ist weise und mächtig genug, es in seinen ewigen Schöpfungsplan einzuordnen, sodass Gutes daraus entstehen kann. Man muss auch hier – und zwar ganz besonders hier – mit dem Begriff der göttlichen Zulassung rechnen. Gott lässt auch das zu, was er nicht will, dass es geschehe, weil er die Freiheit nicht zerstören will. Also wenn wir fragen: Sind diese Personalentscheidungen, Bischofsernennungen, Verlautbarungen, Gesetze, Verwaltungsakte der kirchlichen Autoritäten, sind sie alle von Gott gewollt? Oder können sie hinterfragt und kommentiert werden? Ja, das können sie. Als der gegenwärtige Heilige Vater gewählt wurde, da sagte mir ein bedeutender katholischer Theologe: „Bisher war ich der Meinung, dass die Papstwahl durch den unmittelbaren Einfluss des Heiligen Geistes zustande kommt. Aber diese Ansicht muss ich jetzt korrigieren.“ Das war sein Kommentar zu der Wahl des Herrn Bergoglio zum Papst. Ich vermute, dass Gott mit seinen Zulassungen die Festigkeit unseres Glaubens erproben will. Falsch wäre die Meinung, dass man von einem Ereignis der Geschichte mit Sicherheit sagen könnte, Gott sei darin gänzlich abwesend, es sei alles ein Werk des Teufels. Ebenso verkehrt wäre es aber, die gegenteilige Meinung zu haben, nämlich dass in einem geschichtlichen Ereignis klar und bestimmt Gottes Stimme und Anruf vernommen werden könnte. Nein, die endgültige Feststellung, wie weit die Geschichte Gottes Auftrag und Werk ist, kann von niemand anderem getroffen werden als von Gott selbst. Das Jüngste Gericht ist die letzte und die endgültige Instanz. Es ist die einzige Zuversicht, die uns Menschen bleibt.

Gott vollzieht die Durchführung der von der Weltordnung bestimmten Vorgänge sowohl unmittelbar als auch mittelbar: unmittelbar durch sich selbst, mittelbar durch die Naturgesetze, durch die geistige Veranlagung der Individuen, durch Beeinflussung von anderen, durch Schicksalsfügungen, durch Gemeinschaften. Gott beruft die Menschen zur Teilhabe an seiner Vorsehung. Er will die Welt mit Hilfe des Menschen selber, d.h. durch dessen vernünftige und verantwortliche Sorge leiten. Dem Menschen ist es aufgetragen, sich in die Pläne und Absichten Gottes, soweit sie ihm zugänglich sind, einzuordnen im Vertrauen auf seine Vorsehung. „Du bist mein Gott, in deinen Händen liegt mein Geschick.“ Das Ziel der göttlichen Weltregierung wird unfehlbar erreicht; wir kennen aber die Wege nicht. Durch alle Durchkreuzungsversuche der Menschen bewegten sich die menschliche Geschichte und die Natur auf das Endziel zu. Auch der Teufel wird beherrscht von Gott, ja, er ist ein Werkzeug in Gottes Hand. Er muss seinen Plänen dienen. Über Gottes Weltplan steht kein unwandelbares Schicksal, dem er unterworfen wäre, kein Gesetz, dem er sich beugen müsste. Weil alles von Gott gefügt ist, gibt es keinen absoluten Zufall. Zufall in dem Sinne, dass etwas unerwartet ist, das gibt es, aber einen absoluten Zufall gibt es nicht. Der Vorsehungsgläubige weiss seine Lebenslose in den Händen eines gütigen und allmächtigen Vaters. Er führt alles, wenn auch durch harte und schwere Schicksale, dem Heile entgegen. Das Leben endet nicht in einem Untergang, sondern in der Vollendung. Der Tod ist Untergang eines kargen, aber Aufgang eines reichen Lebens. Meine lieben Freunde, im Jahre 1918 wartete in Riga, der Hauptstadt Lettlands, ein gläubiges christliches Mädchen auf die Hinrichtung durch die Bolschewisten. Und dieses Mädchen hat in seiner Kerkerzelle uns ein Bekenntnis zur Vorsehung hinterlassen:

„Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl.

Das macht die Seele still und friedenvoll.

Ist doch umsonst, dass ich mich sorg’ und müh’,

dass ängstlich schlägt mein Herz, ob spät, ob früh.

Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt die Zeit.

Dein Plan ist fertig stets und liegt bereit.

Ich preise dich für deine Liebesmacht,

ich preis’ die Gnade, die mir Heil gebracht.

Du weißt, woher der Wind so stürmisch weht,

und du gebietest ihm, kommst nie zu spät.

Drum wart ich still, dein Wort ist ohne Trug:

Du weist den Weg für mich, das ist genug!“

Amen.

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