Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. Oktober 2016

Wiedergutmachung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Habe Geduld mit mir, ich werde dir alles bezahlen.“ Der Satz enthält eine Bitte und ein Versprechen. Die Bitte geht um Langmut des Gläubigers mit dem Schuldner, um Aufschub für die Begleichung seiner Schuld: „Habe Geduld mit mir.“ Das Versprechen bekundet den guten Willen, die Schuld zu begleichen, und zwar in voller Höhe: „Ich werde dir alles bezahlen.“ Beides, Bitte und Versprechen, passen gut zu uns und zu unserem Verhältnis gegenüber Gott und den Menschen. Wir schulden Gott unseren Dienst. Die erste Frage des alten, guten Katechismus lautete: „Wozu sind wir auf Erden? Wir sind auf Erden, um Gott zu dienen, ihn zu lieben und dadurch in den Himmel zu kommen.“ Also wir haben eine Pflicht zu erfüllen, nämlich den Dienst und die Liebe zu Gott. Der wahrhaftige Christ weiß, dass er Gottes Schuldner ist. Er hat nicht allezeit als Gottes guter Knecht oder als Gottes gute Magd gearbeitet. Er war bequem und nachlässig, unlustig und träge. Der wahrhaftige Christ weiß um die Gnadenangebote und die Gnadenerweise Gottes. Er war schwerhörig gegenüber den Mahnungen und Warnungen Gottes. Er war lässig und unwillig mit Gottes Gnade mitzuarbeiten. Wer von uns muss sich nicht fragen: Hätte ein anderer das Maß an Gnaden erhalten wie ich, hätte er nicht viel besser damit gearbeitet? Wie viel, meine lieben Freunde, sind wir Gott schuldig geblieben? An Tugenden, die wir hätten erwerben sollen? An guten Taten gegenüber den Menschen, die uns begegneten? An Gebetseifer, an Opfergeist, an Apostolatstätigkeit? Der wahrhaftige Christ weiß vor allem um seine Schuld, die er aufgehäuft hat durch die Sünden. Er ist Gott die gebotene Erfüllung seines Willens schuldig geblieben. Er hat durch Übertretung der Gebote Gottes sich schuldig gemacht.

Der wahrhaftige Christ ist sich bewusst, dass er Gottes Schuldner ist. Aber bei dieser Erkenntnis darf man nicht stehenbleiben. Aus der Einsicht muss eine Absicht werden, ein Vorsatz, ein Entschluss: Ich will dir alles bezahlen, was ich dir schuldig bin. Die Schuld soll abgetragen werden. Das ist grundsätzlich und allgemein geschehen durch die Opfertat Jesu Christi. Er hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, ans Kreuz geheftet und ihn dadurch eingelöst. Die Begleichung der menschlichen Schuld durch den wahrhaftigen Sohn Gottes nennen wir Erlösung. Man unterscheidet Erlösung im objektiven und im subjektiven Sinne. Erlösung im objektiven Sinne ist das Werk des Erlösers, das, was der Heiland für uns getan, gelitten und gepredigt hat. Subjektive Erlösung ist die Verwirklichung der Erlösung des einzelnen Menschen durch Zuwendung der Früchte der Erlösung an den Einzelnen. Die objektive Erlösung geschah durch Leben, Lehren, Leiden Christi. Sie muss aber vom einzelnen Menschen in der subjektiven Erlösung ergriffen, angeeignet werden, und das verlangt die freie Mitwirkung des Menschen. „Der dich ohne dein Zutun erschaffen hat, will dich nicht erlösen ohne dein Zutun“, sagt Augustinus. Göttliche Kraft und menschliche Freiheit müssen zusammenwirken, damit der einzelne Mensch erlöst wird. Die Aneignung der Erlösung geschieht durch Erfüllung des Willen Gottes, durch das Bemühen, seine Ehre zu fördern, durch die Nachfolge Christi, durch Arbeit, Mühe und Leiden im Namen Christi. Eine Weise, wie sich die Erlösung Christi aneignen lässt, ist das Bemühen, die Defizite der Vergangenheit auszugleichen, der Entschluss: O Gott, ich will dir alles bezahlen, was ich in der Vergangenheit schuldig geblieben bin. Der Mensch kann uns soll Gott seine Entschlossenheit vortragen, künftig ein zuverlässiger und fleißiger Mitarbeiter im Dienste Gottes zu werden, abzuarbeiten, was er an Schuld aufgehäuft hat, aufzuarbeiten, wessen er schuldig geblieben ist. So erleben wir, dass Menschen, die sich bekehrt haben, angesichts des in der Vergangenheit vernachlässigten Gottesdienstbesuches jetzt häufig, ja, täglich die heilige Messe besuchen. Sie wollen wiedergutmachen, was sie versäumt hatten. Andere, die ihr Geld nur für sich verwendet hatten, werden großzügig, spenden reichlich, ja, stiften ihr Vermögen für gute Zwecke. Sie wollen ersetzen, was sie unterlassen hatten. So, meine lieben Freunde, können wir versuchen zurückzuzahlen, was wir in unserem früheren Leben Gott schuldig geblieben sind.

Aber wir Menschen sind ja nicht nur Gott gegenüber schuldig, wir bleiben auch unseren Mitmenschen schuldig. Wir verweigern ihnen, worauf sie Anspruch haben. Wir versagen ihnen, wozu wir verpflichtet sind. Also als Beispiel: Wir schulden unseren Mitmenschen Achtung. Wir müssen sie anerkennen in ihrer Würde als Geschöpf und als Kind Gottes. Wir müssen ihre Arbeit und ihre Leistung würdigen und schätzen. Aber wie oft, wie oft sind wir leichtfertig, haben wir andere bekrittelt, abgeurteilt, angeprangert? Wir schulden den Menschen unserer Umgebung Vertrauen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie willig und ehrlich sind. Aber wie oft waren wir misstrauisch und argwöhnisch? Auf unbegründeten Verdacht hin haben wir sie Verfehlungen bezichtigt. Wir schulden unseren Mitmenschen Verstehen und Hilfsbereitschaft. Wir müssen ein Ohr haben für ihre Kämpfe und Leiden, müssen einen Blick haben für ihre Ängste und Nöte. Die jetzt heilig gesprochene Mutter Teresa hat einmal an ihre Anvertrauten das Wort gerichtet: „Komm nicht zu mir in die Slums, sondern kümmere dich um die Bedürftigen in deiner Umgebung, zunächst in deiner Familie, dann in deiner Nachbarschaft. Schaffe um dich eine Welt der Freude und des Friedens. Schau, ob jemand deine Hilfe braucht, und dann hilf einfach. Tu kleine Werke der Nächstenliebe, aber, ganz wichtig, tu sie für Jesus. Das ist dein Auftrag.“ Was Mutter Teresa hier fordert, ist die Auslegung des göttlichen Gebotes der Nächstenliebe. Wie oft und wie lange haben wir uns dagegen verfehlt? Wie viel sind wir hilfsbedürftigen Menschen schuldig geblieben? Aus dieser Erkenntnis, meine lieben Freunde, muss sich die Bitte, muss sich der Vorsatz erheben: Habe Geduld mit mir, ich werde dir alles bezahlen. Ich will meinen Egoismus, meine Selbstverliebtheit, meine Rücksichtslosigkeit, meine Eigensucht überwinden. Ich will wiedergutmachen, worin ich gefehlt habe. Ich will kein Misstrauen, keinen Argwohn, keinen leichtfertigen Verdacht mehr gegen meine Mitmenschen hegen. Wann und wo ich es getan habe, will ich es aufgeben und von der moralischen Integrität der Mitmenschen ausgehen. Ich will nicht gleichgültig sein gegen Ratlosigkeit, Verwirrung und Not in meiner Umgebung. Es soll mir zu Herzen gehen, wenn sich die Mitmenschen unglücklich fühlen. Der Geizige soll freigebig, der Neidische soll Wohlwollen gegen den Nächsten beweisen. Ich will versuchen wieder gutzumachen, was ich in der Vergangenheit gegenüber meinen Mitmenschen gefehlt habe.

Das Wort „Habe Geduld mit mir, ich werde dir alles bezahlen“ lässt sich auch anwenden auf alle, die uns Wohltaten erwiesen haben. Wir sind ihnen zu Dank verpflichtet. Wir sollen ihnen, soweit es möglich ist, wiedergeben, vergelten, was sie uns getan haben. Das kann geschehen auf die gleiche Weise, wie wir es von ihnen empfangen haben oder auf andere Weise, z.B. durch das Gebet. Das Gebet, das wir für unsere Wohltäter verrichten, ist eine Weise der Wiedergutmachung. Die Pflicht, Unrecht wiedergutzumachen, das man anderen angetan hat, wird in der Theologie Restitution genannt – Wiederherstellung, Wiedergutmachung. Restitution ist die Entschädigung oder der Ersatz für absichtlich herbeigeführte oder billigend in Kauf genommene Schäden bzw. für zugefügtes Unrecht. Restitutionspflicht kann bestehen bei Eigentumsbeschädigungen, bei Verletzung der Ehre, bei Verletzung von Leib und Leben des Anderen, bei Verletzung der Keuschheit. Diese Verpflichtung ist sogar in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen worden. Der §823 im BGB bestimmt: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet.“ Was hier vom Recht gefordert ist, ist auch eine Verpflichtung der Moral. Am deutlichsten ist natürlich diese Verpflichtung beim Eigentum. Wer das Eigentum eines anderen sich angeeignet hat oder beschädigt hat, ist verpflichtet, die entwendete Sache zurückzugeben oder den angerichteten Schaden zu reparieren. „Res clamat ad dominum“, haben schon die alten Römer gelehrt: Die Sache, das Eigentum ruft nach dem Eigentümer. Die Pflicht zum Ersatz entwendeten oder beschädigten Eigentums reicht vom Mitgehenlassen von Büromaterial bis zum geistigen Diebstahl, dem Plagiat. Die Pflicht zur Wiedergutmachung besteht auch bei Verfehlung gegen den guten Ruf eines anderen. Wer die Ehre des Nächsten antastet, hat die Pflicht, die Schädigung nach Möglichkeit auszugleichen, d.h. der Verleumder muss Widerruf leisten, der Beleidiger muss Abbitte leisten, der Ehrabschneider hat den guten Ruf nach Kräften wiederherzustellen. Verletzungen von Leib, Leben und Keuschheit können freilich nicht wie materielle Schädigung repariert werden. Das positive Gesetz allerdings legt eine angemessene Entschädigung auf im §847 und im §1300 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Die Pflicht zur Wiedergutmachung kann auch gegenüber dem Staat bestehen. Der Staat hütet die Güter der Kultur: in Sammlungen, in Museen, in Galerien. Beschädigung staatlichen Besitzes, z.B. durch Zerreißen eines Bildes in einer Bildergalerie oder durch die ungerechte Entwendung, verpflichtet zur Restitution. Näher liegt uns freilich die Verletzung der Steuerpflicht. Die Steuerpflicht ergibt sich aus der Natur des Staates und dem Zweck des Gemeinwohls. Der Staat hat das Recht, Steuern von seinen Bürgern zu verlangen. Die Steuer ist eine pflichtmäßige Zwangsabgabe zu den öffentlichen Lasten und Aufwendungen. Wer die Steuerpflicht in wahrnehmbarem Maße verletzt, ist gehalten, Entschädigung zu leisten. Das ist freilich nicht sehr einfach; manchmal ruft der Staat auf, die Steuerhinterziehungen bekanntzumachen, weil man dann glimpflicher behandelt wird. Aber in jedem Falle: Die moralische Pflicht bleibt bestehen, hinterzogene Steuern auf irgendeine Weise wiedergutzumachen.

Wenn wir also jetzt, meine lieben Freunde, oder in Zukunft die Bitte und das Versprechen vorbringen: „O Herr, habe Geduld mit mir, ich werde dir alles bezahlen“, dann wissen wir, was das bedeutet. Die Bitte geht dahin, dass Gott oder die Menschen uns noch Zeit lassen, unsere Schuld zu begleichen. Dass wir also nach Möglichkeit noch so lange leben und wirken dürfen, bis die Schuld bezahlt ist. Das Versprechen beinhaltet, dass wir entschlossen sind, unsere Schuld abzutragen. Ich werde, ich will; das ist das Bekenntnis eines festen Entschlusses, einer entschiedenen Selbstverpflichtung. Aber es bleibt eine doppelte Ungewissheit. Erstens: Ob uns Gott und die Menschen die Zeit, die wir zu benötigen meinen, unsere Schulden zu bezahlen, gewähren werden, das wissen wir nicht. Ob wir uns in der geschenkten Zeit, zweitens, fähig sind, alles zu bezahlen, wessen wir schuldig sind, ist ebenfalls ungewiss. Aber diese doppelte Ungewissheit darf uns nicht abhalten, mit dem Bezahlen zu beginnen. Gott sieht auf den guten Willen und den Entschluss. „Ich will mich bemühen, Gott Ehre einzulegen. Ich will mich bemühen, die Kirche mit meiner Person zu zieren. Ich will mich bemühen, für Gottes Sache einzustehen und zu werben. O Gott, lass mich dir würdig und gebührend dienen.“

Amen.

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