24. Juli 2016
Ehre und Ehrenhaftigkeit
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Ein Jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden. Aber wer sich erniedrigt, wird erhöht werden. Diese Botschaft klingt vielen Menschen fremd, ja unerträglich. Lieber hören sie schon, was ein Prophet der Neuzeit fordert: „Ihr sollt euch nicht nur fort-, ihr sollt euch hinaufpflanzen“ – Friedrich Nietzsche. Das fordert aber ein unablässiges Trachten nach Erhöhung und Flucht vor Erniedrigung. Der hochgemute Mensch, der heroische Mensch, der sucht Ehre. Aber wie vertragen sich Ehre und Selbsterniedrigung? Wie soll Selbsterniedrigung Ehre schaffen? Viele machen sich nicht die Mühe, überhaupt noch so zu fragen. Ihnen ist das Christentum etwas Verächtliches, Unwürdiges, Überwundenes, eben weil es Selbsterniedrigung unter die Tugenden zählt. Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Es sei gar nicht geleugnet, dass der Anblick mancher Christen, die feige sind statt gottesfürchtig, kriecherisch statt gottergeben, verlogen statt wahrhaftig, ein solches Aburteilen zu rechtfertigen scheint. Aber ihre so genannte Demut ist kein wahres Christentum. Sie haben das Wort Jesu falsch verstanden. Hat nicht Jesus selbst Ehrgefühl gezeigt? Hat er nicht seine Ehre gewahrt wissen wollen? Er wirft seinen Feinden vor: „Ihr entehrt mich.“ Jesus beanspruchte also das Recht auf Ehrung durch die Menschen. In seinen Augen war die Ehre der Menschen etwas Schätzenswertes, obwohl er nichts von seiner inneren Hoheit verlor, wenn die Menschen ihm die Ehre verweigerten.
Ehre, meine lieben Freunde, ist der innerlich bewusste wie der nach außen reflektierte Ausdruck eines wertvollen Seins. Die Ehre als guter Ruf und praktisch würdige Behandlung in der Gesellschaft ist Gegenstand eines natürlichen und subjektiven Rechtes. Jeder Mensch hat Anspruch auf Achtung und Ehre. Manche Stände haben einen eigenen Ehrenkodex ausgebildet. Es gibt eine Ehre des Handwerkers, eine Ehre des Soldaten, eine Ehre des Arztes. Wer sich gegen diesen Ehrenkodex verfehlt, leidet Einbuße an seiner Ehre. Das staatliche Recht kennt die Ehre als das Maß an Achtung, das jedem unbescholtenen Menschen zusteht. Die Ehre ist Ausfluss der Menschenwürde. Sie ist strafrechtlich und zivilrechtlich geschützt. Bei schuldhafter Verletzung der Ehre besteht Anspruch auf Schadenersatz. Das erste und höchste Gut im Christentum ist die Lauterkeit, die Rechtschaffenheit, die Unbescholtenheit, die Gottähnlichkeit im Wesen und im Handeln. Man kann sie auch als innere Ehrenhaftigkeit bezeichnen. Sie wird, auf das eigene Handeln und auf die eigene Einstellung bezogen, auch als Selbstachtung bezeichnet, als innere sittliche Würde. Sie erwächst aus der Übereinstimmung des Wollens und Handelns mit dem Willen Gottes. Wer den Gehorsam gegen Gott übt und im Frieden mit Gott lebt, der besitzt die innere Ehrenhaftigkeit. Und Gott selbst erkennt sie an. Er sieht sie mit Freuden, diese innere Ehrenhaftigkeit, die seinem Sohne bezeugt ist: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.“
Es erhebt sich dann die Frage: Darf und muss äußere Anerkennung der inneren Ehrenhaftigkeit vom Christen als gut erstrebt werden? Jedes einwandfreie Lehrbuch der katholischen Sittenlehre sagt uns: Jeder Mensch hat das Recht und die Pflicht, nach dem Besitz äußerer Ehre zu trachten und diesen Besitz zu erhalten. Jeder muss den eigenen guten Ruf nach seinem wahren Wert schätzen, bewahren und unter Umständen verteidigen. Die Sorge für den guten Ruf liegt aber nicht zuerst in dem bewussten Streben danach, sondern zuerst und hauptsächlich in der selbstlosen Pflege der inneren Tugenden. Wir müssen innerlich reich sein, damit auch die Menschen äußerlich uns mit Recht Ehre erweisen können. In manchen Fällen macht die soziale Selbsterhaltung oder die Standesehre oder das kirchliche oder staatliche Amt die Abwehr von ehrenrührigen Behauptungen zur Pflicht. Wem zu Unrecht vorgeworfen wird, er habe seine Doktorarbeit abgeschrieben, also ein Plagiat begangen, der kann sich dagegen wehren. Ein Sportler, dem unterstellt wird, er nehme leistungssteigernde Medikamente, er betreibe Doping, darf und muss sich dagegen wehren. Man darf sich zur Wehr setzen gegen Verunglimpfung und Diffamierung der eigenen Ehre. Es ist eine heilige Pflicht, auch die Ehre unserer Kirche zu erhalten und zu wahren, zu schützen und zu verteidigen. Als die Stadt auf dem Berge soll sie den Menschen in ihrem göttlichen Ursprung, in ihrer unersetzlichen Aufgabe und in ihrem beispiellosen Nutzen dargetan werden. Wir sollen die Ehre unserer Kirche schützen gegen ungerechtfertigte Angriffe, Unterstellungen und Verleumdungen. Vor einiger Zeit hat ein Autor die katholische Kirche als die „größte Verbrecherorganisation aller Zeiten“ bezeichnet. Der Kirche werden Vorwürfe gemacht wegen ihrer Geschichte. Ich nenne die Stichworte Heidenbekehrung, Kreuzzüge, Inquisition. Alle diese Vorwürfe, meine lieben Freunde, beruhen auf ungenügender Kenntnis der Geschichte. Ohne der Wahrheit zu nahe zu treten, lassen sie sich entweder widerlegen oder auf das rechte Maß zurückführen. Selbstverständlich sind die Glieder der Kirche auch Anschauungen der Zeit verhaftet. Sie sind nicht fähig, sich immer und überall über die üblichen Ansichten zu erheben und unglückliche Praktiken zu vermeiden, aber sie haben sich in ihrem ganzen Tun um Redlichkeit und Rechtlichkeit bemüht, sie haben ihre Verantwortung vor Gott stets vor Augen gehabt. Die Kreuzzügler, meine lieben Freunde, waren keine Banditen, und die Inquisitoren waren keine Sadisten. Sie haben auf ihre Weise versucht, Gott zu dienen und den Menschen zu nützen. In jüngster Zeit wird Stimmung gemacht gegen die Kirche mit der Aufdeckung von Missbrauchsfällen. Ich frage: Wem ist damit gedient, dass angebliche oder wirkliche Verfehlungen, die vor 60, 70 Jahren geschehen sind, heute auf dem Parkett der Öffentlichkeit vorgetragen werden? Wem ist damit gedient, und wer kann sich gegen diese Beschuldigungen wehren, wenn die Beteiligten längst gestorben sind? Es hat Verstöße und Fehltritte gegeben, aber berechtigt das, von einem „Abgrund der Kirche“ zu sprechen, wie das die Mainzer Zeitung tut? Wir sollen der Kirche Ehre einlegen mit unserer Persönlichkeit, mit unserem lauteren Charakter, mit unserer sittlichen Unbescholtenheit, mit unserer beruflichen Leistung, mit unserer Dienstbereitschaft in der Gesellschaft. Wir brauchen unsere Vorzüge und Verdienste nicht zu verdecken, denn der Herr sagt selber, es solle jeder sein Licht leuchten lassen vor den Menschen, „damit sie eure guten Werke sehen und den Vater im Himmel preisen“. Wir brauchen nicht auf verdiente Ehre zu verzichten. Wir brauchen uns nicht selbst herabzusetzen. Wir sollen vielmehr dankbar sein gegen Gott, der uns ermöglicht hat, Gutes zu tun.
Die Ehre ist eine Vorbedingung einer guten Lebensleistung in der Welt. Von einem Menschen, der keine Ehre besitzt, nimmt niemand einen Knochen an. Wer nicht geachtet wird, der kann nichts wirken unter den Menschen. Und das Ehrgefühl unterstützt auch das edle Streben in uns, es treibt uns stets aufs Neue an und führt uns zur Höhe, ebenso wie es vor allem Herabsinken und Versagen schützt: Das kann ich mir nicht antun; das ist auch ein Motiv, das Böse zu meiden, ein gültiges Motiv. Und schließlich nimmt, wer auf eigene Ehre nichts gibt, auch dem Vater im Himmel die Ehre, der uns die guten Taten mit seiner Gnade ermöglicht hat. Darum schließen sich Demut vor Gott und wahres Ehrgefühl vor den Menschen nicht aus. Im Gegenteil: Von jedem echten Christen wird die Welt bewundernd sagen können, was Rousseau einmal von dem Prinzen Eugen von Savoyen gesagt hat: „Nie war in einem anderen Manne so viel Einfachheit wie Größe vereinigt“, und der Prinz Eugen war ein gläubiger katholischer Christ. Allerdings muss der Mensch auch wahrhaftig gegen sich selbst bleiben. Mangelhaft ist die Willensbildung eines Menschen, der nicht die Grenzen seines Wissens und Könnens sieht und damit die Fülle vergleicht, was man wissen kann, was aber auch er nicht weiß, was man können sollte, was aber auch er nicht kann; das muss bescheiden machen. Die größten Gelehrten waren auch die bescheidensten. Von Ampère, dem großen Physiker und Mathematiker, stammt das Wort: „Wie groß ist Gott, und unser Wissen ist ein Nichts!“ Ebenso steht es mit der Bildung des Charakters. Was ist alle menschliche Tugend gegen die Heiligkeit Gottes? Gerade die würdigsten Menschen haben sich am unwürdigsten gefühlt, denn sie hatten eben eine größere Einsicht, eine bessere Einsicht als andere. Sie waren sich auch ihrer größeren Verantwortung bewusst. So kamen sie dazu, sich selbst als die größten Sünder zu bezeichnen, nicht weil sie unehrlich waren, sondern weil sie eine solche erschütternde Erkenntnis von sich selbst und von Gott hatten. „Seid heilig, wie ich heilig bin“, spricht der Herr; das ist das Maß unserer Tugend, unseres Tugendstrebens.
Auch wer dem Ideal des Christentums, das die Ehre des Menschen in die Gottähnlichkeit setzt, seine Größe nicht abspricht, wird zuweilen das Empfinden haben, die Lehre Christi verlange im Einzelnen Leistungen, die einem ehrliebenden Menschen das Ehrgefühl zu verbieten scheinen. „Schlägt dich jemand auf die rechte Wange, so halte ihm die linke hin. Nimmt dir jemand den Mantel, lass ihm auch den Rock. Wer dir das Deinige nimmt, von dem fordere es nicht zurück“, das sind Äußerungen Jesu, über die manche straucheln. Aber straucheln wird nur, wer den Buchstaben betrachtet und nicht den Sinn. Hier räumt Gott nicht dem kleinlichen, dem erbärmlichen Menschen die Freiheit ein, der Ehre eines anderen nahezutreten. Die beste Ausdeutung dieser Worte gibt uns der Herr selber. Als er bei dem Verhör vor dem Hohenpriester geschlagen wurde, da hat er dem Knecht, der ihn schlug, nicht die andere Wange hingehalten, sondern er hat ihm gesagt: „Habe ich unrecht geredet, so beweise das Unrecht. Habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“ Diese Sätze, die ich vorhin zitiert habe, dass man dem Unrecht nicht widerstehen solle, haben einen Sinn, und dieser Sinn heißt: Du musst in jedem Falle verzichten auf Vergeltung. Es mag einem Menschen noch so Schlimmes widerfahren sein, er darf sich an seinem Widersacher nicht rächen. Unrecht darf nicht mit Unrecht erwidert werden. Nicht einmal das hat Gott uns untersagt, dass wir Gewalt im Notfall mit Gewalt abwehren. Die Kirche hat immer die Überzeugung vertreten: Es ist bei ungerechtem Angriff möglich, Notwehr zu üben, in den rechten Grenzen und ohne inneren Hass. Was stets verboten bleibt, ist das Handeln aus Hass, aus Zorn, aus Rachsucht. Wer gehässig ist, der ist vom Gegner schon innerlich besiegt, der begibt sich auf dieselbe Ebene wie der andere, der ihn geschlagen hat. Die wahre Manneskraft liegt nicht in den Fäusten, sondern im Charakter.
Das ist die wichtigste Leistung christlicher Überzeugung für ein ehrenvolles Leben, dass sie den Menschen innerlich ehrenhaft macht und erhält. So wird der wahre Christ nichts so sehr verabscheuen wie die innere Unehrenhaftigkeit, den inneren Ehrverlust, der mit jeder Unwahrhaftigkeit ohne weiteres gegeben ist. „Ein hässlicher Schandfleck am Menschen ist die Lüge“, heißt es in der Heiligen Schrift. Ehre ist mit Ehrlichkeit sprachlich und sachlich verwandt. Im Vertrauen auf göttlichen Ehrenschutz wird der Christ auf alle Listen und Betrügereien verzichten. Ebenso wenig wird er äußeres Hab und Gut überschätzen, dass er dafür das Wohlgefallen Gottes opferte, und vor allem sich Sichwegwerfen an verbotenen Genuss bewahrt ihn die Hochschätzung der Gnadengeschenke Gottes. Es ist das christliche Ehrbewusstsein, das angesichts von Verlockungen und Versuchungen spricht: Ich bin zu Höherem geboren. Die sittliche Ehrliebe ist ein Teil der sittlichen Selbstliebe. Der Ehrgeiz ist dem Menschen angeboren, ist eine natürliche Neigung. Ehrgeiz ist das Streben, andere an Ehre, Geltung, Macht und Ruhm zu erreichen oder zu übertreffen. Solange der Ehrgeiz auf die Anerkennung der eigenen Leistung durch andere zielt, dient er der Förderung des eigenen Selbstwertbewusstseins. Solange Ehrgeiz Anerkennung für die wirkliche Leistung sucht, äußert er sich als normaler Antrieb im Wetteifer und kann als Erziehungsmittel dienen. Man könnte diese Form des Ehrgeizes als gesunden Ehrgeiz bezeichnen. Ehrgeiz wird freilich sittlich fragwürdig, wenn der Ehrgeizige andere in den Schatten zu drängen sucht, wenn er eigene Leistung vortäuscht. Übersteigerter Ehrgeiz wird zum Selbstzweck, zur ungesunden Ehrsucht. Er kann aus einem Minderwertigkeitsgefühl und dem Versuch entstehen, eigene Schwächen vor sich und anderen zu verbergen. Nein, der kleinliche, falsche Ehrgeiz sieht die fremde Ehre als einen Schaden der eigenen Ehre an und setzt sie neidisch herab. Achtbar und ehrwürdig muss uns die Ehre anderer Menschen sein. Wer den Mitmenschen ehrt, vollzieht seine eigene Ehrenhaftigkeit. Die Ehre, die wir anderen erweisen, ist ein Dienst an ihnen. Die von uns ihnen erwiesene Ehre ermuntert sie, tröstet sie, richtet sie auf, und deswegen muss die Ehre des Mitmenschen aus Gründen der Gerechtigkeit geschont und geachtet werden, aus Gründen der Liebe und des Gemeinsinns sogar positiv gefördert werden. Wahre Ehrliebe ist gern bereit, auch fremde Vorzüge anzuerkennen und bewundernd nachzuahmen. Die Achtung und Anerkennung, die wir anderen erweisen, stärkt ihr berechtigtes Selbstwertgefühl, bewahrt sie vor dem Abgleiten. Es ist so wichtig, Kinder zu ermutigen, indem man ihre Leistung anerkennt, und es ist eine Weise, wie man Kindern Ehre erweist. Wir schonen die Ehre unserer Mitmenschen, indem wir ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten verschweigen oder milde zu erklären versuchen. Ehrabschneidung macht verborgene Fehler der Mitmenschen offenbar. Wem ist damit gedient? Aus sich nichts machen und andere gern für besser und höher halten als sich selber, das ist große Weisheit und Vollkommenheit. „Wie magst du dich auch nur über einen einzigen Menschen erheben?“, fragt der Verfasser des Buches von der „Nachfolge Christi“. „Es schadet dir nicht, wenn du dich allen nachsetzest, aber es kann dir sehr schaden, wenn du dich nur einem Einzigen vorsetzest. Gebrechlich sind wir alle, aber halte niemanden für gebrechlicher als dich selbst.“ Alle diese Weisungen, meine lieben Freunde, habe ich aus dem Buch der „Nachfolge Christi“ herausgezogen und sie sind Weisheit im höchsten Maße. Keine Ehrenforderung des Menschen kann höher zielen als die Ehrenforderung Gottes. Wer vor Gott bestehen will und innig wünscht, dieses Schwere möge ihm gelingen, der wird demütig rufen: „Herr, steht mir bei!“ oder „Herr, sei mir Sünder gnädig!“
Amen.