Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. Juni 2016

Die Notwendigkeit der Gottesverehrung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Ich war einmal Zeuge, wie eine Dame in einem Abteil des ICE sagte: „Wer geht denn heute noch in die Kirche?“ Man braucht keinen Gottesdienst, Hauptsache man ist ein anständiger Mensch. Allerdings bestimmen diejenigen, die das sagen, selbst, was anständig ist. Jedenfalls gehört für sie nicht dazu, zu beten und den Gottesdienst zu besuchen. Wer geht denn heute noch in die Kirche? Woher kommt diese Meinung, dass man den Gottesdienst nicht brauche, dass es überflüssig sei, Gottesdienst zu besuchen? Es lässt sich dafür ein Name nennen: Es ist der Philosoph Immanuel Kant, der von 1724 bis 1804 in Königsberg in Ostpreußen lebte. Von ihm geht eine völlige Verkehrung des religiösen und des sittlichen Verhaltens aus. Nach ihm gibt sich der Mensch das Gesetz des sittlichen Verhaltens selbst; er ist autonom, selbstgesetzlich. Wenn zu dem autonomen sittlichen Verhalten das Postulat des vergeltenden Gottes hinzutritt, lernt der Mensch das von ihm aufgestellte Vernunftgesetz auch als Gottesgesetz achten. „Religion“, so sagt Kant wörtlich, „ist die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.“ Darin besteht nach ihm die Religion, nur darin. Jede Kult- und Gebetsbeziehung zu Gott ist nach Kant überflüssig, ja schädlich, weil sie der als Gottesdienst ausgegebenen Erfüllung der irdischen Pflichten Abbruch tut. „Alles“, ich zitiere Kant wieder wörtlich, „was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes“ – bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes. So verfährt Kant mit dem Gottesdienst der christlichen Kirche. Gottesdienst ist überflüssig, ja sinnlos. „Das Beten“, wiederum Kant, „als ein innerer förmlicher Gottesdienst und darum als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn.“ Nun könnte man ja denken: Das ist halt ein Spinner gewesen, der seine verwerflichen Äußerungen gemacht hat. Aber Kant war kein Spinner. Er gilt als der bedeutendste deutsche Philosoph. Viele haben seine Ansichten übernommen, viele Philosophen. Es gibt eine deutsche Kantgesellschaft, es gibt Kantianer und Neukantianer. Vor allem sehr viele protestantische Theologen schlossen sich der Philosophie Kants mit größeren oder geringeren Modifikationen an. Kant gilt als der Philosoph des Protestantismus. Diese Ansichten von Kant sind in die Gesellschaft abgesunken und haben dort ein kultfeindliches Klima erzeugt. Wie sagte die Dame im ICE: „Wer geht denn heute noch in die Kirche?“ Die Folgen dieser Entwicklung sind fatal. Der Sinn für den Gottesdienst und für die Teilnahme am Gottesdienst sind Millionen Menschen geschwunden. Das Verständnis für die Gottesverehrung ging weithin verloren. Kultmüdigkeit, vielleicht sogar Kultunfähigkeit ist an die Stelle getreten. Man braucht nicht zu beten, man braucht nicht den Gottesdienst zu besuchen; das ist nur Verlust an Zeit. Der äußere Kult sogar gilt als minderwertig oder verwerflich. Meine lieben Freunde, diese Entwicklung ist von äußerster tragischer Wirkung.

Wir gläubigen Menschen wissen, dass Kant Unrecht hat, und wir können nachweisen, dass er Unrecht hat, aus dem Glauben und mit der Vernunft. Die Urkunde unseres Glaubens ist die Heilige Schrift. In ihr spricht Gott zu den Menschen. Die Heilige Schrift lehrt überall die Pflicht des Gottesdienstes. Das Zehn-Gebote-Gesetz behandelt an erster Stelle die Pflichten der Religion: keine fremden Götter, Gott die Ehre geben, seinen Tag heiligen. Im Alten Bunde finden wir einen reich ausgestatteten Kult, Gottesdienst, der auf Gott selbst zurückgeführt wird. Propheten und Psalmen schärfen den rechten Geist der Gottesverehrung ein. Unser Herr und Heiland, Jesus Christus, hat zweifellos am jüdischen Gottesdienst teilgenommen. Er ist in den Tempel gegangen, er hat den häuslichen Gottesdienst gehalten, er war beim Osterfest. Er sucht auf Erden die Ehre des Vaters, verbringt ganze Nächte im Gebet. Er schenkt uns das Gebet des Vaterunsers. Er setzt das Opfer des Neuen Bundes ein, er kündigt an: „Von nun an werden die wahren Anbeter den Vater im Geiste und in der Wahrheit anbeten.“ Die Apostel haben die Verkündigung des Herrn weitergetragen. Paulus mahnt die Gemeinden zur religiöser Betätigung. Er sieht die große Schuld der Heiden darin, dass sie Gott kannten und ihn doch nicht verehrt haben, wie es angemessen gewesen wäre. Die Kirche Christi pflegte von Anfang an einen Gebets- und Opferdienst; dem einen Glauben stand der eine Altar zur Seite. Und den Heiden erschienen die Christen als das betende Volk. Von der Zeit der Katakomben an war die kirchliche Liturgie verpflichtend. Sie entwickelte sich im Kirchenjahr zu einer großartigen Verherrlichung Gottes. Und noch heute steht im kirchlichen Gesetzbuch: „Jeder katholische Christ ist verpflichtet, an Sonn- und Feiertagen eine heilige Messe zu besuchen.“

Aber jetzt die entscheidende Frage: Warum ist die Teilnahme am Gottesdienst für jeden katholischen Christen, ja für jeden Menschen verpflichtend? Warum genügt es nicht, wenn man sittlich einwandfrei lebt? Warum macht man sich schuldig, wenn man den Gottesdienst grundlos nicht besucht? Grundlegend für das Gebot, am Gottesdienst teilzunehmen, ist die Existenz Gottes. Gottesdienst ist notwendig, weil Gott existiert. Gott ist der unendlich vollkommene Geist, der Schöpfer Himmels und der Erde, der eine Gott, der in drei Personen existiert. Die Pflicht zur Anbetung ergibt sich aus seiner Existenz. Der Mensch schuldet Gott Anerkennung. Diese Anerkennung geschieht in der Anbetung. Der Glaube, der uns gewiss macht, dass Gott existiert, dass er den Menschen erschaffen hat, dass wir seine Geschöpfe sind, lehrt uns, dass wir uns um diesen Herrn kümmern müssen, ihm die Ehre erweisen müssen. Der Mensch muss Gottes Oberherrlichkeit anerkennen, wenn er seinsgerecht leben will, seinsgerecht, also als Geschöpf, also als abhängig von Gott. Und diese Abhängigkeit, diese Geschöpflichkeit tut sich kund im Kult, im Gottesdienst, im Gebet, im Opfer. Der Mensch muss die Herrlichkeit und die Schönheit, die Heiligkeit und die Würde Gottes anerkennen, er muss Gottes Macht und Güte loben, wenn er wahrhaftig sein will. Die ganze Schöpfung tut es: die Steine, die Pflanzen, die Berge, die Täler, die Tiere. Sie rühmen den, der sie geschaffen hat: „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre.“ Dieses wunderbare Lied hat Beethoven vertont. Da darf der Mensch nicht stumm bleiben. Wer Gott nicht anbetet, verfehlt sich gegen seine wesentliche Eigenschaft als Geschöpf. Wer keinen Gottesdienst übt, verliert eine ganze Dimension des Menschen. Von der heiligen Theresia von Avila stammt das Wort: „Ein Wesen, das nicht betet, ist entweder ein Tier oder ein Teufel.“ Der Gottesdienst, die Teilnahme am Gottesdienst ist Ausdruck der Einzigartigkeit des Menschen unter den irdischen Geschöpfen. Kein Tier betet, aber Tiere, Pflanzen und Steine preisen Gott durch ihr Dasein, durch ihre Tätigkeit, durch ihre Angepasstheit, durch ihre Intelligenz, durch ihre Entwicklung; aber beten können sie nicht. Das Gebet ist dem Menschen vorbehalten und aufgegeben. Im Gottesdienst erinnert sich der Mensch an seine Herkunft von Gott, an seine Gottähnlichkeit und an seine Gottbestimmung. Er wird frei vom Druck der Welt und erlangt die innerlich beglückende Ruhe, die ihn im irdischen Arbeitsbetrieb aufrecht erhält.

Im Einzelnen kann man die Notwendigkeit des Gottesdienstes in folgenden Überlegungen begründen: Wer einen Herrn über sich weiß, muss nach dem Willen dieses Herrn forschen. Er muss dem, dem er untertan ist, gehorchen, kann es aber nur, wenn er seinen Willen erkennt. Der Mensch ist nicht autonom, er gibt sich das sittliche Gesetz nicht selbst; Gott ist der Urheber des sittlichen Gesetzes. Er sagt, was der Mensch tun und lassen muss. Und die Suche nach Gottes Willen in jeder Situation des Lebens ist Gottesdienst, wahrer und unerlässlicher Gottesdienst. Und erst recht die Erfüllung des erkannten Willens Gottes, das ist Gottesdienst, ja, das ist richtig. Aber das allein genügt nicht. Der Mensch muss den göttlichen Gesetzgeber ehren. Wer Gott im Glauben als den Spender aller Gaben erkennt, muss sich dankbar erweisen. Ein undankbarer Mensch ist ein verkümmerter Mensch. Und wer sich gegenüber Gott nicht dankbar erweist, der ist ein verlorener Mensch. Mögen noch so viele Zwischenursachen die Gaben Gottes zu uns bringen, so steht doch am Ursprung einer jeden Ursachenreihe der unermessliche Gott. Und seine Geschenke fordern die Dankbarkeit der Menschen heraus; es besteht die Pflicht des Dankgebetes. Ähnlich ist es mit dem Bittgebet. Der Mensch erkennt seine Hilflosigkeit. Wie hilflos sind wir gegenüber den Gewittern, die über uns hereinbrechen. Der Mensch erkennt seine Hilflosigkeit und seine Bedürftigkeit. Um ihr abzuhelfen, ist es notwendig, Gott anzugehen, ihn zu flehen, ihn zu bitten. Das Bittgebet ist für das menschliche Geschöpf unverzichtbar.

Der Gottesdienst, der Besuch des Gottesdienstes ist notwendig, um Gott kennenzulernen und seinen Willen zu erfahren. Hauptsache, man ist ein anständiger Mensch, sagen viele. Aber woher weiß man denn, was anständig ist? Woher weiß man das, ohne dass man die Gebote Gottes kennt? Hier macht man sich selbst wieder ein Bild von Anständigkeit. Was anständig ist, das lernt man in der heiligen Messe, in der Predigt. Die Handlungen und Gesten der heiligen Messe, die Worte und Gebote und die Gebete in der heiligen Messe und die Verkündigung, die klären den Menschen darüber auf, was Gott von ihm will, was er Gott schuldig ist. Wer den Gottesdienst besucht, der wird ausdrücklich dazu aufgefordert, sich auf jene Tiefendimension des Lebens zu besinnen, die im Alltagsleben fast immer verborgen bleibt. Im Gottesdienst wird den Besuchern stets aufs Neue gesagt: Euer Leben ist in Gott geborgen. Ihr seid erlöst, ihr seid mit Christus, dem Heiland, verbunden durch die Taufe, durch den Glauben, durch die heilige Kommunion; einen tieferen Sinn kann dein Leben nicht mehr bekommen. Wo sonst, meine lieben Freunde, wird den Menschen ein solches Maß an Heil und Sinn des Lebens zugesprochen wie im Gottesdienst? Das Arbeiten und Schaffen leidet durch die Übung der Gottesverehrung keinen Schaden. Wer richtig betet, der arbeitet auch richtig! Das Gebet adelt und fördert die Arbeit. Der Tag des Herrn ist auch der Tag des Segens. Die menschliche Sittlichkeit wird zielsicher und einheitlich, edel und lebendig durch den Anhauch von „oben“.

Nun könnte man denken, es genüge, Gott mit inneren Akten zu ehren, also den Geist zu Gott zu erheben, wortlos oder auch mit Worten, für sich allein im Kämmerlein zu beten. Muss man auch äußerlich und öffentlich den Kult darbringen? Die Tatsache der Menschwerdung des Gottessohnes ist der entscheidende Grund für den äußeren und öffentlichen Gottesdienst. Wenn Gott, der erhabene Gegenstand unseres Kultes, im Fleische erscheint, muss der Dienst, den sterbliche Menschen Gott erweisen, ein geistig-leiblicher sein. Die Natur des Menschen – Geist und Leib – und die Natur der menschlichen Gesellschaft drängen zur äußeren und öffentlichen Kultübung. Beim Einzelmenschen strömt die innere religiöse Ehrfurcht psychologisch auf das sinnliche und leibliche Sein und Handeln über. Es äußert sich in Wort und Gesang, in Haltung und Gebärde. Deswegen gehört zur Tugend der Gottesverehrung innere Zuwendung zu Gott und nach außen hervortretende Bezeugung der Verherrlichung Gottes. Das innere anbetende Sich-Hinwenden zu Gott hängt auch von dem äußeren Vollzug ab. Ohne diesen ermattet die innere Hinwendung, verarmt sie und erstirbt schließlich ganz. Für die Gesellschaft und ihre Kultur ist der äußere sichtbare Gottesdienst ebenso pflichtgemäß und auch heilsam. Religion ist keine Privatsache, Religion ist eine öffentliche Sache, ist eine Staatsangelegenheit. Einerseits hegt die Öffentlichkeit den religiösen Kult, sowohl die subjektive Frömmigkeit als auch die objektive Ehre Gottes. Die subjektive Frömmigkeit wird gehoben durch das Beispiel und das Gemeinschaftserlebnis. Die objektive Ehre Gottes wird gefördert durch den Zusammenklang aller Völker und durch würdige Formen. Andererseits wirkt die Religionsübung fördernd auf die öffentliche Gesittung. Sie verbindet die Seelen, sie versöhnt die Klassen, sie befruchtet die Künste. Wie ist es doch ergreifend, dass die englische Königin offen ihren christlichen Glauben bekennt, den sie lebendig und tatkräftig praktiziert. Es wäre nützlich und erhebend, wenn die Abgeordneten des Bundestages am Beginn jeder Sitzungsperiode eine Generalbeicht ablegen würden, also ihre Sünden bekennen und einen Vorsatz fassen würden; was wäre das ergreifend.

Gottesdienst ist die Betätigung der Religion in ihrer unmittelbaren Beziehung zu Gott. Die Tugend der Religion hebt unsere geschöpfliche Verschiedenheit von Gott hervor und macht uns geneigt, unsere Abhängigkeit von Gott zu erkennen und in Akten der Anbetung – Danksagung und Bitte – zu bekunden. Der Zweck des Gottesdienstes ist ausschließlich Gottes Ehre. Auch wenn im Kult um Versöhnung mit Gott und Erlangung von Gnaden gerufen wird, zielen diese Akte in letzter Linie auf die Ehre Gottes. Der Gottesdienst ist frei von irdischen Zwecken. Sein Sinn und Zweck liegt darin, Gott anzubeten, zu verherrlichen, zu preisen. Uns nützt es, wenn wir den Gottesdienst besuchen; Gott nützt es nicht, aber er will, dass es uns nützen soll. Gott hat nichts von unserer Verehrung, aber wir haben etwas davon. Indem wir ihn verehren, wird unser Geist ihm untertan. Wer Gott nicht anbetet, verfehlt sich gegen die erste und wichtigste Pflicht seines Lebens. Er versäumt die Verwirklichung seiner Gottgehörigkeit. Er verstößt gegen sein Geschöpflichkeit. Wer die Akte der Gottesverehrung unterlässt, verweigert Gott die schuldige Ehre. Es fehlt ihm eine ganze Seite, ja, die entscheidende Seite seines personalen Seins. „Ein Wesen, das nicht betet, ist entweder ein Tier oder ein Teufel“, sagt Theresia von Avila. Millionen Menschen in unserem Land, meine lieben Freunde, bleiben dem Gottesdienst fern. Ob sie wenigstens zu Hause beten? Wir wissen es nicht. Sie verhalten sich so, wie es Immanuel Kant empfohlen hat. Seien wir dankbar, dass wir Gottes Willen über uns Menschen kennen. Dass wir wissen: Gott will, ja, gebietet unseren Dienst in seinem Haus. Im Gebet und Gottesdienst verhalten wir uns seinsgerecht, vollziehen wir unsere Geschöpflichkeit und leben wir unsere Gotteskindschaft. Ich zitiere zum Schluss den Großstadtapostel von Berlin, Carl Sonnenschein, den ich seit meiner Jugend verehrt habe. Sonnenschein hat einmal geschrieben: „Geh nicht wegen des Priesters und nicht wegen der Predigt zum Gottesdienst, sondern Gottes wegen! Schau zum Hochaltar. Brennt die rote Lampe in der schwankenden Ampel? So brenne auch deine Seele zu Gott!“

Amen.

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