Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
17. April 2016

Das irrige Gewissen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag hatten wir versucht uns vorzustellen, was das Gewissen ist. Durch das Gewissen wird die objektive Gesetzesforderung subjektiviert und zur wirklichen Richtschnur menschlichen und menschenwürdigen Handelns. Die Vernunft hält dem Willen die Güter vor. Der Wille kommt der Erkenntnis entgegen, und so erfolgt die innere Bindung an die objektive Gesetzesverpflichtung und wird diese zur eigenen Forderung; sie zu verletzen ist Sünde. Das Gewissen ist eine Gabe Gottes. Es ist das in unser Inneres gelegte Mittel, den Weg zum Himmel zu finden. Dies geschieht, indem das Gewissen den Willen Gottes sucht und zu erfüllen versucht. Aber das Gewissen ist auch gefährdet wie alle Gaben Gottes. Es kann verbildet, missbraucht und verkehrt werden. Der Schriftsteller Erich Kästner hat einmal geschrieben: „Das Gewissen ist um hundertachtzig Grad drehbar.“ Deswegen müssen wir heute darüber nachdenken, wie es um das irrige und wie es um das wachsame Gewissen steht. Erstens bedenken wir das irrige Gewissen. Wenn das Gewissen – wie manche irrtümlich behaupten – eine unmittelbare übernatürliche Stimme Gottes wäre, könnte es nicht irren, denn Gott irrt sich nicht. Aber es ist eben nur eine innere Leuchtkraft, die in den Menschen gelegt wurde als Gewissensanlage. Auf dieser Gewissenanlage erhebt sich das sittliche Wissen, und das sittliche Wissen führt bei der Gelegenheit des Handelns zum Gewissensurteil. Aber das sittliche Wissen und das Gewissensurteil schöpfen ihre Kenntnis aus menschlichen und damit aus fehlbaren Quellen; sie sind also Irrtümern zugänglich. Irrtum ist ein falsches Urteil infolge von Unwissenheit. Das wahre Gewissen beurteilt als gut, was objektiv gut ist, und böse, was objektiv böse ist. Das irrende Gewissen beurteilt als gut, was objektiv böse ist, und als böse, was in sich gut ist. Man unterscheidet zwei Arten des Irrtums: den unüberwindlichen und den überwindlichen. Der unüberwindliche Irrtum besteht darin, dass das Gewissen so vollständig von der irrigen Ansicht eingenommen ist, dass es keine Möglichkeit hat, sie abzulegen. Trotz gehöriger Sorgfalt kann der Irrtum nicht beseitigt werden. Der Irrtum ist unüberwindlich, wenn er entweder als solcher gar nicht erkannt wird, oder wenn er trotz dieser Erkenntnis nicht abgelegt werden kann, weil die Möglichkeit zur Belehrung durch eigenes Nachdenken oder durch Autorität fehlt. Anders der überwindliche Irrtum. Überwindlich ist ein Irrtum, bei dem das Gewissen imstande und verpflichtet ist, den Irrtum abzulegen, aber es wendet nicht die nötige Sorgfalt an. Der Irrtum könnte bei gehöriger Sorgfalt beseitigt werden, aber das Gewissen verschafft sich nicht die nötige Belehrung.

Welches ist nun die pflichtmäßige Einstellung gegenüber dem irrigen Gewissen? Da lautet der erstaunliche Satz: Das unüberwindlich irrige Gewissen verpflichtet in derselben Weise wie das wahre Gewissen. Ich sage noch einmal diesen fundamentalen Satz: Das unüberwindlich irrige Gewissen verpflichtet in derselben Weise wie das wahre Gewissen. Warum und wieso? Ja, weil derjenige, der ein unüberwindlich irriges Gewissen hat, überzeugt ist, die Stimme Gottes in diesem Gewissen zu vernehmen, weil er dem Gewissensspruch so gehorcht, als ob es der wahre Wille Gottes wäre. Wer dem unüberwindlich irrigen Gewissen folgt, ist der Überzeugung, Gottes Willen zu tun und tun zu müssen, er hält für geboten, was ihm das Gewissen vorstellt. Solche Beispiele für das unüberwindlich irrige Gewissen gibt es schon in der Heiligen Schrift. Jesus spricht einmal von den Verfolgern der Christen: „Es kommt die Stunde, da jeder, der euch tötet, Gott einen Dienst zu tun meint“ – die Folge eines unüberwindlich irrigen Gewissens. Paulus hat uns ein anderes Beispiel überliefert. Es lebten ja damals in der Mehrzahl die wenigen Christen mit Heiden zusammen, und die Heiden opferten den Götzen. Sie opferten ihnen Fleisch, Götzenopferfleisch. Die Juden verboten den Genuss des Götzenopferfleisches. Paulus war anderer Ansicht. Es gibt keine Götzen und deswegen gibt es auch kein Götzenopferfleisch. Das Fleisch ist genau dasselbe wie anderes Fleisch; man kann es unbedenklich essen. „Aber“, sagt er, „wer beim Essen von Götzenopferfleisch daran zweifelt, ob er es essen darf, unsicher ist, ob er es essen darf, der ist verurteilt, wenn es isst, weil er gegen sein Gewissen handelt.“ Er hat zwar ein irrig gebildetes Gewissen, aber es schreibt ihm dies vor. Er handelt gegen seine Überzeugung, und „alles, was gegen die Überzeugung ist, ist Sünde.“ Es ist ungenau, zu sagen, das Gewissen sei immer wahr. Wahrheit ist Übereinstimmung des Denkens mit der objektiven Norm. Aber ein irriges Gewissen ist eben nicht wahr, weil es mit der Norm nicht übereinstimmt. Es wäre auch ungenau zu sagen: Folge deinem Gewissen und betrachte alles als objektive Sünde, was gegen dein Gewissen ist. Diese Rede wäre nur dann gültig, wenn das Gewissensurteil im gefallenen Menschen stets wahr und sicher wäre. Aber der Mensch kann eben einen falschen Syllogismus, eine falsche Schlussfolgerung ziehen. Oder er kann auch den richtigen Grundsatz falsch anwenden, er kann die objektive Wirklichkeit verkennen. Häretisch wäre es zu sagen: Allein dein Gewissen entscheidet, weil man die objektive von der Kirche verkündete sittliche Ordnung nach Art der Protestanten ablehnt. Ein Katholik darf nie sein subjektives Gewissensurteil gegen die verpflichtende Norm der Kirche stellen, denn die Kirche verkündet im Auftrag Gottes die sittliche Wahrheit.

Das überwindlich irrige Gewissen kann nur in sehr bedingter Weise Richtschnur des Handelns sein. Denn hier steht neben dem Urteil über eine zu vollziehende Handlung im Hintergrund eine Ahnung, dass es unrichtig sein könnte, eine Mahnung, es genauer zu prüfen. So darf die Vernunft sich hier nicht als Stellvertreterin Gottes ansehen. Man darf nicht gegen das überwindlich irrige Gewissen handeln. Man darf ihm aber auch nicht folgen. Es ist vielmehr Pflicht, den überwindlichen Irrtum zu überwinden. Wodurch? Durch Befragung von kompetenten Personen, durch eigenes Nachdenken, durch Gebet. Wie soll man sich im Gewissenszweifel verhalten, wenn man sich nicht sicher ist: darf man das tun, darf man es nicht tun? Nun, um sittlich einwandfrei zu handeln, ist es notwendig, dass das Gewissen zu der Folgerung kommt: Die Handlung ist unbedenklich, sie ist erlaubt. Es ist nicht gestattet, eine Handlung zu begehen, wenn man einen positiven Zweifel an der Erlaubtheit der Handlung hat. Da hat man die Pflicht, diesen Zweifel zu beheben, bis man die Gewissheit erlangt hat. Im anderen Falle würde man sich der sittlichen Weisung entziehen, man würde unsittlich handeln. Ja, das zweifelnde Gewissen weist selbst auf einen Irrweg hin, es erkennt die Möglichkeit der Sünde. Es setzt sich dann der Mensch auch bewusst der Gefahr der Sünde aus. Nein, man muss den praktischen Zweifel beseitigen. Aber wenn es nicht möglich ist, ihn zu beseitigen, was dann? Kann der Zweifel nicht gelöst werden, und muss man sich doch entscheiden, dann ist der sichere Weg zu gehen, also der Weg, der mit größerer Wahrscheinlichkeit von Gott gewollt ist. Man muss, wenn man zwischen zwei Übeln zu wählen hat, das geringere Übel wählen. Das sind die Grundsätze, meine lieben Freunde, über das irrige Gewissen.

Nun zweitens: das wachsame Gewissen, die Wachsamkeit des Gewissens, die Zartheit des Gewissens; das Gewissen soll nämlich wachsam und zart sein. Das Gewissen ist wachsam, wenn es nicht nur durch schwere Anstöße, durch außergewöhnliche Fragen, sondern auch durch kleinere Anlässe geweckt und zum Nachdenken angeregt wird. Das stumpfe, das schlafende Gewissen regt sich selten. Es warnt nicht vor der Tat und es macht auch nachher keine Vorwürfe. Dagegen das wache Gewissen bewirkt ein Aufmerken, ein rasches und leichtes Aufmerken auf die sittliche Seite des Verhaltens, eine gewissenhafte Fragestellung. Der Gegensatz des zarten Gewissens ist das laxe Gewissen. Das laxe Gewissen schwächt die Forderung ab. Ich habe einmal einen Herrn kennengelernt, der fortwährend die Rede führte: „Es ist alles Wurscht.“ Nein, meine lieben Freunde, es ist nicht alles Wurscht. Der Gegensatz des zarten und leichtfertigen Gewissens betrifft die rechte Antwort auf die gestellte Frage. Er bezieht sich auf den sittlichen Inhalt des zum Akt erwachten Denkens. Ein zartes Gewissen ist geneigt, auch die feinen Unterschiede in der Sittlichkeit zu beobachten. Der Mensch mit dem laxen Gewissen wird die Sittenregeln in weniger wichtigen Fragen abschwächen oder gar leugnen. Ein zartes Gewissen ist eben die Folge davon, dass man Gott ernst nimmt, dass man Gott liebt und dass man auch in geringen Dingen sich weigert, ihn zu betrüben. Das zarte Gewissen fällt einem nicht in den Schoß; es muss ausgebildet werden. Wodurch? Indem man sich belehren lässt, indem man durch Erziehung das Gewissen schult, indem man die niederen Leidenschaften beherrscht, indem man edle Gefühle pflegt und indem man beharrlich der Stimme des Gewissens folgt. Zu diesen psychologisch-ethischen Bedingungen kommt die religiöse Lebensführung. Wer von vornherein entschlossen ist, Gott zu dienen und zu folgen, der wird auch ein zartes Gewissen ausbilden. Wer regelmäßig Gewissenserforschung hält jeden Abend und vor jeder heiligen Beichte, wer sich prüft, der wird zu einem zarten Gewissen kommen. Das stumpfe Gewissen dagegen entsteht, wenn man die innere Selbstzucht vernachlässigt, wenn man großzügig ist gegenüber der sittlichen Forderung, wenn man sich den Sinnen überlässt und natürlich auch durch schlechte Erziehung. Im stark abgestumpften Gewissen erhebt sich sogar bei schweren Sünden kein fühlbarer, kein lebhafter Widerspruch. Es gibt Auswüchse und Fehlformen des wachen und zarten Gewissens. Das ist das ängstliche oder skrupulöse Gewissen. Skrupulosität ist eine Verfassung des Gewissens, bei der aus Furcht vor der Sünde sowohl die Wachsamkeit als auch die Zartheit des Gewissens krankhaft gesteigert sind. Das wachsame Gewissen reagiert auf ernste berechtigte Anlässe durch Aufmerken und Fragen, dagegen das skrupulöse Gewissen ist ungesund erregbar. Es stellt sittliche Erwägungen über Dinge an, die gar keine Sünde sind, die zweifellos erlaubt sind und bereits durch Belehrung oder eigenes Urteil sichergestellt sind. Ebenso ist hier die Zartheit des Gewissens einseitig überspannt. Es wird regelmäßig das Schlimmere angenommen und grundlos werden Sünden und Sündengefahren vermutet. Die näheren Merkmale der Ängstlichkeit sind also Erforschung des Gewissens über kleinliche, oft lächerliche Dinge, ruhelose Wiederholung des Nachdenkens, unnötige Fragen an den Priester, ängstliches Abwägen vor der Tat und Niedergeschlagenheit nach der Tat, grundlose Annahme einer schweren Sünde oder einer ungültigen Beichte, allgemeine zaghafte Besorgnis Gott gegenüber. Nun will ich nicht bestreiten, dass auch ganz normale Menschen gelegentlich solche Skrupel haben können. Man kann sich fragen: Habe ich alles richtig gebeichtet? Ehrlich gebeichtet? Vollständig gebeichtet? Aber was hier gemeint ist, dieser Zustand der Ängstlichkeit, das ist eine krankhafte seelische Erscheinung; man könnte sie als Angstneurose bezeichnen. Die Skrupel reihen sich den Zwangsvorstellungen an, also Vorstellungen, die sich als fremdartige und peinliche Elemente in das Seelenleben eindrängen und trotz hartnäckiger Bekämpfung immer wiederkehren. Die psychologische Wurzel ist eine krankhafte Furcht, und diese Furcht gewinnt neue Nahrung, indem man den Trieb hat, über immer neues Nachdenken zur Ruhe zu kommen. Ich habe einmal einen Priester kennengelernt, und ihn zu betreuen versucht, der Skrupulant war. Er hatte bei der Feier der heiligen Messe den Kelch mit dem kostbaren Blut des Herrn aus Versehen umgeschüttet. Er kam nicht darüber hinweg. Er war überzeugt, dass er sich die Exkommunikation zugezogen hatte, die dem Apostolischen Stuhl zur Lossprechung vorbehalten ist. Er veranlasste mich, den Papst anzugehen, um von der Strafe losgesprochen zu werden. Der Papst sprach ihn los, er gab ihm die Absolution, aber weit gefehlt, damit fand er keine Ruhe. Er hatte Zweifel, ob er den Vorgang richtig dargestellt hatte, ob er vielleicht doch aus Absicht gehandelt hatte und nicht aus Versehen. Er fand keine Ruhe. Skrupulosität kann man bekämpfen und heilen. Das wichtigste Heilmittel für Skrupulanten ist der willige und vertrauensvolle Gehorsam gegenüber dem Seelenführer, also normalerweise gegenüber dem Beichtvater. Dieser muss freilich eine besondere pastorale Klugheit besitzen. Er muss auch Liebe und Geduld beweisen, denn die Skrupulanten sind nicht mit einem Male zu heilen; das Leiden dauert oft lange Zeit. Gleichzeitig muss der Beichtvater entschieden und fest sein. Der Ängstliche soll das Urteil seines geistlichen Führers als sein eigenes wahres Gewissen betrachten. Weil sein Gewissen krank ist, muss er gewissermaßen stellvertretend das Gewissen des Beichtvaters als sein eigenes gelten lassen. Man kann ihm Regeln geben, z.B. die Regel, nie auf bloße Zweifel zu achten, sondern ausschließlich auf die klaren Gebote des Gewissens und dabei rückhaltlos den Befehlen des Beichtvaters zu folgen. Jede Selbsterforschung nach der Handlung, zumal nach inneren Versuchungen, ist zu meiden. Im Allgemeinen geschieht die Heilung durch Ablenkung des Geistes vom Ich. Denn manchmal sind Skrupulanten von einem geheimen Stolz erfüllt, sie bilden sich etwas ein auf ihre Skrupulosität, sie sind eben besonders gewissenhaft, meinen sie. Aber die Heilung muss statt des ängstlichen Strebens nach Heilsgewissheit die Ehre Gottes als Höchstes suchen, sie muss in ihrem Lichte sich ihrer kleinlich armseligen Haltung schämen. Die beste Ablenkung geschieht durch Arbeit, durch regelmäßige, fesselnde Arbeit.

Das Gewissen, meine lieben Freunde, ist eine Wirklichkeit. Wir spüren es alle. Wir haben das aktuelle Gewissen erkannt als jene Funktion im Menschen, in der die persönlich verpflichtende Forderung des sittlichen Sollens zum Bewusstsein kommt. Der Dichter Matthias Claudius hat einmal an seinen Sohn geschrieben: „Schaue immer so wenig wie möglich auf dich selbst. Scheue niemand so viel als dich selbst. Inwendig in uns wohnt der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr gelegen ist als an dem Beifall der ganzen Welt. Nimm dir vor, nichts wider seine Stimme zu tun. Was du sinnest und vorhast, schlage zuvor an deine Stirn und frage ihn um Rat. Er spricht anfangs nur leise und stammelt wie ein unschuldiges Kind, doch wenn du seine Unschuld ehrst, löst er gemach seine Zunge und wird dir vernehmlicher sprechen.“ So Matthias Claudius an seinen Sohn. Das Gewissen, meine lieben Christen, ist eine Gabe Gottes. Es soll uns der Führer zum Himmel sein. Aber es wird dies nur können, wenn wir immer beten: „Neige, o Herr, mein Herz zu deinen Geboten!“

Amen. 

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