Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. März 2016

Die Lehre Jesu über den Menschen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir versucht, uns vor Augen zu führen, dass Jesus auch durch sein Wort uns erlöst hat. Sein Wort ist ein erlösendes Wort. Und zwar an erster Stelle, weil er uns Gott in seinem wahren Wesen vorgestellt hat. Mit Gott macht man keine Geschäfte, Gott dient man selbstlos ohne Rücksicht auf Vergeltung. Und: Gott ist unser Vater, Vater in einem unbegreiflich erhabenen Sinne, der über jede irdische Vaterschaft hinausgeht. Heute wollen wir diese Überlegungen fortsetzen und hören, was Jesus uns über den Menschen zu sagen hat. Er hat eine Botschaft über Gott, aber hat er auch eine Botschaft über die Menschen? Jesus hat eine solche Botschaft. Er hat uns das Geheimnis des Menschen geoffenbart. Was der Mensch ist, lässt sich in einer letztgültigen Weise nur sagen, wenn man bedenkt, was er vor Gott ist. Gott ist der Schöpfer; er hat den Menschen geschaffen. Seine Herkunft von Gott bestimmt auch die Gegenwart vor Gott. Sie erweist das Dasein des Menschen als ein von Gott kommendes und hiervon zutiefst durchformtes Dasein. Was der Mensch ist, sagt die Offenbarung, indem sie erzählt, wie Gott den Menschen geschaffen und was er mit ihm gewirkt hat. Man könnte die christliche Lehre vom Menschen in fünf Sätzen zusammenfassen:

1.      Der Mensch ist ein Geschöpf.

2.      Der Mensch ist eine Person.

3.      Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen.

4.      Der Mensch ist ein religiös-sittliches Wesen.

5.      Der Mensch ist ein Wesen mit übernatürlicher Partnerschaft in absoluter Nähe zu Gott.

Im Psalm 8 fragt der Beter Gott: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Und er gibt sich die Antwort: „Du hast ihn nur wenig unter die Engel gestellt, mit Glanz und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ Das alles wusste Jesus. Er hat es in der Bibel des Alten Testamentes gelesen. Er traf nun in seinem verborgenen und in seinem öffentlichen Leben mit Menschen zusammen. Wie hat er sich zu ihnen gestellt? Jesus hat die Menschen nicht idealisiert oder romantisch verklärt, er hat sie gesehen, wie sie sind. Er wusste also um die Gefährdung, um die Versuchlichkeit, um die Verschlossenheit gegenüber Gott, die den Menschen anhaftet. „Das ist das Gericht“, sagt er bei Johannes, „dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht, denn ihre Werke waren böse.“ Jesus erlebte an seinen Jüngern, wie langsam und schwerfällig sie waren im Begreifen seiner Sendung. Als er sein bevorstehendes Leiden ankündigte, da wollte ihm Petrus das ausreden: „Das sei ferne von dir“, sagt er zu Jesus, „das darf dir nicht widerfahren.“ Da antwortete ihm Jesus: „Weg von mir, Satan!“ Sein erster Jünger wird als Satan bezeichnet: „Weg von mir Satan; ein Ärgernis bist du mir, du denkst, was die Menschen denken und nicht, was Gott denkt.“ Jesus kannte die Wankelmütigkeit, die Unzuverlässigkeit der Menschen; er hat seine Erfahrungen gemacht. Der Evangelist Johannes schreibt: „Beim Osterfest in Jerusalem glaubten viele an seinen Namen, weil sie die Wunder sahen, die er wirkte. Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, weil er alle kannte und nicht nötig hatte, dass ihm jemand Zeugnis über einen Menschen gebe, denn er wusste selbst, was im Menschen ist.“ Jesus kannte auch die Unehrlichkeit der Menschen. Nach einer Rede, die er gehalten hatte, verhöhnten ihn die Pharisäer. Da sagte er zu ihnen: „Ihr seid die Leute, die sich vor den Menschen als Gerechte ausgeben. Gott aber kennt eure Herzen. Denn was bei den Menschen als erhaben gilt, das ist vor Gott ein Greuel.“ Jesus kannte auch die Feigheit der Menschen. Es haben viele von den Ratsherren in Jerusalem an Jesus geglaubt, nur bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge gestoßen zu werden, denn sie schätzten die Ehre bei den Menschen höher als die Ehre bei Gott. Der Herr war auch voll Schmerz über das ihm begegnende Verhalten der Menschen und noch mehr über die Bestrafung, die er voraussah. Er hat das „Wehe!“ über die Menschen gerufen. „Wehe euch Reichen, denn ihr habt euren Trost schon empfangen! Wehe euch, dir ihr jetzt satt seid, ihr werdet hungern! Wehe euch, die ihr jetzt lachet, denn ihr werdet weinen! Wehe, wenn euch die Menschen loben, eure Väter haben es mit den falschen Propheten genauso gemacht!“ Jesus klagt über die Menschen, die anderen Anstoß zur Sünde geben: „Wehe der Welt der Ärgernisse wegen. Es müssen zwar Ärgernisse kommen, aber wehe dem Menschen, durch den sie kommen!“ Vor allem natürlich das ungeheuerliche Ärgernis seines Verrates. „Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht, aber wehe dem Menschen, durch den er verraten wird, es wäre besser, er wäre nicht geboren.“ Trotz der vielen enttäuschenden Erfahrungen mit den Menschen ist Jesus am Menschen, an seiner Herkunft, seiner Würde und seinem Ziel nicht irre geworden. Er weiß um die ursprüngliche Gottebenbildlichkeit des Menschen. Er hat im 1. Buch der Heiligen Schrift gelesen: Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis. Seitdem haftet dem Menschen untilgbar die Gottebenbildlichkeit an. Sie gibt ihm Würde und Unverletzlichkeit, denn sie umkleidet ihn mit der Hoheit Gottes; sie erhebt ihn über die ganze Schöpfung. Der Mensch ist tatsächlich wegen seiner Gottebenbildlichkeit die Erscheinung Gottes in der Welt. Da mögen ihm die Tiere an Kraft und an Schnelligkeit überlegen sein, die Gestirne mögen überlegen sein an Zahl und Größe, der Mensch steht durch seine ihm allein zukommende Auszeichnung, Gottes Erscheinung in der Welt zu sein, über allem. Wer also den Menschen ansieht und nicht blind ist, der sieht mehr als den Menschen. Er sieht, wenn er ein Sehender ist, im Menschen Gott, die Wirklichkeit Gottes, freilich im Spiegelbild, nicht in Wirklichkeit. Die Hauptfolge der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist, dass er von Gott angesprochen werden kann, dass er Gott hören kann und dass er auf Gottes Anruf antworten kann. Die wesentliche Eigenschaft des Menschen, die ihn von allen Geschöpfen der sichtbaren Welt unterscheidet, ist seine Fähigkeit, mit Gott zu reden; kein Tier kann es. Die Gottebenbildlichkeit ist unverlierbar. Sie leuchtet noch aus dem entstelltesten, in Sünde verkommenen menschlichen Antlitz. Sie leuchtet noch aus der verkümmertsten menschlichen Gestalt heraus. Selbst auf dem Verdammten in der Hölle liegt trotz seiner Zerrissenheit und seiner unaufhebbaren Unfertigkeit noch ein Glanz der göttlichen Ebenbildlichkeit. Das steigert seine Qual, weil er ihm ständig vorhält, was er sein sollte und sein könnte und was er im Widerspruch dazu tatsächlich ist. Christus brachte die Botschaft vom einzigartigen Wert der Menschenseele; er brachte die Botschaft von ihrer Berufung für das Himmelreich; er brachte die Botschaft von ihrer Gotteskindschaft. Seine weitere Botschaft, dass gerade die Armen, die Verfolgten, die Trauernden, die Bettler auf der Straße zum Hochzeitsmahl geholt werden, und nicht zuletzt das Wunder seiner gottmenschlichen Hingabe für all diese Menschen stellen den eigentlichen Wert des Menschen heraus.

Jesus hat den Einzelmenschen und seine unsterbliche Seele als das Ziel aller göttlichen Heilsveranstaltungen von den Propheten an bis zu seiner eigenen Verkündigung vorgestellt. Darum gibt es schlechterdings nichts auf Erden, was wertvoller wäre als die Menschenseele. „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele?“ Indem Jesus diesen Wert der Menschenseele in ihrer ewigen Berufung verankert, im göttlichen Heilswillen, und indem er, der Gottessohn, für diese Menschenseele in den Tod geht, verewigt er gleichsam ihren Wert. So hoch steht Gott der Mensch, dass der Sohn Gottes selbst sein menschliches Leben für ihn verströmt. Mit der Lehre vom unvergleichlichen Wert der Menschenseele war schon die Lösung auch der anderen Frage gegeben: Was ist der Mensch für den Menschen? Was sind wir Menschen füreinander? Auch in dieser Hinsicht war Jesus ohne Illusionen. Einmal sagte er den Menschen: „Wenn ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, um wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten“ – wenn ihr, die ihr böse seid. Als er seine Jünger aussandte, zu predigen, sprach er zu ihnen: „Ich sende euch aus wie Schafe mitten unter Wölfe.“ Ein Schaf unter Wölfen ist verloren, denn der Wolf ist ein grausames Tier, ein Räuber. Jesus rechnete damit, dass die Jünger mit ihrer Botschaft abgewiesen würden: „Wenn man euch nicht aufnimmt in einer Stadt und eure Worte nicht hört, geht hinaus aus dem Haus und aus der Stadt, schüttelt auch noch den Staub von den Füßen. Aber Sodoma und Gomorrha wird es erträglicher ergehen an jenem Tage als dieser Stadt.“ Vor dem geistigen Auge Jesu ziehen die Karawanen der Verfolger seiner Jünger vorüber. „Nehmt euch in acht vor den Menschen“, sagt er, „denn sie werden euch den Gerichten ausliefern und euch in den Synagogen auspeitschen.“ Er weiß um den Zwiespalt in den Familien: „Es wird der Bruder den Bruder in den Tod liefern und der Vater das Kind. Und Kinder werden sich auflehnen gegen die Eltern und sie in den Tod bringen. Die Feinde des Menschen werden seine eigenen Hausgenossen sein.“ Der Herr wusste, was Menschen einander antun können. Und obwohl er dies alles vorausschaute oder besser weil er es vorausschaute, gibt er das Gebot der Liebe: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet.“ Und noch in seiner Abschiedsrede, bevor er selbst in den Tod ging, schärft er dieses Gebot ein: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebet.“ Diese Liebe kennt kein Maß oder besser nur ein Maß, nämlich: „wie ich euch geliebt habe“. Und wie hat er uns geliebt? Er hat uns geliebt bis in den Tod, ja, bis in den Tod am Kreuz. Wenn jeder Mensch einen Ewigkeitswert darstellt, der schlechthin unersetzlich ist, so ist die Nächstenliebe, die allgemeine Menschenliebe eine unweigerliche Folgerung. In seinem weltüberlegenen Wert ist ein Mensch dem anderen gleich. Das hat man ja dem Christentum immer vorgeworfen, dass es die Gleichheit der Menschen verkündet hat. Ja, das hat das Christentum verkündet. Wir sind uns alle Nächste. Wir sind alle Brüder und Schwestern, Kinder desselben Vaters, Jünger desselben Heilands, Tischgenossen Gottes. Die Botschaft Jesu hat mit dem Wort von der allgemeinen Menschenliebe ernst gemacht. Sie ist etwas Großzügiges: „Wenn dich einer bittet, eine Meile mit ihm zu gehen, so gehe zwei mit.“ Sie ist etwas Selbstloses: „Wenn ihr nur eure Brüder grüßt, das tun auch die Heiden.“ Sie ist etwas Aktives: „Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun.“ Diese tätige Menschenliebe hat Jesus im Religiösen verankert. Auch im Alten Testament steht das Wort „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, aber es war eben nur eines von 613 Geboten. Jesus hat es als das Hauptgebot herausgestellt, und er hat es mit dem Gebot der Gottesliebe zur Einheit verbunden; Gottes- und Nächstenliebe sind untrennbar. „Das andere Gebot ist diesem gleich: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst.“ Menschenliebe ist also angewandte Gottesliebe. Man kann Gott nicht im Ernst lieben, wenn man nicht sein Kind und Ebenbild, den Menschen, liebt. Man kann Gott nicht dadurch lieben, dass man die Pflichten gegen den Nächsten verletzt. Der Sabbat steht hoch, aber der Dienst der Liebe steht über dem Sabbat. Das Opfer ist gut, aber bevor man es darbringt, muss man sich mit dem Nächsten versöhnen. „Versöhne dich zuvor mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe!“ Die Gaben an die Priester sind berechtigt, aber die Versorgung der Eltern ist wichtiger. Im Menschen wird Gott geliebt. Die Menschenliebe ist eine religiöse Tat, ist ein Jesusdienst. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Religion und Sittlichkeit, Gottes- und Nächstenliebe sind bei Christus zu einer Einheit verbunden, sie sind nur verschiedene Weisen ein und derselben Liebe. Und diese Liebe hat keine Grenzen an der Familie, am Familienegoismus, sie hat keine Grenzen am Volkstum, an ethnischen Vorurteilen. Jesus selbst ist ja der Zöllner und Sünder Geselle, wie man ihm vorwirft. Er redet gütig zu der Dirne, er weigert sich, die Ehebrecherin zu verdammen. Seine Parabeln vom verlorenen Schaf und vor allem vom verlorenen Sohn zeigen seine Güte gegenüber den sittlich Gefallenen. Es gibt schlechterdings nichts, was uns von den Menschen fernhalten könnte, auch nicht ihre Sünden. Und darum scheut sich Jesus nicht, auch das Höchste zu fordern, was in den Beziehungen zu den Mitmenschen gefordert werden kann, nämlich: „Liebet eure Feinde. Tuet Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen. Dann seid ihr Kinder eures Vaters im Himmel, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, der Regen fallen lässt über Gerechte und Ungerechte.“ Hier tritt das Übermenschliche, jawohl, das Heroische der christlichen Nächstenliebe unverhüllt zu Tage. Er selbst weiß, wie schwer dieses Gebot zu erfüllen ist, und deswegen hat er es nicht nur vorgesagt, sondern vorgelebt. „Vater, verzeih’ ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Indem Christus sein Leben, sein Blut für die Vielen geopfert hat, ist er der Meister der dienenden Liebe geworden. Meine lieben Freunde, es ist ein Glück der Christusreligion, dieser einzigartigen Religion, hoher, ja, heroischer Sittlichkeit angehören zu dürfen. Welche Verantwortung haben wir, ihren Anforderungen nachzukommen! Welche Aufgabe ist es, dem Stifter dieser Religion nachzufolgen! Aber fassen wir Mut: Christus ist vorangegangen, schließen wir uns ihm an. Strohfeuer der Nächstenliebe brennen auf allen Herden, aber die ewige Lampe der Liebestätigkeit, sie brennt nur im Heiligtum des Glaubens.

Amen.

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