Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
20. Dezember 2015

Das dreifache Gericht

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In den eben gelesenen Worten des Apostels aus dem 1. Korintherbrief ist von einem dreifachen Gericht die Rede: vom Gericht der Menschen, vom eigenen Gericht und vom Gerichte Gottes. Das Urteil der Menschen: „Mir liegt wenig daran“, sagt der Apostel, „dass ich von euch gerichtet werde.“ Die Menschen urteilen gern, häufig, scharf, oft ungerecht, übereilt, auf ungenügende Anzeichen hin. Paulus sagt, es liegt ihm wenig daran, dass er von den Menschen gerichtet werde, er sagt nicht: Es liegt mir gar nichts daran. Das würde zu seiner eigenen Verkündigung in Widerspruch treten. Er hat nämlich an anderer Stelle an die Gemeinde in Korinth geschrieben: „Wir wollen verhüten, dass uns jemand übel nachredet, denn wir nehmen Bedacht auf das, was recht und billig ist, nicht bloß vor dem Herrn, sondern auch vor den Menschen.“ Das Urteil der Menschen ist ihm also doch nicht gleichgültig und das mit Recht. Es hat seinen Wert, auf das Urteil der Menschen zu achten. Man kann daraus lernen, Nutzen ziehen, denn das Urteil der Menschen kann uns Anlass zur Selbstkritik werden. Wir werden aufgerufen, nachzudenken: Warum sagen die Menschen so über uns, über mich? Wir sollten das Urteil der Menschen nicht unterschätzen. Die anderen denken auch nach und beobachten uns und urteilen über uns. Wenn die Mitmenschen uns beurteilen, dann sollte das Anlass sein, uns zur Ernüchterung zu bringen, zur Überlegung zu zwingen: Was ist denn berechtigt an dem Urteil der Menschen? Wir sollten uns daran gewöhnen, das Urteil der Menschen zu bedenken. Wenn sie uns loben, sollten wir uns fragen, ob wir das Lob verdient haben; wir wissen ja, wie unsere Handlungen zustande kommen. Die Menschen unserer Umgebung sehen nur die Außenseite, wir kennen auch die Innenseite, die Motive, die Absichten, die uns bei unserem Tun leiten. Deswegen werden wir, wenn wir ehrlich sind, das Lob, das uns gespendet wird, auf seine richtige Dimension zurückführen. Mir sagte einmal ein Priester das ernüchternde Wort: „Es wird überall mit Wasser gekocht; man muss nur wissen, wo die Töpfe stehen“, d.h. nur der ganz dumme und der ganz oberflächliche Mensch ist immer zufrieden mit sich selbst und ruht sich auf seinen angeblichen Lorbeeren aus, schreibt sich das Gute, das er wirkt, selber zu und vergisst den Anteil der anderen. Wenn die Menschen uns tadeln, sollen wir uns fragen, ob wir den Tadel nicht verdient haben. Wir kennen unser eigenes Ungenügen, wir wissen um unsere Unvollkommenheit, wir erleben unser Versagen. Wir müssen uns fragen: Hat der Tadler vielleicht recht? Wenn nicht im Ganzen, so doch teilwiese? Von meinem unvergessenen Bischof Piontek stammt das wunderbare Wort: „Von einem Lob kann man selten etwas lernen, von einem Tadel immer.“ In dem Tadel, der uns trifft, kann ein Korn Berechtigung sein; er sollte uns Anlass zur Selbstprüfung werden. Es ist doch so, meine lieben Freunde, wie einmal die kluge Frau Marie von Ebner-Eschenbach geschrieben hat: „Man hat entweder einen zu guten oder einen zu schlechten Ruf. Man hat nie den Ruf, den man verdient.“

Man darf das Urteil der anderen nicht unterschätzen, man darf es aber auch nicht überschätzen. Es darf uns nicht zerbrechen. Man darf sein Befinden nicht vom Urteil der Menschen abhängig machen; unser Wert bestimmt sich nicht nach der Meinung der Mitmenschen. Wie sagt der heilige Pfarrer von Ars: „Man ist das, was man vor Gott ist, nicht mehr und nicht weniger“ – man ist das, was man vor Gott ist, nicht mehr und nicht weniger. Der Verleumder kann uns in schlimmes Gerede bringen, aber ein reines Gewissen kann er uns nicht rauben. Kritik, Geringschätzung, Aburteilung sind schmerzlich, sie treffen unser Selbstwertbewusstsein, sie können unser Selbstvertrauen untergraben. Wenn sich die absprechenden Urteile häufen, wenn sie aus wirklich oder vermeintlich kompetentem Munde kommen, dann kann sich aus dem, was uns da gesagt wird, Beklemmung, Niedergeschlagenheit, Entmutigung ausbreiten. Es kann sich ein Minderwertigkeitsgefühl entwickeln, aufgrund dessen einer meint, ich bin zu nichts nütze, ich tauge zu nichts. Wir hatten in der Oberschule, die ich besucht habe, einen barbarisch harten Direktor. Für ihn waren die meisten „Scheißkerle“, „Scheißkerle“ hat er uns fortwährend an den Kopf geworfen. Aber zu einem, mit dem Namen Scholz, sagte er: „Scholz, dir stiert die Dummheit aus den Augen heraus.“ Wie mag der Junge sich gefühlt haben? Bloßgestellt vor der ganzen Klasse: „Dir stiert die Dummheit aus den Augen heraus.“ Wie muss er sich entmutigt gefühlt haben? Wir dürfen an den Urteilen der Menschen nicht zerbrechen; so weit darf es nicht kommen. Unser Wert hängt nicht vom Urteil der Menschen ab. Es gibt auch keinen wertlosen Menschen. Jeder Mensch, ein jeder Mensch hat von Gott eine Qualität, eine Bedeutung, eine Aufgabe zugewiesen bekommen, und daran muss man sich erinnern, wenn sich die absprechenden Urteile über uns häufen. Wir dürfen sie nicht überschätzen.

Zu dem fremden Urteil kommt das eigene Urteil. Paulus sagt, dass auch sein eigenes Urteil ihm nicht voll gültig und entscheidend ist: „Zwar bin ich mir nichts bewusst, aber deswegen noch nicht gerechtfertigt.“ Wie urteilen wir über uns selbst? Wir tragen das Gewissen in uns. Es ist, wenn es richtig gebildet ist, Gottes Stimme. Es ist ein Wächter über unser Denken, Wollen und Handeln. Das Gewissen wägt ab, was zu tun und was zu unterlassen ist; das ist das vorangehende Gewissen. Das Gewissen urteilt auch über das, was wir gedacht, getan, gewollt haben; das ist das nachfolgende Gewissen. Ich sage noch einmal: Wenn das Gewissen recht gebildet und wachsam ist, haben wir einen gerechten Urteiler über unser Leben in uns. Aber darauf kommt es an: Gewissensbildung ist gefragt. Wie bilden wir unser Gewissen? Wir bilden es durch die sichere Lehre der Kirche; einen anderen Gewissensbilder haben wir nicht, die sichere Lehre der Kirche, nicht die Meinung eines Theologen, auch nicht die verirrte Meinung eines liberalen Bischofs, sondern die Lehre der Kirche. Das ist eben der Unterschied zwischen katholischer Kirche und Protestantismus. Im Protestantismus wie im katholischen Bereich – leider – treten Irrlehrer auf, aber nur im Katholizismus gibt es ein unfehlbares Lehramt, an das wir uns halten können, ja halten müssen, das mit untrüglicher Sicherheit feststellt, was Wahrheit ist. Wir sind freilich auch beim Gewissen nie ganz sicher, dass wir uns nicht selber täuschen. Der Mensch, jeder Mensch neigt dazu, sich selber zu betrügen. „Aber darum“, sagt Paulus, „bin ich noch nicht gerechtfertigt.“ Wir müssen uns bewusst sein, dass wir zur Selbsttäuschung neigen. Ein gewisses Misstrauen gegen uns selbst muss immer in uns sein. Gewissen können verbildet werden. Viele Menschen suchen eine Rechtfertigung für ihr vom Gesetz Gottes abweichendes Verhalten, indem sie sich gängigen Meinungen anschließen. Sie argumentieren, was viele tun oder was alle tun, das kann nicht falsch sein. Nein, diese Ansicht trügt. Die Massen können irren, sind verführbar, suchen den bequemen Weg. Es gibt auch andere Mittel, um sich selbst scheinbare Ruhe zu verschaffen. Man redet sich etwas Beruhigendes ein, um nicht selbst betrübt zu werden. Friedrich Nietzsche hat das wunderbare Wort gesprochen: „,Das hast du getan‘, sagt mein Gedächtnis. ,Das kannst du nicht getan haben‘, sagt mein Stolz. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“ Eigenliebe macht Augen trübe. Das größte aller Übel ist nicht die Sünde, sondern die Selbsttäuschung. Bekehrung kann die Sünde tilgen, aber Selbstverblendung verewigt sie. Die Eigenliebe ist selbstsüchtig, dass sie sich in allem sucht; sie ist sinnreich, dass sie sich in allem findet, und sie ist so tückisch, dass sie sich in allem versteckt. Paulus warnt vor der Selbsttäuschung: „Wer vermeint etwas zu sein, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.“ Er fragt: „Was hast du denn, was du nicht empfangen hast? Hast du es aber empfangen, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ Paulus kannte die Selbsttäuschung und warnte vor ihr. Wir stehen alle auf den Schultern anderer, wir sind abhängig in unserem Tun von der Mitarbeit vieler anderer – und das sollten wir ehrlich zugeben.

Wenn das Gewissen recht gebildet ist, gibt es uns klare Weisung, und dann prüfen wir nach, ob wir seiner Weisung gefolgt sind, ob wir gewissenhaft gehandelt haben. Es war ein Heide, der Heide Seneca, der Lehrer Neros, der das schöne Wort gesprochen hat: „Tagtäglich soll man sein Herz zur Rechenschaftslegung heranziehen“ – tagtäglich soll man sein Herz zur Rechenschaftslegung heranziehen. Und die Kirche leitet uns an, jeden Abend Gewissenserforschung zu halten. „Wenn die Stunde der Ruhe gekommen ist, wenn du dein Lager aufsuchst“, schreibt der heilige Chrysostomus, „ziehe erst das Rechnungsbuch aus deiner Brust, das dir der Schöpfer mitgegeben hat, und lies darin. Das lässt sich auch noch bei gelöschtem Licht, noch in der Dunkelheit tun.“ Ebenso wichtig, aber viel mächtiger als die abendliche Gewissenserforschung ist das Bekenntnis der Sünden im Bußsakrament. Hier klagen wir uns selbst nach sorgfältiger Gewissenserforschung an. Wir bekennen unsere Sünden nach Art und Zahl. Und wenn sich ein Priester einer Sünde schuldig gemacht hat, dann muss er dazu sagen: Ich bin Priester, denn das könnte die Art der Sünde verändern. Er ist eine gottgeweihte Person; seine Sünden wiegen schwerer. Wir bekennen die Sünden vollständig, aufrichtig, reumütig, demütig. Die katholische Beichte, meine lieben Freunde, ist Gewissenspflege im höchsten Sinne des Wortes. Sie ist keine Tyrannei der Gewissen, sie ist die Befreiung der Gewissen von der Tyrannei der Sünde. Vor einiger Zeit besuchte mich eine Dame, der ich als Kind Unterricht im Lateinischen gegeben hatte. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Jetzt kam sie zu mir, um mir ihre Eheschwierigkeiten zu berichten. Um damit fertigzuwerden, sei sie zu einem Psychotherapeuten gegangen, und sie habe erfahren, dass ihr Mann ebenfalls bei einem Psychotherapeuten in Behandlung ist. Ich frage mich: Können die beiden Psychotherapeuten ihnen dauerhaft helfen? Wäre es nicht vielleicht hilfreicher gewesen, wenn sie regelmäßig gebeichtet hätten? Ihre Schuld eingestanden hätten? Sich vor Gott als Sünder erkannt hätten? Hätte nicht die Beichte vielleicht auch das geleistet, was der Psychotherapeut leisten will? Ich bin kein Feind der Psychotherapie; sie kann nützlich, vielleicht manchmal notwendig sein, aber ich warne davor, ihre Möglichkeiten zu überschätzen. Der Psychotherapeut vermag zu beruhigen, aber das Bußsakrament verschafft Ruhe. Der Psychotherapeut versucht, dem Patienten die Schuld auszureden, das Bußsakrament nimmt sie hinweg; das ist der Unterschied. Die Ratschläge und Weisungen des Psychotherapeuten können hilfreich sein, aber gar nicht selten stehen sie im Widerspruch zur Glaubens- und Sittenlehre der Kirche. Wie kann etwas hilfreich sein, meine lieben Freunde, was gegen den Willen Gottes steht?

Das Urteil der Menschen, unser eigenes Urteil wird gekrönt vom Urteil Gottes. Das Urteil der Menschen und das eigene Urteil finden ihre Berichtigung im Urteil Gottes. „Der mich richtet, ist der Herr“, schreibt Paulus in der heutigen Epistel. Hier liegt die letzte Entscheidung. Gott wird das Verborgene aufhellen, zuerst im persönlichen Gericht nach unserem Tode. Es ist den Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber folgt das Gericht. Ein jeder von uns wird Gott Rechenschaft über sich ablegen. Eine göttliche Kraft wird bewirken, dass einem jeden seine Werke, gute und böse, blitzartig, mit wunderbarer Schnelligkeit vor das Gedächtnis treten. Nicht der geringste Gedanke, nicht das leiseste Wort wird bei diesem Gericht unberücksichtigt bleiben. Denn das Gericht Gottes ergeht in Gerechtigkeit. Er teilt jedem zu, was er verdient. Hier werden alle falschen Urteile der Menschen und auch die falschen Urteile in der eigenen Brust korrigiert. Im persönlichen Gericht siegt die Wahrheit. Aber das ist nicht alles. Eines steht noch aus: das Weltgericht am Ende der Zeiten. „Er wird kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Der Menschensohn wird erscheinen, und dann wird jedem Anerkennung werden von seinem Gott, vorausgesetzt, dass er sie verdient hat. Den Einwohnern von Athen, den alten Heiden, kündigte Paulus an: „Gott hat einen Tag festgesetzt, an dem er die Welt nach Gerechtigkeit richten wird durch einen Mann, den er bestellt hat und bei allen beglaubigt hat, indem er ihn von den Toten auferweckte.“ Wir kennen diesen Mann: Es ist Jesus von Nazareth. Im Angesichte aller Menschen werden alle Generationen, alle Institutionen, jeder einzelne öffentlich und unverhüllt in ihrem Wert oder Unwert dargestellt werden. Dieser Entscheid wird in einem allgemeinen Gerichte gefällt und ist für alle leicht erkennbar. Unser ganzes Leben wird vor der ganzen Menschheit enthüllt. „Da senken sich die stolzen Blicke der Menschen, da wird der Hochmut der Männer gebeugt“, schreibt der Evangelist unter den Propheten, Isaias. Meine lieben Freunde, wir befinden uns in der Vorbereitung auf das Fest der Geburt unseres Herrn und Heilandes. Es soll ein Fest der Freude und des Friedens sein. Aber wie kann man Freude in sich empfinden, wenn nicht der Frieden mit Gott im Herzen ist? Wie soll ein friedloser Mensch, ein vor Gott friedloser Mensch Freude empfinden? Und deswegen muss man Friede machen mit Gott, Friede machen durch Reue, Bekenntnis, Beichte, Lossprechung. Das ist die wichtigste Vorbereitung auf das Weihnachtsfest. Es gibt keine würdigere und bessere Vorbereitung als diese: eine demütige, reuevolle Weihnachtsbeichte. Sie bereitet dem Christkind eine Krippe in unserem Herzen, sie macht uns wieder zu Kindern Gottes. Dann wird es in uns Weihnacht, dann können wir wirklich singen: Christ, der Retter ist da!

Amen.

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