19. Juli 2015
Das Recht Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Familie ist die Urgemeinschaft und das Urbild jeder Gemeinschaft auf Erden, denn sie ist schon von Natur aus auf das Schenken und Empfangen angelegt. Ein Strom des Lebens fließt von den Eltern zu den Kindern und von den Kindern zurück zu den Eltern. Aber wo dieses naturhafte Schenken und Empfangen aufhört, da tritt ebenso naturhaft der Kampf an seine Stelle. Wo die Menschen einander nichts mehr zu schenken haben, da stehen sie einander im Wege, da sind sie Konkurrenten. Was musste erst werden, als die Menschen aufeinander losgingen. Einer der ersten Menschen hat seinen Bruder auf einsamem Felde erschlagen. Die Menschen stehen einander tatsächlich oft genug im Wege, sie sind Rivalen in ihrem Lebenswillen, in ihrer Lebensart, in ihrem Lebensgenuss, in ihren Lebensgütern. In der Tierwelt wird dieser Kampf unerbittlich ausgetragen. Soeben geht die Meldung durch die Presse: Die australische Regierung will Tausende, nein, Millionen von den dreißig Millionen wilden Katzen in Australien töten. Denn diese wilden Katzen zerstören das natürliche Gleichgewicht unter den Tieren. Sie haben schon 27 Säugetierarten ausgerottet, und weitere stehen in Gefahr. So ist es im Tierreich. Unter den Menschen soll es nicht so sein, denn der Mensch ist unendlich mehr als das stärkste und prachtvollste Tier. Die Spannung, die zwischen den Menschen besteht und die man nicht auflösen kann, diese Spannung soll mit geistigen Mitteln ausgetragen werden. Die Gemeinschaft, zu der der Mensch berufen ist, soll den brutalen Kampf ums Dasein, ums Brot, ums Geld, um die Macht ausschalten, unterbinden und überwinden. Und deswegen steht am Wege des Menschen, am Wege der Gemeinschaft eine Tafel, und auf dieser Tafel steht geschrieben: Du sollst nicht töten! Dieses Gebot ist kurz und knapp, aber unabsehbar in seinen Auswirkungen. Es bedeutet nämlich, dass an die Stelle der Gewalt das Recht treten soll, an die Stelle des Kampfes mit Zähnen und Krallen der Ausgleich und das Gleichgewicht des Rechtslebens. Der Weg der Menschen soll von der physischen Gewalt zu dem geistigen Werkzeug des Rechtes führen. Es soll ein Weg von der Tierähnlichkeit zur Gottähnlichkeit sein, denn Gott selbst hat die erste und fundamentalste Schranke des Rechtes aufgerichtet und damit das Rechtsleben zu einer grundsätzlichen, göttlichen und gottgewollten Einrichtung gemacht. Du sollst nicht töten! In diesem Gesetz ist das Menschenleben zu etwas Unverletzlichem und Heiligem erklärt worden. Gott hat das Leben, das er ja gegeben hat, sich selbst als sein eigenes göttliches Recht vorbehalten. Es darf nur von Gott und nach göttlichem Willen darüber verfügt werden. Kein Mensch darf aus persönlicher Willkür, aus Leidenschaft, aus Laune, aus Eigennutz dieses Recht antasten, weder an sich noch an anderen, und wäre es auch das gebrechlichste, nutzloseste, ärmlichste Leben, und wäre es auch das Leben eines Menschleins im Leibe der Mutter. Gott hat eine zwar unsichtbare, aber sehr wirkliche Mauer um jedes Leben gebaut, eine tatsächliche Beschirmung, mit der er sich vor jedes Menschenleben stellt. Wer ein Menschenleben angreift, der greift Gott selbst an, der schiebt Gott beiseite, der stößt eine göttliche Ordnung und eine göttliche Wirklichkeit um. Wer ein Menschenleben freventlich angreift oder einreißt, der zerstört mehr als ein armes, einzelnes Lebens, der reißt eine Gottesordnung nieder, eine Wirklichkeit, die Gott aufgebaut hat, der schlägt eine Wunde, die bis hinauf zu Gott blutet. Nicht dass dieses einzelne Menschenleben verschwindet ist das Schreckliche, sondern dass ein Unrecht geschieht, dass Gott selbst, der Inbegriff und der Hort alles Daseins, angegriffen wird. Das Recht, das Gott um den Menschen legt, ist nicht bloß das Recht auf das bloße Dasein, es schließt alles ein, was zur Erhaltung, zur Entfaltung und zur Zielsetzung des Menschenlebens notwendig ist. Also auch die Ausbildung des Menschen, seine Tätigkeit, sein geistiges Dasein, sein Wirken wird durch dieses Gebot umhegt von unsichtbaren, aber unendlich starken Gittern, die wir gelten lassen und anerkennen müssen.
Mit dem Recht ist hier das göttliche, das gottgegebene Recht an erster Stelle gemeint. Das menschliche Recht nur insoweit, als es Ausdruck des göttlichen Rechtes ist, als es seiner Ausführung dient, ihm jedenfalls nicht widerspricht. Das göttliche Recht ist entweder das Naturrecht, das sittliche Naturgesetz, oder das positive Offenbarungsrecht. Von diesem Recht sagt Friedrich Schiller: „Gott ist überall, wo man das Recht verwaltet.“ Deswegen müssen wir an erster Stelle an das Recht glauben, an die Berechtigung, an die Notwendigkeit, an die Heiligkeit des Rechtes glauben. Recht muss Recht bleiben. An das Recht glauben muss der Einzelne, muss die Gesellschaft, muss der Staat. Das Recht ist ja an sich machtlos; von Natur herrscht die Gewalt, aber die Gewalt muss nun zum Recht hinübergehen, muss das Recht sich aneignen, sodass mittels der Gewalt das Recht herrsche. Das ist das Problem der Staatskunst. An das Recht glauben heißt: das Unrecht über alles verabscheuen. Darum hat Gott in unseren Herzen einen Instinkt, ein unausrottbares Gefühl eingesenkt, nämlich das Gefühl für das Rechte, für die Gerechtigkeit und ebenso einen naturhaften Drang, einen naturhaften Abscheu vor dem Unrecht. Unter den geistigen Instinkten ist dies der stärkste, gerade im gesunden Menschen, und darum auch im Kinde. Meine lieben Freunde, wer ein Kind am tiefsten beleidigen will, wer ein Kind sich hoffnungslos entfremden will, der braucht ihm nur Unrecht zu tun; dass verwindet ein Kind nie.
Der Sinn für Gerechtigkeit war auch in unserem Volke in jenen verhängnisvollen zwölf Jahren des 20. Jahrhunderts. Ich habe diese Zeit erlebt und mich immer gegen den Vorwurf gewehrt, das Volk habe alles widerspruchslos und teilnahmslos hingenommen. Das ist nicht der Fall. Der bayerische Jurist Löw hat in mehreren Büchern den unwiderleglichen Nachweis geliefert, dass die Mehrheit des deutschen Volkes das Unrecht, das vor seinen Augen geschah, nicht gebilligt hat. Als im November 1938 jüdische Gotteshäuser brannten, da haben die allermeisten Menschen Scham und Widerwillen empfunden. Sie ahnten: Ein Regime, das so mit den heiligen Stätten einer Minderheit umgeht, das kann keinen guten Ausgang nehmen. Es mochte den Deutschen der damaligen Zeit in den Sinn kommen, was der Philosoph Euripides einmal ausgesprochen hat: „Noch nie war einer glücklich, welcher Unrecht tat. Das Heil der Hoffnung bleibt den Gerechten nur.“ Noch nie war einer glücklich, der Unrecht tat. Das Heil der Hoffnung bleibt den Gerechten nur. An das Recht glauben, heißt ferner, nicht an die Gewalt glauben, sondern an den Geist, nicht an die Kraft der Muskeln, sondern an die Ordnung der Vernunft, nicht an die Brutalität der Kanonen, sondern an die Feinheit und Größe des Gedankens und des Ideals. Was die menschliche Gesellschaft menschenwürdig macht, das ist nicht die brutale Stärke, sondern die geistige Weisung. Wenn sie gedeihen und blühen soll, dann müssen ihre Glieder sich um die Erhaltung und Durchsetzung des Rechts bemühen. An das Recht glauben heißt auch, dass wir nicht die Gewalt für schöpferisch halten, für lebendigmachend, für lebensfördernd, für menschenwürdig. Niemals kann die Gewaltanwendung an sich eine Sache wirklich voranbringen, wenn sie nicht im Bunde mit dem Recht ist. Hilfreich kann Gewalt nur sein, wenn sie im Einklang mit Gottes Recht ausgeübt wird. Gewalt ohne Recht kann zerstören, aufbauen kann sie nicht. An das Recht glauben heißt auch: an den Sieg des Rechtes glauben. Gewiss wird das Recht in unserer Welt der Mechanik, des Stoffes sich nicht immer durchsetzen. Auch der Geist, auch das Genie, auch die Heiligkeit setzen sich gegen physische Gewalt nicht immer durch. Auch die größten Seelen unterliegen oft gegen die Gemeinheit im Bereich des äußeren Lebens. Aber, meine lieben Freunde, das ist kein wirkliches Unterliegen. Der Martyrer, der für den Geist, für die Idee, für den Glauben sein Leben lässt unter den Zähnen von Tigern oder unter den Händen von Menschen, dieser Martyrer ist kein Besiegter; er ist ein Sieger. Der Mensch, der unter den Schlägen des übermächtigen Unrechts zusammenbricht, ist und bleibt der Überlegene, nicht in der Einbildung, sondern in der Welt Gottes, in der Wirklichkeit, in der Gott lebt. Und deswegen betet die Kirche auch an den Festen der Martyrer: „Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand. Der Bösen Folterwerkzeug kann sie nicht erreichen. Sterbende waren sie in den Augen der Toren; sie aber weilen im Frieden.“ Der zwölfjährigen Maria Goretti versetzte der Unhold, dem sie sich verweigert hatte, 15 Messerstiche. Bevor sie starb, bevor sie ihre Seele dem Schöpfer zurückgab, verzieh sie, deutlich und vernehmbar, ihrem Mörder. Deswegen feiern wir die ungerecht Getöteten, schauen zu ihnen auf, rufen sie an und streben nach ihrer Nachfolge.
An den Sieg des Rechts glauben heißt auch: nichts vom Unrecht erwarten, auch wenn es alle Gewalt und Übermacht besitzt: „Unrecht Gut gedeihet nicht“, sagt das Volkssprichwort. Hitler betrieb innere und äußere Politik mit Brutalität und Unmenschlichkeit, mit Lüge und Täuschung; es schien ihm alles zu gelingen. Einige Jahre eilte er von Sieg zu Sieg, Überfälle und Unterdrückung prägten seinen Weg. Nach der raschen Niederwerfung Polens wurden viele Bewohner deportiert, enteignet, drangsaliert, ein Teil der Intelligenz: Professoren, Priester, Ärzte wurden getötet. Der deutsche Admiral Canaris beobachtete diese Schrecken mit eigenen Augen. Und er hat damals das unvergessliche Wort gesprochen: „Ein Krieg, der mit Hintansetzung jeglicher Ethik geführt wird, kann niemals gewonnen werden. Es gibt auch eine göttliche Gerechtigkeit auf Erden.“ In der äußeren Welt, in der Sinnenwelt, draußen also am Rande der Welt, da gedeiht das Unrecht freilich oft allzu gut. Aber drinnen, im Herzen allen Seins, da wo die Entscheidungen fallen, da wo Gott lebt, dort ist das Unrecht ein ewiger Verlust, ein Ruin. Und darum ist es töricht und Zeichen eines kleinen und kurzsichtigen Geistes, den Boden des Rechtes irgendwie, auch nur um Haaresbreite, zu verlassen. Christus, der Herr, gebot uns, so unbedingt an den Bestand und den Sieg des Rechtes zu glauben, dass wir lieber Unrecht leiden als Unrecht tun sollen. Lieber sollen wir auch noch die linke Wange dem Schläger hinreichen, als selber zu ungerechten Schlägen ausholen. Lieber sollen wir auch noch den Mantel preisgeben, als das Kleid um den Preis einer ungerechten Tat zurückholen. Diese Sätze der Bergpredigt sind nicht bloß ein Rat für Heilige, sondern ein Urgebot der Menschlichkeit überhaupt. Das Recht, das göttlich gesetzte, unsichtbare und doch ewigkeitsbeständige Recht ist das einzige Fundament, das einzige unentbehrliche Fundament menschlichen Zusammenseins, menschlichen Fortschritts, aller menschlichen Kultur und alles Gottsuchens. Und deswegen sagt Christus: „Wer auf diesem Fundament sein Haus baut, der hat es auf Felsen gebaut und nicht auf Sand. Die Stürme brausen, die Wasser tosen, aber das Haus stürzt nicht ein, denn es ist auf Fels gebaut.“
Amen.